Nacht über dem Libanon - Beirut, im Juli

Ich saß vor der Automobilgarage zu Damaskus und wartete. Bagdad oder Beirut? – das war hier die Frage. Nach beiden Orten fährt das Automobil. – Wohin fährt es heute nicht? Kein Berg ist zu hoch, keine Wüste zu weit für den modernen automobilisierten Morgenländer, der Europa überbieten und Amerika übertrumpfen möchte.

Aber es scheint nur so. Es ist nur eine Äußerlichkeit, die er übernommen hat wie Filzhut, Kragen, Krawatte und derartige Dinge. Selbst der wütendste Kilometerfresser spürt vom Geiste des Automobils keinen Hauch, sobald er wieder zu Hause ist. Dann ist auf einmal wieder alles »Morgen – Inschallah«.


So war es auch mit Abdullah, oder wie er hieß. Sein Gewissen war so schwarz wie sein Automobil, sein Gedächtnis flüchtig wie eine Gazelle. Aber es fehlte ihm nicht an Phantasie. – Was hatte er mir am Abend zuvor beim Barte des Propheten geschworen? Für ein englisches Pfund wolle er mich mit seinem Wagen wie auf einem Zaubermantel nach Bagdad schaffen, gerade nur für Benzin. Dort drüben gäbe es dann viele Mekkapilger, die man ordentlich schröpfen könne mit fünfzehn Pfund pro Mann für die Rückreise nach Damaskus. Das sei ein lohnendes Geschäft und außerdem ein gottgefälliges Werk.

Das war gestern. Aber heute war im nebenanliegenden Hotel eine englische Reisegesellschaft abgestiegen, außerdem war Abdullahs Seele plötzlich voll düsterer Zweifel bezüglich des Andauerns der Mekkakonjunktur, und unter fünf Pfund pro Mann war an eine Bagdadreise nicht mehr zu denken. Dagegen Beirut – das koste nur zwei syrische Pfund, aber da war es wie beim Skatspiel. Es fehlte noch der dritte Mann, um den Kasten voll zu machen. Also wartete ich, – stundenlang. Abdullah war längst wieder eingeschlafen. Der Chauffeur hatte sich in ein Tricktrackspiel vertieft. Eine Weile betrachtete ich die sehr schönen, sehr bunten, sehr temperamentvollen Wandbilder, auf denen die Soldaten des Padischah die Franzosen verprügelten. Dann weckte ich Abdullah.

»Wird es bald so weit sein?«

»Inschallah!«

Endlich war es wirklich so weit. Die Zahl der Fahrgäste war voll, aber dann war es Zeit für den Chauffeur, daß er sein Mittaggebet verrichte, was er ausgiebig tat, worauf endlich, als der Motor schon schnurrte, einer Frau heiß einfiel, daß sie ihren Geldbeutel vergessen hatte, den sie herbeischaffen mußte vom anderen Ende der Stadt, während die anderen wieder einschliefen oder Tricktrack spielten, je nach Laune, und kurzum, der Tag begann sich langsam schon zu neigen, als wir endlich auf der weiten, weißen Landstraße den Schneebergen des Libanon entgegenjagten.

Eine Weile ging es dicht den rauschenden Fluß entlang, fast wie in einem Schwarzwaldtal. Links und rechts standen die alten Nußbäume, knorrige Feigen, gelbe Lehmmauern, die nur flüchtige Blicke erlaubten in Gärten, wo seltsame Blumen in blutroten und dann wieder in dunkelvioletten Farben glühten. Aber bald waren wir am Ende der Oase. Vor uns führte die weiße Straße in vielen Windungen bergauf durch ein Land, das man, mit deutschen Augen gesehen, vielleicht eine dürre, steinige Steppe, in Syrien aber gutes Ackerland nennt. Es kommt nur auf den Gesichtswinkel an, unter dem man so etwas betrachtet. Auf Terrassen, die fast bis zu den Berggipfeln hinaufgingen, standen die reifenden Ähren auf Halmen von wenigen Zentimetern Höhe, kümmerlich genug anzusehen, mitleiderregend für das Land und seine Bebauer, wenn die Mitreisenden uns nicht darüber belehrt hätten, daß das heuer eine ganz besonders gute, seit Jahren nicht mehr erlebte Ernte wäre.

