Der Weg ins Ghetto - Haifa, im Mai

»Sie kamen aus der Stadt und weinten an den Mauern Jerusalems.« Keine anderen Steine auf dieser Erde sind so alt und doch so lebendig wie jene an der engen, schmutzigen Gasse, die an der berühmten »Klagemauer« der Kinder Israel vorbeiführt. An einem Freitagabend, wenn der Sabbath seine Schatten vorauswirft, muß man durch diese Gasse gehen, in der sich die Menschen drängen. Bunt geputzt auf ihre Weise, mit langen gedrehten Scheitellocken, mit bunten Gewändern und frisch gesalbten Bärten sitzen sie an der kahlen, fensterlosen Wand des gegenüberliegenden arabischen Hauses und blättern in den schmierigen Seiten dicker Bücher und sprechen ihre Gebete, nicht etwa leise murmelnd, sondern laut und schrill lamentierend, eine ohrenzerreißende Jeremiade, die einem auf die Nerven geht. Alle Augenblicke steht einer auf und verbeugt sich vielmals gegen die Mauer. Frauen stürzen vor und werfen sich gegen die mächtigen Felsblöcke, deren Seiten glatt poliert sind von den Küssen und Tränen der Gläubigen aus drei Jahrtausenden. Keinen groteskeren Anblick kann man sich denken als diesen, nichts, das absonderlicher – ja, und in seiner Art imponierender wäre!

»Um des zerstörten Palastes, des verwüsteten Tempels, der geschwundenen Majestät willen sitzen wir hier einsam und weinen. – Habe Mitleid mit Zion! Eile, eile, Erlöser von Zion! Rede zum Herzen von Jerusalem!«


Wo sonst in dieser Welt gibt es noch ein Volk, das es der Mühe wert hält, durch zweitausend Jahre die Konsequenz zu solcher Spitze zu treiben, den Schmerz, die Hoffnung und das Gefühl der Rache zu pflegen und zu vererben von Geschlecht zu Geschlecht?

Hat solche Beharrlichkeit inzwischen ihre Früchte getragen? Sollen die Tränen nun endlich vertrocknen an der Mauer? Hat man Ursache dazu? Es sind Fragen, für die man heute in der ganzen Welt, und nicht zuletzt in Palästina selbst, die verschiedensten Antworten findet. Die Pracht des Tempels freilich ist für immer dahin, auf den alten Mauern steht nach wie vor die Moschee über Israel, aber ringsum schreitet mit Riesenschritten die neue Eroberung des Landes der Väter fort, ohne daß ein Davidsschwert aus der Scheide käme, ohne daß Jehova es nötig hätte, noch einmal die Sonne stillstehen zu lassen.

Auch wer sich kalt und nüchtern nur an das Schwarz-Weiß der statistischen Zahlen hält, bekommt einen mächtigen Eindruck von dem Erstarken der zionistischen Bewegung, von der Opferwilligkeit der Juden, bis weit in die Kreise der Nichtzionisten, von der eisernen Konsequenz und Wucht der »friedlichen Durchdringung« des Landes, das man ihnen seinerzeit als »Heim« überwiesen hat. Schon vor dem Kriege haben sich fromme und wohltätige Juden, allen voran der Baron Rothschild, aus religiösen Motiven heraus die Ansiedlung von Glaubensgenossen ein schönes Stück Geld kosten lassen. Nach dem Erlaß der Balfour-Deklaration, die fortan den jüdischen Ansprüchen auf Palästina eine völkerrechtliche Legitimation erteilte, wurden diese vereinzelten Bestrebungen zusammengefaßt zu mächtigen Organisationen und die verschiedenen Wohltätigkeitsorganisationen umgestellt und ausgebaut zu politischen Machtinstrumenten.

Von der gesamten Judenschaft – soweit sie zionistisch interessiert ist – werden durch Selbsteinschätzung die Steuern für »Erez Israel« gewissermaßen voraus erhoben.

Das alles, und noch viel mehr, steht zu lesen in den verlockenden, schön illustrierten Prospekten, mit denen jeder Reisende im Lande gratis versorgt wird, auf Wunsch noch mit Erläuterungen der Funktionäre der zionistischen Propagandastelle in Jerusalem, denen die Worte vom Munde fließen, so sanft wie der Tau vom Hermon, so süß wie die Salben von Aarons Bart.

