An der blauen Adria - Zara (Dalmatien), Ende August

In jeder Sprache gibt es Eigenschaftswörter, die sich wie die Kletten an das zugehörige Hauptwort hängen und in dieser Form sich forterben von Geschlecht zu Geschlecht wie eine ewige Krankheit. So z. B. dieses »blau« und »Adria«. »Die blaue Adria!« Wie könnte es auch anders sein? Hundertmal haben wir es so gehört und hundertmal gelesen in den Reiseberichten.

Jedoch. – In allen seinen wechselnden Farben ist das Meer nur ein Abbild des Himmels. Ist dieser blau, so wird auch das Meer in schöner Bläue erstrahlen, ist er grau und voll finsterer Wolken, so wird seine finstere Miene sich auch auf dem Wasser widerspiegeln; in der Adria nicht anders wie in anderen Meeren.


So war es auch diesmal wieder beim Abschied von Triest eine graue Adria unter grauen Wolken. Gewitter grollten über dem Meere, aus den rauhen Karstbergen kam die Bora herausgepfiffen und peitschte die weißen Wellenköpfe über der tintenschwarz schimmernden See. Der einzige, der einige Rührung über unsern Abschied zeigte, war der Himmel, aber der tat es um so gründlicher. Es rauschte in der Luft, und die Regentropfen prasselten hart wie Hagelkörner auf das Verdeck hernieder. Kaum daß man durch den Hexensabbath die Gäste erkennen konnte, die eben in grauen Silhouetten aus dem Dämmerdunkel des hereinbrechenden Tages auftauchten. Da und dort blitzten die Lichter der Morsesignale auf, und auf einmal lagen sie alle da in Reih und Glied, als ob sie eben aus dem Meere gewachsen wären: die grauen Schiffe der englischen Mittelmeerflotte. Eben schickten sie sich an, am Kai zu verholen, wo schon die Gäste ihrer warteten. Denn das ist allemal ein Ereignis, wenn Jack an Land geht. Dann legen sie in den Bars noch einen Extravorrat von Whisky hin, dann putzen sich die Barmamsellen noch einmal so schön, und die saueren Gesichter der verschiedenen Patrone in den Trattorias und Birrerias sind auf einmal eitel Freude und Wohlgefallen in Erwartung der Pfunde, die da über den Schanktisch springen werden.

Schnell, wie er aufgetaucht war, ist der Spuk wieder im Nebel des frühen Tages verschwunden. Eine Weile noch, während wir an der Küste von Istrien entlangfuhren, war alles grau unter einem grauen Himmel. Erst bei dem Herannahen des Hafens von Pola begann das Wetter sich aufzuklären, und die Adria, ihrem Attribut Ehre zu machen. Zwischen zahlreichen kleinen Inseln, die in ihrer nackten, kaum mit einer dünnen Hülle von kümmerlichem Gestrüpp bedeckten Kahlheit nicht eben zu einem Robinson Crusoe-Dasein einladen, gelangt man in den weiten, schönen, landumschlossenen Hafen. Alles ist hier großzügig eingerichtet. Docks und Werften, meilenlange Kais, groß angelegte Arsenale und mächtige Krane, die ihre breiten Arme phantastisch in den Himmel recken. Ringsum auf den Hügeln stehen die Kasernen. Alles ist hier nüchtern, praktisch, auf Krieg und Arbeit eingestellt, ohne auch nur einen Anlauf zu irgendwelchen Verschönerungskünsten.

Mitten in der Stadt erheben sich als weithin sichtbares Wahrzeichen die Überreste eines römischen Amphitheaters, die in dieser so überaus modernen Umgebung besonders unangebracht aussehen. Es ist ein mächtiges, in seinem äußeren Rahmen noch außerordentlich gut erhaltenes Bauwerk, das sich wohl sehen lassen kann neben den anderen in Rom und Verona. Aus welcher Zeit es stammen mag? Zu meiner Schande muß ich heute gestehen, daß ich es nicht weiß und in meiner Eigenschaft als kunstgeschichtlicher Barbar nicht einmal danach zu fragen der Mühe wert gefunden habe, wobei ich es dahingestellt lassen sein will, ob es alsdann die anderen gewußt hätten. Es bedarf nicht des Denkmals aus uralten Zeiten, um dem Besucher gerade an diesem Arte das Gefühl für die Vergänglichkeit der Menschen und Völker zu erwecken. Wenn je eine cittá morta war, so ist es das Pola von heute. Wie mag es hier einstmals lebendig gewesen sein vom Kommen und Gehen der Schiffe, vom Qualmen der Schornsteine, vom lustigen Lärm der Hämmer in den Arsenalen! Es ist vorbei. Das alte Österreich ist tot und mit ihm ist die Seele von Pola verdorrt; eine Schale ohne Kern, ein Wesen ohne Zweck und Ziel, wie einer von den alten, kümmerlich pensionierten k. k. Offizieren, die heute ärmlich und unterernährt und immer noch stolz über den Prater marschieren.