Weiter bergaufwärts schwinden die Terrassen und mit ihnen die Felder. Der Wind kommt kalt von den nahen Schneefeldern; wohin man schaut, sieht man lustige Bäche über die Steine hüpfen, grüne Gebirgsmatten und Hänge von wildem Mohn, der blutrot unter der späten Sonne leuchtet. Ganz still ist es im Gelände. Nur da und dort zwitschern die Vögel, nur da und dort sieht man einen Trupp weidender Kamele am Rande der Dörfer, die grau und farblos in den Talfalten liegen. Es ist ein echter Sommerabend. Die Sonne brennt. Die Landschaft ist voll leuchtender Farben. Aber auf einmal liegt am Wegrand der Schnee, erst in kleinen schmutzig grauen Flocken, dann in hohen Bänken, dann in weiten Feldern, umgeben von plaudernden Wassern, die der heiße Schirokko mit Tauwasser speist. Die Sonne ist schon ins Meer gesunken. Ringsum leuchten die Berge noch einmal wie im Alpenglühen. Dann kommen die Sterne klar und unwahrscheinlich groß. Schnurrend fährt der Wagen bergab in atemraubenden Windungen, derweilen im Lichtkegel des Scheinwerfers die Dinge auftauchen, denen die Nacht die seltsamsten Gestalten gibt: die Menschen, die Esel, die Häuser, die Weinberge, die Olivengärten, die einem die Worte der Heiligen Schrift in Erinnerung rufen: »Es ist noch um ein kleines, so wird der Libanon ein Fruchtgarten sein.«

Von fernher aber leuchten die Lichter einer großen Stadt am Meeresstrand: Beirut.

Es war Nacht, als wir dort ankamen, und das war die richtige Zeit, denn wenn sonst nicht viel an dem Orte zu rühmen ist, so hat er wenigstens ein ausgeprägtes Nachtleben. Freilich ist es billigster Montmartre, hinterstes Sankt Pauli, äußerste Reeperbahn: Soldaten, Matrosen, Tanzlokale, Musikkasten und lose Frauen, die auf allen vorgenannten Arten schon Schiffbruch gelitten hatten, bis sie endlich noch Gnade fanden vor Beirut, der letzten, äußersten, der ultima esperanza. So lärmt das Pläsier und macht sich breit in der schmutzigen Gasse, jetzt zumal, wo der heiße Schirokko weht und alles aus den vier Wänden treibt.

Aber Beirut ist in mehr als einer Beziehung ein heißer Boden. Auf den ersten Blick ist es eine schöne Stadt, herrlich gelegen zwischen den weißen Schneebergen und dem dunkelblauen Meere. Aber eben das, was dazwischenliegt, ist nicht sehr erhebend: eine echte moderne Levantinerstadt, die ihre Vergangenheit verleugnet hat und dennoch ihr nagelneues Wesen und Unwesen selbst noch nicht so recht glauben will. Konstantinopel ist heute, dank der kemalistischen Austreibungspolitik, als Handelszentrum gewaltig zurückgegangen, das einst blühende Smyrna ist ebenfalls eine »città morta«. Und das ist Beirut zugute gekommen. Zu gut oder zu schlecht, wie man es auffassen will. Das ganze flinke Volk der Geldwechsler, Souvenirhändler, Dragomane hat sich hier niedergelassen. Dazu kam noch ein ganzes Flüchtlingsheer von Armeniern, und das gibt eine gute Mischung. So lebt alles durcheinander und voneinander; modernster Geschäftsgeist und orientalische Primitivität: Schmutzige Basarbuden und Busineß-Paläste im Bauhausstil, die reihenweise aus dem Boden wachsen, Kamele neben Automobilen, Geldwechsler, die hinter ihren Schätzen schlafen, Schreiber im Basar, denen schwarzverschleierte Damen die ganze Chronique scandaleuse in die gespitzten Ohren flüstern.

Mitten darin steht, wie ein Gebilde aus einer anderen Welt, die große amerikanische Universität. Wohl mag man sich fragen, was jene wohltätigen Menschen, die dieses Institut ins Leben riefen, sich eigentlich gedacht haben mögen bei seiner Gründung. Wie sie darauf kamen, gerade hier eine Universität zu gründen, ausgerechnet in Beirut? Aber da steht sie, eine Hochschule mit allem Zubehör, eine verschwenderisch ausgestattete Volluniversität, die offenbar über Mittel verfügt, um die sie jede deutsche Hochschule aus vollem Herzen beneiden könnte. Mit vollen Händen geben die Gould, die Vanderbilt, die Rockefeller für ihr geistiges »hobby« und für die Boys in Syrien, die man in klösterlich abgeschlossenen Internaten, mit englischer Unterrichtssprache, ganz »collegebred« zu vollkommenen Gentlemen erzieht.

