Land der unendlichen Horizonte - Edmonton, im September

Wenn man von Montreal oder den großen amerikanischen Seen westwärts wandert, so kommt man nach Britisch-Sibirien. Schon bei der Kontrolle der Fahrkarten erhält man einen Vorgeschmack davon, wenn einem der Zugführer ganz unaufgefordert einen grünen Zettel an den Hut steckt, auf dem zweisprachig geschrieben steht: »Verhindert die Waldbrände«. Denn der Wald ist hier Herr, und der Mensch ist sein Sklave. Wild und ursprünglich ist er, unbegreiflich groß, wenn man hindurchfährt. Noch sieht man zunächst da und dort die Spuren menschlicher Kulturarbeit: einen Acker, ein wenig Vieh, eine Erdschmelze, die weiße Rauchwolken in den klaren Himmel schickt. Dann nur noch Wald. Stunden verrinnen. Der Tag vergeht und die Nacht. Ein neuer Tag steigt über die Baumkronen, und noch immer ist es derselbe Wald.

Wer einmal mit dem sibirischen Expreßzug durch die asiatischen Waldwüsten gereist ist, der fühlt sich hier heimatlich berührt. Nur ist der Wald hier tausendmal ärmer. Fast immer ist es verworrenes, zwischen Felsen wucherndes Gestrüpp, aus dem verdorrte und verkohlte Baumstümpfe herausragen. Stellenweise ist der Wald verbrannt, überdeckt mit einem Zuckerguß weißer Asche, die märchenhaft in der Sonne glänzt. Stellenweise liegen Rauchwolken wie dicke Nebel über der Strecke, und wie Geister sieht man im Busch die züngelnden Flammen, angefacht von der Glut dieses heißesten Sommers in der kanadischen Geschichte.


Auch dieses ist ein Land der tausend Seen. Alle Augenblicke kommt man vorbei an stillen Gewässern, in denen sich die Wälder spiegeln und bunte Wildenten ein beschauliches Dasein führen. – Ja, und wenn hier Winnetou plötzlich auftauchte mit einem Federschopf und Tomahawk, oder Lederstrumpf und Old Shatterhand, man würde sich nicht wundern, denn sie paßten ins Milieu. Es ist so recht ein Land, das geeignet ist, einem vorüberfahrenden Grünhorn alles das ins Gedächtnis zu rufen, was es einmal gehört und gelesen hat von solchen Dingen. Es ist ein Land, in dem man einmal auf Abenteuer ausgehen möchte. Wenn man da ein Zelt, ein Gewehr, ein Fischnetz hätte – und es keine Moskitos gäbe! – so wäre das Leben hier ein fortgesetztes Weekend-Picknick.

Landwirtschaftlich ist das Land keinen Schuß Pulver wert. Wie es mit dem Mineralreichtum aussieht, das mögen allein die Prospektoren wissen und noch besser die, die die Prospekte herausgeben, mit denen sie das Publikum dafür an der Börse interessieren. Irgendwo an einem See laden sie die Maschinen ab, die für Goldminen innerhalb des Polarkreises bestimmt sind. Eine aussichtsreiche Sache, wie man sagte, aber vorerst ist es im wesentlichen noch Reklame und Prospekt, und das beste Gold wird immer noch zuerst in Wallstreet gemacht. –

Bei dunkler Nacht fuhren wir in den Bahnhof von Winnipeg ein. Was ist dieser Name für die meisten? Ein abstrakter Begriff, eine große Nummer auf dem Kurszettel der Produktenbörse, wie etwa Para oder Santos oder Havanna und Galveston. Eine Marke von verschiedenen Qualitäten, ein Ding zum Spekulieren, zum Schnellreichwerden, bestenfalls eine geschäftige, überamerikanische Stadt, in der sie das Wort » Business« besonders groß schreiben. Wenn man aber aus der Welt der Hochhäuser von Manhattan kommt, so wirkt diese Stadt wie ein Luftkurort mit ihren breiten Straßen, durch die der Präriewind geht, mit ihrer weit auseinandergegangenen Behäbigkeit und dem breitspurigen Luxus ihrer öffentlichen und privaten Geschäftsgebäude, der verwirrend wirkt für unsere an so etwas nicht mehr gewöhnten europäischen Augen. Wie arm sind wir geworden und wie weit bleiben wir täglich zurück im Rennen in unserem ausgeplünderten Europa! –