Während ich noch über dieses nachdachte, hatte mich Don Giovanni in ein Gespräch verwickelt. Don Giovanni war eine von den Reisebekanntschaften, wie man sie so schnell und gründlich nur im Süden machen kann am Strande der schönen, blauen Adria. Er war geboren in Spalato, er hatte bei den k. k. Dragonern in Agram gedient, sein Vater war ein Kroate, seine Mutter eine Italienerin aus Ancona, sein Großvater stammte aus Albanien, und seine Großmutter von hinterwärts von Temesoar, aus Bosnien oder Ungarn, irgendwoher. Er selbst hatte sechs Kinder und lebte von einer Pension, die nicht genug zum Leben und keineswegs zu viel zum Sterben war. Alles das hatte er mir verraten auf dem kurzen Weg von Triest bis hierher in einem Deutsch, das mehr malerisch als grammatikalisch, mehr zungenfertig als richtig war, auf das er sich aber offenbar nicht wenig einbildete. Nun lehnte er über die Reeling und schaute trübsinnig hinüber in die grauen Häuserzeilen der toten Stadt.

» Oh, bella, bella Pola! Eine schenne Stadt! War es einmal gewesen, eine serr schenne Stadt! Sollen Sie gewesen sein hier vor zehn Jahren. Überall Arbeit, und jeder hatte die Taschen voll Goldkronen. – So! Fünfzehn Jahre lang hab' ich gearbeitet dort drüben im Torpedoarsenal. Die Vorarbeiter waren dort zumeist Kroaten und Slovenen, die Meister Italiener und Polacken, die Ingenieure Deutsche und die Arbeiter von allen Sorten. – Hat man nicht gefragt: Woher kommst du? Hat man nur gefragt: Was kannst du?

Heute fragen sie anders.

Bist du Italiener? – Bin ich Italiener.

Bist du gutes Italiener? – Bin ich gutes Italiener.

Bist du auch serr gutes Italiener? – Bin ich serr gutes Italiener.

Bravo. Du kannst arbeiten. Aber dann kommen immer noch bessere Italiener von drüben aus dem Königreich. Jeder ist ein kleiner Mussolini, der nach dem rechten schaut, und wenn man alsdann nicht dreimal am Tage die marcia reale und fünfmal die Giovanezza singt, wenn man die Hand nicht vorschriftsmäßig ausstrecken und » aye! aye!« für den Duce rufen kann, wenn das Geld nicht langt für ein schwarzes Hemd und eine schwarze Zipfelmütze, so sitzt man schnell auf der Straße in Pola. Inzwischen montieren sie langsam die Maschinen hier ab und schaffen sie hinüber nach Venedig, den Rest lassen sie verkommen und verrosten, so daß man bald kein ordentliches Schiff mehr hier in der Gegend sehen wird. Dafür können sie dann ihre Esel an den Kais auf die Weide schicken und Heu ernten auf dem Molo von San Carlo.«

Noch eine Weile unterhielt er mich in dieser Weise. Das alte, heute überall gehörte Lied von den besseren Zeiten, da die Taler noch hart und silbern waren und die Tüte Pfeffernüsse fünf Pfennige kostete, während die Reise südwärts ging und die Sonne sich immer tiefer senkte, und das Meer immer dunkelblauer leuchtete unter den düsteren Schatten der sinkenden Nacht. Es war dunkel, als wir in Zara ankamen. In der Geschichte unserer Tage hat die Stadt Zara noch vor kurzem eine bedeutende Rolle gespielt. Ein Apfel der Zwietracht, ein diplomatischer Streitfall, eine mögliche Kriegsursache. Das ist indes schon über ein Jahr her, und die Zeitungsleser sind heuer noch vergeßlicher als zu anderen Zeiten. Wie manche anderen Plätze dieses friedlosen Europa, so war auch Zara einer jener Orte, die einige Jahre herrenlos durch die Geschichte taumelten als nicht unterzubringende Überreste aus dem großen Länderschacher von Versailles. Im Abkommen von London wurde bekanntlich ganz Dalmatien den Italienern zugesprochen. Da sie das nicht bekommen konnten, so wollten sie wenigstens Zara haben. Zara sempre italiana. Das Trinkgeld von London. Eine winzige Enklave mitten im jugoslawischen Gebiet.

Um das unmögliche Gebilde wenigstens etwas lebensfähig zu erhalten, hat man es als Freihafen erklärt. Die Folge davon ist eine wahre Überschwemmung der Stadt mit Tabak, Kaffee und ähnlichem. Jedes dritte Geschäft ist ein Tabakladen, wo man die Waren bekommt zu Preisen, die ein Märchen sind in diesen zoll- und steuerbedrückten Zeiten. Auch sonst ist Zara eine billige Stadt mit zivilen Preisen, die wohltuend wirken für den, der eben erst aus dem großen Nepp von Mailand, Venedig und Abazzia kommt. Wir gehen über den Markt, der förmlich überquillt von Landesprodukten. In langen Reihen sitzen die Weiber hinter ihren Körben. Kroatische Frauen in wunderschönen gestickten Trachten, mit bunten Tüchern auf den langen, glattgescheitelten Frisuren, die eine wahre Erholung sind nach so vielen Pudelhaaren. Die Unterhaltung mit ihnen ist nicht leicht, denn Italienisch verstehen sie nicht, und die es verstehen, die wollen es nicht verstehen. Immerhin: das wenige, was sie zu sagen haben, klingt recht erfreulich: Ein Kilo Trauben, so groß wie jene aus dem gelobten Lande, kostet 1,20 Lire = 20 Pfennige, das Pfund Pfirsiche fünfzehn, das Ei sechs bis acht, der Liter Milch fünfzehn Pfennige, und so geht es weiter.

Glückliches Zara!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Weltwanderers letzte Fahrten und Abenteuer