Jedoch –

Auch im neuen Palästina wird mit Wasser gekocht, auch hier stoßen sich die Sachen hart im Raume, und mancher hat sich den Kopf schon eingestoßen, weil er den Abgrund nicht zu überbrücken vermochte zwischen Traum und Wirklichkeit. Wer sich interessiert für soziologische und nationalökonomische Experimente, der braucht nur nach Palästina zu gehen, wo sie ihm derzeit praktisch vorgeführt werden. Was immer ein überhitztes Intellektuellengehirn sich ausgedacht hat an Kaffeehaustischen, was man je geträumt hat im Reiche Utopia, das findet hier seine Anhänger und tummelt sein Steckenpferd auf Kosten des jüdischen Nationalfonds. –

Bisher glaubten wir zu wissen, daß Juden Leute sind, die den irdischen Gütern, insbesondere dem baren Gelde, zum mindesten nicht indifferent gegenüberstehen. Diese aber sind Asketen, Fanatiker der Geldlosigkeit. Wieweit sie sich landwirtschaftlich bewähren, konnte ich in der Eile nicht feststellen, jedenfalls haben sie auf der von mir besichtigten Kwuza mit ihrer eigenen Hände Arbeit eine große Strecke Landes urbar gemacht und teilweise mit stattlichen Obstgarten und Bananenhainen bepflanzt, durch die einer der Genossen uns mit berechtigtem Stolz hindurchführte. Da und dort sah man Gruppen von jungen Frauen und Mädchen, barfuß, mit kokettem Hütchen, kurzen Röcken, ganz Konfektion, die sich anstellten wie Sommerfrischler bei der Arbeit. Da und dort sah man einen Chaluz (jüdischer Arbeiter) im Felde. Meist trug er eine Hornbrille. Stets findet man hier eine große Anzahl von Akademikern, die die Brücken zu alledem anderen abgebrochen haben, um hier als Handarbeiter ein neues Leben im Dienste ihres Volkes zu beginnen.

Gewiß ein schöner Idealismus. Aber wohl muß man sich bei ihrem Anblick fragen, wie viele es wieder tun würden, wenn sie noch einmal vor die Wahl gestellt wären! Der Roman des gebildeten westeuropäischen Juden im Dienste des neuen Palästina ist noch nicht geschrieben; wie er kämpft und leidet, wie er sich zappelnd wehrt gegen das ihn umkrallende Milieu auf der via dolorosa, die über einen Trümmerhaufen von zerbrochenen Illusionen vom Kurfürstendamm geradeswegs ins Ghetto führt. Es wäre eine lesenswerte, wenn auch wenig erfreuliche Geschichte. Denn darüber täuschen alle stolzen Statistiken nicht hinweg, daran ändern nichts die mit so viel Lärm ins Leben gesetzten Technischen und anderen Hochschulen: der Ostjude ist es doch, der hier das kulturelle Niveau bestimmt; das Klima in seiner Sonnigkeit befördert noch die Schlamperei, langsam sinkt der Einwanderer hinunter ins Fellachentum, und weit davon entfernt, die erhoffte Renaissance zu bewirken, wird Palästina zum Krematorium der jüdischen Kultur.

Man muß – wie gesagt – diese Kolonien selbst gesehen haben, um das zu verstehen. Die Felder sind leidlich, oft sogar sehr gut bestellt. Aber die Wohnungen, die Dörfer – es mag solche geben, die eine Freude zum Ansehen sind. Ich habe sie nicht gesehen. Selbst in den alten Rothschilddörfern, die auf eine fünfzigjährige Existenz zurückblicken, herrscht eine Wirtschaft, die man bei uns als polnisch zu bezeichnen pflegt. Bei den neuen wird es auch nicht besser werden. Da hausen sie jahrelang in windschiefen Buden, ohne sich die Mühe zu machen, auch nur das Unkraut vor der Tür zu jäten oder gar eine Blume zu pflanzen, da speist man kasernenmäßig aus Blechtellern in einem kahlen Speisesaal, Männer, Frauen in mehr oder minder schöner Eintracht, ohne Familienleben im engeren Sinne. Kinder werden schon in den ersten Wochen nach ihrer Geburt isoliert in wesenlosen Kindergärten, und die Eltern schätzen sich glücklich, wenn sie um die Mittagsstunde ihr Würmchen einmal für einige Minuten abholen dürfen wie ein Paket auf dem Bahnhof. Dabei keine Aussicht auf Vorwärtskommen, in weiter Zukunft nur die Wüste und die Tretmühle.