Westwärts von Winnipeg fängt die berühmte rollende Prärie an, mit ihren Provinzen, die so wunderbar exotisch klingende Namen wie Manitoba und Saskatchewan tragen. Schnell, unbegreiflich schnell fliegt hier die Zeit. Vor einem Menschenalter war, zum mindesten in den nördlichen Teilen, noch alles im wesentlichen Busch und Prärie und Büffel und Trapper. Heute ist hier der Weizen König, wie im Osten der Wald. Wiederum fährt man durch das endlose Land mit einer Geschwindigkeit von fünfzig Kilometer in der Stunde. Tage und Nächte. Und immer das gleiche Bild von gelben Feldern, auf denen die Garben fertig für die Dreschmaschine stehen. Da und dort steht noch die Frucht, über deren gelbe Ähren es wie Silber huscht, wenn der Wind darüber hinweht. Darüber die Sonne, der Präriehimmel, klar wie Kristall. Es ist ganz so, wie es auf den schönen Reklamebildern der Schiffahrtslinien steht.

Ab und zu hält der Zug an einer Station, einem Dorf, einer »Stadt«, wie man das mit viel Kühnheit hier zu nennen beliebt: so ein Ding, das man auf gut deutsch mit dem Ehrentitel »Kaff« zu belegen pflegt, eine Gasse so breit, daß sie einem Platzschwindel verursacht, Telegraphenstangen, die hoch wie die Galgen über die niedrigen Häuser ragen. Ein Hotel, ein Beauty Parlor, ein Kino, eine Garage, noch eine Garage, viele Autos von vorsintflutlicher Beschaffenheit und mitten auf der Straße die Langeweile, die gähnend ihr Maul aufreißt. Das ist die » Business section«, in der sich die Jagd nach dem Dollar abspielt. Seitab führen die Straßen zu anderen Hütten, vor denen die Autos träumen und zuweilen ein verrostetes Grammophon kreischt und die Miß im Schaukelstuhl in den » Society News« der Lokalzeitung blättert – daß Mrs. MacGregor zu Besuch in Sasketon weilt, daß Miß Ivy Jones einen entzückenden Flor von jungen Damen zum Tee geladen hatte, daß Miß Beatrice zu ihrem siebenten Geburtstage von einer surprise party überrascht wurde, die geradezu lovely war, daß Mister Harald Cohen eine Bridgepartie gegeben und Miß Daisy sich eine bedauernswerte Erkältung zugezogen hat ...

So ist das Landleben in Moose Hill oder in Wetaskiwin, oder wo sonst der Benzingeruch die Prärieluft vergiftet. So sind die Landstädte. Sie gleichen sich alle wie die Hammel in der Herde. Ich habe nur eine gesehen, die anders war, und die war – eben erst abgebrannt.

Zwischen Dollars, Autos und Lippenstiften spielt sich das Dorfleben in Kanada ab. Aber selbst vom Eisenbahnzug aus kann man sehen, wie in dieses ländlich-schändliche Einerlei zuweilen eine andere Note kommt. Zuweilen sieht man irgendwo eine hohe Kirche mit orthodoxem Zwiebelturm, zuweilen eine andere mit einem spitzen Turm, der ebenso gut in einem deutschen Dorf stehen könnte. Zuweilen sieht man richtige Bauernfrauen mit einem »Getüch« um den Kopf. Zuweilen hört man Schwäbisch schwätzen. Vielleicht sind es Ukrainer, vielleicht Mennoniten, die hier wohnen und von jeher tüchtige Ackerbauer und kluge Geschäftsleute waren. Wo andere verhungerten, fuhren sie immer noch vierspännig über die Steppe. Aber sie sind auch – im Gegensatz zu so vielen anderen Deutschen – Leute, die sich ihre Überzeugung etwas kosten lassen. Ihre Glaubensstärke führte sie von Deutschland nach Rußland und von dort nach Kanada, wo die Regierung dieses vorzügliche Kolonistenmaterial mit Freuden begrüßte. Als Gegengabe forderte der Mennonit freie Erziehung der Kinder nach dem Willen der Eltern, und so gab man ihnen das englische Ehrenwort, daß ihnen diese für alle Zeit gewährt sei; als dann die schlimmste Arbeit geschafft, das Land urbar gemacht war und die Kolonien blühten, kam, wie einst in Rußland, ein Ukas, der das alles über den Haufen warf. Die Ältesten, die erkannten, daß sie hier aus dem Regen in die Traufe geraten sollten, die nicht tatlos mitansehen wollten, wie ihr eigenes Fleisch und Blut ihnen entfremdet werden und untergehen sollte in der grauenhaften Öde kolonialer Kulturlosigkeit, protestierten beim Gouverneur. Der sagte nur: » I'm sorry.«

