Kanadischer Sommer - Edmonton, im September

Es hat einmal jemand gesagt, daß das Reisen noch einmal so angenehm wäre, wenn das Zurückreisen nicht wäre – und da hat er recht gehabt.

Wenn man ein so weitgereister Mann ist wie ich, so kann es nicht ausbleiben, daß man auf seinen Wanderungen zuweilen an Orte kommt, über deren mehr oder minder angenehmes Pflaster man schon einmal gegangen war in anderen Zeiten, unter anderen Umständen. Und dabei erfaßt einen trotz guter Vorsätze ein seltsam wehmütiges Gefühl. Man geht durch die alten Gassen. Man denkt an die alten Zeiten, die wirren Dinge, die dazwischen liegen, man meint, es müsse nun alles anders sein, und doch stehen hier die Steine genau noch so, wie sie damals gestanden, als ob sich nichts geändert hätte in all den Jahren.


Wie anders in Kanada! In diesem Lande marschiert die Zeit mit Siebenmeilenstiefeln, und mit ihr die Menschen. Zehn Jahre. – Was sind sie? Fast ein Nichts. In diesem Lande aber, in dem sie mit dem Abreißen fast noch schneller als mit dem Aufbauen bei der Hand sind, sind sie Jahrhunderte, ein rasender Wechselwirbel wie in einer jener übersmarten modernen Fabriken, wo sie alle zehn Jahre die Maschinen – wie hierzulande die Häuser – zum alten Eisen werfen.

Wie war es doch damals, als ich, ein junger, weggelaufener Matrose, durch endlose Urwälder vom Eismeer hierher gekommen war? [Fußnote]Kurt Faber schildert diese aufregende Rückreise in seinem Erstlingsbuch: »Unter Eskimos und Walfischfängern.« D.H. Damals war Edmonton doch auch schon eine Stadt mit Menschen, Autos und Straßenbahnen, die mich, der ich drei Jahre lang nur Eskimos und Indianer, allenfalls einen Trapper oder Walfischfängerkapitän, niemals aber mehr als ein Dutzend davon auf einmal gesehen hatte, mit Angst und Ratlosigkeit erfüllte.

Wo war das alles hin? Alles war neu und in die Höhe gewachsen. Busineßtempel, Bankpaläste, ein Hotel, wie man in Europa keines sehen kann, und Asphaltstraßen, wo sie damals nach Enten jagten in Gummistiefeln. Denn das ist die Parole in diesem Lande des unbeschränkten Optimismus: zu wachsen, immer zu wachsen! So war es gestern, so ist es heute, so wird es weiterhin sein. Platz ist da und Jugend und Zukunft, die aus Busch und Prärie das gelbe Gold der neuen Weizenfelder schlägt. Ein mageres Land vielleicht für die, die die Tretmühle der Arbeit in Gang halten. Herr ist der, der spekuliert. In Bergwerksanteilen, in Eisenbahnaktien, in Hausplätzen, die heute hundert, morgen tausend, übermorgen vielleicht gar nichts wert sind ...

Ah, aber das ist wert zu sehen, wie die Menschen sich hier über Schicksalsschläge hinwegsetzen im Vertrauen auf die grenzenlose Freigebigkeit ihres Landes! Wie sie sich schütteln, die Hemdsärmel hochkrempeln und gleich wieder irgendwo anders ihren Gaul im Hafer stehen haben.

Manchmal auch nicht. Man braucht nur ein paar Schritte seitwärts zu tun aus der Region der lichtumfluteten Geschäftsstraßen, und schon ist man ohne Übergang in einem Stadtgebiet, in dem die Häuser erbärmlich klein sind, in einer Gegend, in der die Schaufenster verziert sind mit den kyrillischen Buchstaben der russischen Sprache und geschäftstüchtige Herren einen mit Gewalt von der Straße hinwegziehen in dunkle Höhlen, wo es nach Motten und alten Kleidern duftet, einer Gegend – jawohl – in der es tausend Inschriften an tausend Schaufenstern verkünden, daß man hier warten kann, während die Schuhe geflickt und der Anzug geplättet wird.

Und wo man dennoch in Hausplätzen spekuliert und an Kanada glaubt!

»Fahrt westwärts und wachst mit dem Lande«, hat einmal ein amerikanischer Präsident der Jugend seines Landes zugerufen. Das war gewiß ein guter und gesunder Rat, den mancher befolgt und nicht bereut hat. Aber neben einem, der es zu etwas brachte, steht der Schatten eines anderen, der dabei unter die Räder kam. Denn nicht nur die Menschen – das ganze Land ist eine einzige Spekulation, ein Turmbau, der auf einem dünnen Pfeiler steht. Mehr noch als anderwärts gilt hier das alte nationalökonomische Sprüchlein:

»Hat der Bauer Geld, so hat's die ganze Welt.«

König in Kanada ist der Weizen. Es gibt keinen hier im Westen, der ihm nicht täglich einen Teil seiner Gedanken widmete, keinen, der einem nicht sofort seinen augenblicklichen Preis pro Bushel sagen könnte, wenn man ihn mitten im Schlafe aufschreckte. Gute Ernte, schlechte Preise; schlechte Ernte, gute Preise. Die alte Regel. Es ist wieder einmal ein Jahr der Dürre, des Mißwachses. Nicht als ob zu anderen Zeiten viel Staat zu machen gewesen wäre mit den Erträgen! Das Bild der wogenden, übermannshohen Getreidefelder des Westens existiert nur in der Phantasie des Europäers. Ein kanadisches Weizenfeld wächst sozusagen wild. Ohne künstliche Nachhilfe, in der kurzen Spanne zwischen den langen Wintern, schießt die Frucht nur mehrere Hand hoch empor. Stellenweise sind die Felder stark verunkrautet, mit Disteln, Quecken und sonstigen Beigaben überwuchert, die die Verzweiflung jedes rationellen deutschen Landwirts wären. Aber die Masse muß es bringen, und sie bringt es auch, selbst in diesem Jahre, wo die Garben lächerlich dünn auf den Feldern stehen.