»Social Halls«, die mit dem Luxus der Fifth Avenue ausgestattet sind, eine Aula, die ein Abklatsch von Edinburg ist, zwischen Kliniken und Seminargebäuden weite Gärten mit Sportplätzen, die von Zedern umrahmt sind, und das alles in einem Lande, in dem der größte Teil der Bevölkerung Analphabeten sind: Und das alles in einer Umwelt, in der fast alle diese bei Ham and Eggs im College-Seminar zu nachgemachten Amerikanern großgepäppelten jungen Leute zu Hause dereinst bei Brotfladen und Schafkäse aufgewachsen waren! Bei diesen ohnehin schon wurzellosen, mit allen Wassern gewaschenen Levantinern, denen die Verschlagenheit im Blute gärt und die der Weisheit der Intellektuellen nicht bedürfen, weil ihnen das bekanntlich von selbst zugeflogen kommt, weil sie ihre Zunge nach allen Sprachen richten und ihr Mäntelchen nach allen Winden halten können und immer konnten, die aber eine Erziehung zur Arbeit brauchten so nötig wie's tägliche Brot.

Dafür aber hat man keinen Dollar übrig, denn schließlich lauert hinter diesem Rausch der Wohltätigkeit der fromme Wunsch, daß so etwas sich doch einmal verzinsen mag. Schon vor den Amerikanern haben die Franzosen um die Seele des Syriers wie Jakob mit dem Engel gerungen. Zahllose Schulen weltlichen und geistigen Gepräges, aber alle Instrumente des französischen Imperialismus, haben hier eine ganze Generation erfüllt mit dem Geist, den man für ihre Begriffe zurechtgestutzt hatte. Und das hat Zinsen getragen in Gestalt des übertragenen Mandats.

Jedoch –

Es ist französische Art, daß sie zwar aus der Ferne wie eine Fata Morgana wirkt, in der Nähe aber, im Hausgebrauch zum mindesten, ernüchtert. So war es im Elsaß, so ist es heute im Libanon. Da wie dort geht das »Malaise« um, und es sind gerade die, die einst am lautesten nach der »Mèrepatrie« riefen, die heute die Köpfe am tiefsten hängen. Dem Libanon war es unter türkischer Herrschaft nicht schlecht ergangen. Er stand unter einem internationalen Statut und genoß alle Vorteile, die sich daraus ergeben, vor allem den einer fast vollkommenen Steuerfreiheit. So lebte man dahin, ohne viel von einer Staatsautorität zu sehen, die allerdings auch nichts tat für das Land. Aber man war zufrieden und lebte ungeschoren.

Aber jetzt! Jetzt ist es die Hypertrophie der Beamten, die Inflation der Polizisten, die Hochflut der Anordnungen, Monsieur »Lebureau« auf dem Throne und Steuern, die dem geplagten Geschäftsmann das Blut unter den Nägeln hervortreiben. Und im Gefolge davon gegenseitige Anklagen, die einander nichts schuldig bleiben. Hört man die Franzosen, so liegt die Schuld allein an dem Parlament, mit dem man diese neue »Republik« von Anfang an beglücken zu müssen glaubte und das nun im Rausch der ersten Gefühle etwas zuviel des Regierens tut. Der Syrier dagegen schüttelt den Kopf über die hohen Gehälter der zugereisten Beamten und fragt sich, gewiß nicht ohne Grund, wieso es denn mit dem Mandatsgedanken vereinbar wäre, daß man das anvertraute Land mit landfremden Soldaten, Fremdenlegionären, Senegalnegern überschwemme und so einen mit einheimischen Steuergeldern finanzierten Waffenplatz schaffe für künftige Kriege des französischen Imperialismus.

So viele Fragen, so wenig Antworten. Und über allem leuchtet die Sonne des Libanon heiß und sengend, über dieser gärenden Stadt, über der blau-weiß-roten Flagge, auf dem Serail und über den Bettlern von Beirut.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Weltwanderers letzte Fahrten und Abenteuer