Da ging Bewegung durch die Kolonien. Ein neuer Aufbruch schien gekommen; eine Umschau nach freien Ländern. Einige tausend wandten sich nach Mexiko, andere nach Paraguay. Die meisten aber werden wohl im Lande bleiben und ihre Enkel – es ist eine schreckliche Perspektive! – ihre Enkel werden auch Gummi kauen und in den » Society News« blättern. –

Die weiten, einst weltverlassenen Prärieländer West-Kanadas haben von jeher eine besondere Anziehungskraft auszuüben vermocht auf religiöse Sektierer; ihr Kommen wurde von der Regierung freudig begrüßt, weil sich damals kein Mensch aus anderen als derartigen Gewissensgründen in jene Wildnis begab. Die wunderlichsten unter diesen waren die sogen. Duchoborzen, die gerade jetzt wieder viel von sich reden machen. Einfache Bauern mit einem schlichten Glauben tolstoischer Prägung, schienen sie der Regierung der Provinz Saskatchewan gerade das richtige Menschenmaterial zu sein, zumal sie harmlos schienen und in ihrem Glauben jeden Umgang mit Waffen feierlichst abgeschworen hatten. So kamen sie aus der Nacht des geknechteten Rußland in die Freiheit des britischen Sibiriens, wo die Regierung auch ihnen wie allen anderen das englische Ehrenwort auf freie Ausübung ihrer Religion und Wahrung ihrer Sitten gab.

Das war vor etwa dreißig Jahren. Seither hat man mit ihnen keine ruhige Stunde mehr erlebt. Harmlose Leute, die sie waren, stellten sie sich doch auch als recht selbstbewußte, eigenwillige Untertanen heraus. Nicht so wie anderwärts die Deutschen wollen sie sich mit der Kulturdüngerrolle zufrieden geben; als man von ihnen verlangte, daß sie nun auch Engländer wurden, daß ihre Kinder auch Kaugummi kauen und die englischen Schulen besuchen sollten, da wiesen sie auf den ausgestellten Freibrief hin und auf das Wort der Bibel: »Eure Rede sei ja, ja, nein, nein.« Man drohte, man kam mit der Polizei, und da stellte sich heraus, daß diese scheinbar so harmlosen, allem Waffenhandwerk abgeschworenen Menschen doch eine Methode des Widerstandes gegen die Staatsgewalt erfunden hatten, die zwar etwas shocking ist, aber nicht ohne Wirkung bleiben mußte, in diesem Lande der respectability. Sobald die Polizei sie anfaßte, warfen Männlein und Weiblein ihre Kleider ab und marschierten, Psalmen singend, splitternackt durch die Straßen der nächsten Stadt. Das wiederholt sich mehrmals im Jahre, und gerade wie ich dieses schreibe, lese ich von hundert Mann, die neuerdings wegen dieses Delikts zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt wurden.

Es ist ein erbitterter Kampf, der nun schon dreißig Jahre dauert und sich dreißig Jahre weiterschleppen wird, es sei denn, daß die Regierung sich bereit finde, das Rezept des Königs Ahasverus anzuwenden:

»Es ist uns einerlei, wenn sie die Psalmen singen,
Solang sie ruhig sind und mir die Steuern bringen.« –

Aber trotz aller menschlichen Unvollkommenheiten ist dieses Land dennoch schön, berauschend schön mit seinen endlosen Horizonten. Britisch-Sibirien, gewiß. Der Auswanderer, der erst einmal hier angelangt ist, sitzt in der Verbannung, im toten Winkel dieser Erde. Wohin er sich wendet, stößt er an verschlossene Türen. Im Süden findet sich auf legalem Wege kein Eingang in das gelobte Land der Vereinigten Staaten, im Norden erstrecken sich die eisigen Regionen des Nordwest-Territoriums, der Osten ist weit weg und zudem getrennt durch ungeheure Wälder.

Aber es ist eine Verbannung, die sich ertragen läßt, ein Sibirien, das seine Sonnenseiten hat. Die Ernte ist schlecht in diesem Jahre, und doch – wenn draußen auf den Feldern die Garben stehen und überall die Dreschmaschinen rumoren – welchem Grünhorn aus Deutschland ginge dabei nicht die Hoffnung auf, daß dieses hier ein Land sei, in dem es nicht mehr eine Lotterie mit vielen Nieten ist, ob einer noch leben darf, ob einer nicht ein Jahr lang oder länger warten muß auf ein bißchen Arbeit, die hier zu haben ist für den, der sich ein wenig umtut in diesem weiten Lande unter dem lustigen Winde, der jung und stark wie die Morgensonne über die Prärie fegt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Weltwanderers letzte Fahrten und Abenteuer