Freilich liegt bei den meisten der Fall so, daß sie sich mit ihren Vorfahren sagen können: »Wir sind über den Jordan gegangen mit nichts als einem Stecken.« Mit einem Hemd kommen sie zu den Kwuzoth, mit einem Hemd gehen sie wieder fort als traurigere, aber weisere Männer, und wer wollte ihnen das verübeln?

Seltsames Land der Widersprüche!

Da traf ich neulich mit einem jungen Lehrer zusammen, der schon seit Monaten auf Kredit des Konsumvereins lebte, denn der Keren Hajessod ist keine pensionsberechtigte Einrichtung. Ich ging durch die Schule, die das letzte Wort von moderner Einrichtung war, mit Brausebädern und chemischem Laboratorium. Und in der ganzen Schule kein Wort, kein Schriftzeichen, das nicht hebräisch gewesen wäre.

Und wie sie wohl auskämen mit den Kindern, die es noch nicht kennen?

»Die müssen es lernen!«

»Und keine andere Sprache?«

»Selbstverständlich nicht.«

Ob das wohl pädagogisch richtig und für das zukünftige Fortkommen der Kinder von Vorteil wäre?

»Als ob es darauf ankäme! Hebräisch – oder nichts. Und wenn sie dabei zerbrechen. Wir wollen keine Levantiner großziehen. Es ist besser, daß tausend zugrunde gehen, als daß die Nation darunter leide!«

So sprach der junge Lehrer, und seine Augen funkelten dabei fanatisch hinter der Hornbrille; ganz der Typ eines schwarzmähnigen Intellektuellen. Zu Hause, in Deutschland, vor knapp zwei Jahren, hatte er sicher noch im Kaffeehaus den Internationalismus gepredigt, hatte jeden als Finsterling angesehen, der vom Vaterland redete, hatte den Patriotismus als eine Ausgeburt der Hölle verdammt, hatte »Nie wieder Krieg!« gebrüllt und gespottet und sich aufgeregt darüber, daß man noch nicht allenthalben im deutschen Schrifttum die lateinischen Buchstaben eingeführt hat.

Aber freilich –

Man war jetzt in Erez Israel. Da war es patriotische Pflicht, daß man im Gegensatz zu aller Vernunft und allem Fortschritt sogar die tote hebräische Sprache zum Leben erwecke.

Ein Erbteil haben sie indes auch aus dem Dunstkreis der Kaffeehäuser mit übers Meer gebracht: den unbedingten Atheismus. Der traditionelle rechtgläubige Jude ist ein Wesen, das im neuen Palästina nur kümmerlich gedeiht. Kaum irgendwo in den neuen Dörfern und Kolonien sieht man so etwas wie eine Synagoge, kaum irgendwo ein rechtschaffenes Gebetbuch. Aber wenn sie solchermaßen an keinen Gott und keinen Teufel glauben, so verehren sie um so kritikloser den Gott in sich selbst und in ihrer Nation.

»O Israel, von Gott gewendet,
Hast du dich selbst zum Gott gemacht!«

Freiheit, Gleichheit, Menschheit, Religion und alle anderen Ideale sind in diesem neuen Lande Israel gleichermaßen verschlungen im Taumel eines über alle Begriffe verstiegenen Chauvinismus. Der Überschwang des neuen Volksgefühls hat alles andere absorbiert. Was wird einst aufsteigen aus diesem Hexenkessel? Wirklich das Land Kanaan? Endlich das Gelobte Land? Oder doch nur eine Episode, ein Versuch am untauglichen Objekt?

Wer kann es wissen?

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Weltwanderers letzte Fahrten und Abenteuer