Es ist eine Art der Landwirtschaft, die wenig mehr gemein hat mit unsern orthodoxen Vorstellungen auf diesem Gebiete. Wie beim Bauen und Niederreißen ihrer Städte, so beweisen sie auch bei ihren Arbeitsmethoden auf dem Lande einen Mangel an Rücksicht auf erdgebundene Imponderabilien, den man beneiden könnte, wenn man sich nicht darüber ärgern würde.

Früher – in vergangenen romantischen Zeiten, die noch gar nicht weit zurückliegen – war die Ernte in den kanadischen Präriestaaten eine romantische Angelegenheit, eine Art Kriegserklärung an die Natur, eine Mobilmachung mit allem, was dazu gehört. Da waren die Straßen der Städte gefüllt mit starken, wettergebräunten, abenteuerlich aussehenden Männern unter großen Cowboyhüten. Die Wirtschaften machten große Geschäfte, die Kneipen lärmten bis in den Tag hinein. Draußen auf den Feldern klapperten die Binder, surrten die Dreschmaschinen. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang war es ein Pandämonium der Arbeit – ah, und die Sonne ging um drei Uhr morgens auf, und vor ihrem Aufgang mußte man schon im Felde sein mit sechs bockigen Mauleseln, die man in der Dunkelheit angeschirrt hatte. Einmal, als mir bei der Dreschmaschine, so gegen neun Uhr abends, vor Müdigkeit die Augen zufallen wollten, fragte ich den Boß, einen dicken Schweden, wann man hier wohl schlafen ginge. Da schaute der mich verwundert an. »Schlafen? Wenn die Ernte vorüber ist!«

Das war damals. Heute ist man gesitteter geworden. Heute, zu bestimmter Stunde, pfeift die Maschine, und jeder geht nach Hause. Man schläft nicht mehr draußen im Stroh wie anno dazumal. Man hält Sonntage und Feiertage. Man wäscht sich zuweilen sogar in der Ernte – ein Sakrilegium, das vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre.

Immer öder, immer nüchterner wird es auf den Weizenfeldern, immer seltener der Mensch, immer mächtiger die Maschine. Heute noch ist die Handgabel in ihrem Recht, morgen wird sie nur noch ein Museumsstück sein wie der selige Dreschflegel. Da und dort sieht man auf den Feldern der Farmen, die sich das leisten können, den » combined harvester«, die kombinierte Erntemaschine. Groß und breit, mit weitausgestrecktem Flügel, wie ein mächtiger Doppeldecker, der nicht vom Boden loskommen kann, bahnt sie sich ihren Weg durch das wogende Goldgelb der Weizenfelder, nüchtern, sachlich und unheimlich zugleich. Keine Garben mehr bei solcher Methode. In halber Höhe schneidet das Ding die Ähren ab, zermalmt sie, drischt sie, und wirft sie im Weiterfahren nach rückwärts hinaus, bereits in Säcke gepackt, die man nur noch aufzulesen braucht. Vorerst noch das Korn. Wie lange noch, und man wird auch Mehl machen und Brot backen und abliefern in diesem Moloch!

So löst eine Maschine die andere ab, immer noch größer, immer noch teuflischer, immer noch raffinierter! Langsam wird die Farm zur Getreidefabrik, und die Zeit wird kommen, in der der Erntearbeiter nur noch Erinnerung ist. Heute noch braucht man ihn, und das ist sehr zu begrüßen im Interesse derer, die übers große Wasser kommen, gelockt von dem Stern »Kanada«.

Ein tüchtiger Erntearbeiter – und das kann unter Umständen heute jeder sein, der neben normalen Körperkräften eine Portion Energie und Anpassungsfähigkeit mitbringt – verdient selbst in diesem mageren Jahre immerhin vier bis fünf Dollars pro Tag bei freier Station, hie und da auch etwas mehr, wobei freilich nicht verschwiegen sei, daß manche in den Kneipen von Edmonton und Saskatoon das Maul aufrissen, daß sie nicht unter deren sechs arbeiten würden, und die man nachher treu und brav für deren drei hinter der Heugabel sah.

Drei Dollars, zwölf Mark, mag manchem auch noch als annehmbarer Tagelohn erscheinen, aber wenn man bedenkt, daß diese ganze Herrlichkeit nur zwei Monate dauert, daß es zusammengedrängte Arbeit ist, bei der Mensch und Dinge das letzte hergeben müssen, weil nachher, wenn die Farm tief verschneit im Dunkel liegt, durch lange, lustlose Monate nichts sein wird als Öde und Arbeitslosigkeit, so kann man nicht begreifen, wie einer dabei auf seine Rechnung komme.

Und dennoch und trotz allem ist es ein glorreiches Land! Da stand ich heute vor der Dreschmaschine, die den Staub in die Sonne blies. Es war einer jener Tage, von denen man in den Büchern lesen kann: ein weicher, verträumter Spätsommertag, klar und hell und voller Sonne. Auf einmal knaxte das Ding und stand still, weil irgend etwas heiß gelaufen war in der Maschine.

»Ja«, sagte der Boß, während er sich den Schweiß abwischte mit der öligen Hand, die sein Gesicht noch schmutziger machte, »hätten wir zu Hause so arbeiten wollen, wie wir es hier müssen, so hätten wir es weitergebracht.«

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Weltwanderers letzte Fahrten und Abenteuer