Von schönen alten Häusern

Wer kannte sie nicht, die schönen alten Häuser mit den spitzen Giebeln und den wunderlichen Torbogen, mit altmodischen blankgeputzten Hausschellen, womöglich mit einem Löwenkopf als Klöppel an der geschnitzten Tür. Die alten Häuser, die so schrecklich unpraktisch und unmodern sind mit ihren knarrenden Treppen und dunklen Hausgängen und dennoch so breit und behäbig an Straßen und Plätzen, als wollten sie es jedem in die Ohren schreien: »Wir haben's nicht nötig!« Wenn man viele von diesen Häusern sehen will, so muß man auf den »Dom« von Reval gehen. Auf dieser burgartigen Zitadelle, zu deren Füßen eng zusammengehuddelt die alte Hansastadt liegt, hat sich ein ganzer Kongreß solcher Häuser zusammengefunden. Ziemlich wahllos stehen sie durcheinander mit betontem Individualismus. Jedes Haus hat seinen Namen. Wir gehen vorbei und lesen sie der Reihe nach. – Diese Namen! Sie sind wie eine Lektion der deutschen und russischen Geschichte! »Ungern-Sternberg« steht an einem Hause, »Stael-Holstein« am anderen. Hier wieder »Graf Wrangel«. »Fürst Liewen«. Dann Manteuffel, Krusenstern, Rennenkampf, Kotzebue. Und immer länger wird die Reihe der Namen. Es ist, als ob es bei ihrem Klang lebendig würde in den stillen Gassen. Sie klingen wie Trommeln, wie flatternde Fahnen, wie scharfes Kommando der Großen Armee.

Manches ist nicht mehr neu und schön an diesen Häusern, eines wie das andere bedarf dringend des Anstrichs. »Je nun,« sagt mein liebenswürdiger Führer, ebenfalls ein baltischer Baron, »man hat's nicht dazu. Die Zeiten sind schlecht. Es ist heute ein jeder froh, wenn er ein Haus hat. Da nimmt man's nicht so genau mit dem Anstreichen. Baron sein, ist eben ein schlechter Beruf.«


Wir gehen durch einen dunklen Hof, und plötzlich stehen wir an der Brüstung der Mauer, von wo man hinaus schauen kann in das weite Land. Von fernher blitzt das Meer. Tief unten liegt die alte Hansastadt mit den dicken Stadtmauern und den roten Giebeldächern. »Lübeck und Reval gehören zusammen, wie die zwei Arme eines Kreuzes,« hat einmal ein Lübecker Ratsherr gesagt. Manches in diesem Stadtbilde erinnert tatsächlich an Lübeck, das ja in vieler Hinsicht die Mutterstadt war. Hier wie dort ein Überschwang von Türmen und Giebeln, von alten winkligen Gassen, durch die die Jahrhunderte gingen. Das Gesamtbild von Reval aber, wenn man es vom »Dom« herunter betrachtet, ist noch anziehender als das von Lübeck. Es ist geradezu das Idealbild einer schönen alten Stadt. Ganz rechts der hohe Burgturm, den man den »Langen Herrmann« nennt, weiter unten, mitten im Häusergewirr, der freche »Kiek in die Köck« und endlich die stolze Olaikirche mit ihren 120 Metern Höhe. Jeder einzelne von diesen ein Denkmal deutscher Baukunst. »Sehen Sie dort hin,« sagt mein Begleiter, indem er auf einen Getreidespeicher am Hafen deutet, »dort haben 1914 unsere Herren gesessen, ehe man sie nach Sibirien schaffte.«

Warum? – Ja, wie sagte doch Fichte?

»Eure Kinder werden sich nicht mehr bei Nacht verschwören müssen, um Deutsche zu sein!«

Mitten auf dem »Dom« steht die Domkirche. Sie ist älter noch als die umstehenden Häuser und äußerlich ebenso vernachlässigt wie diese. Wir gehen durch das alte Portal, von wo eine Treppe abwärts führt wie in einen Keller. Im Dämmerdunkel liegt das Schiff. Nur die schweren bronzenen Leuchter mit dem Lübeckschen Adler glänzen matt im fahlen Lichte des kurzen Wintertages. Seltsamer Spuk, der sich da an den Wänden breit macht! Blasse Madonnenbilder neben Schwertern und Wappen wehrhafter Ordensritter. Da ist die Loge, in der einmal der Großmeister gesessen, und da der Ritterschaftshauptmann und alle die anderen fein säuberlich nach Rang und Ordnung, wie sich's gehört.

Was waren das damals für Zeiten!

Da liegen die Gräber der hier gebürtigen russischen Generale und Admirale. Über jedem hängt von der Wand die Flagge, die er zu Lebzeiten geführt. Sie zogen aus, die Welt zu erobern, aber in Reval liegen sie begraben. Und es liegen noch andere in derselben Kirche. Auf einer Steinplatte an der Wand ist ein großer Stiefel eingemeißelt. Da liegen die ehrsamen Schuhmachermeister. Unter einer anderen mit einem Ochsen liegen die Metzger. Bei solchem Anblick kann mein Führer nicht mehr an sich halten. »Ich bin Baron,« sagt er bitter, »das steht heute nicht hoch im Kurs bei dem großen Haufen. Es ist aus mit unserer Macht und unserem Vermögen. Es ist aus mit der Aristokratie. Wir haben unsere Zeit gehabt. Ich klage nicht. Aber denken Sie sich bitte einmal, wenn Sie können, einen Schuhmacher im Erbbegräbnis eines dieser neuen Aristokratie, sagen wir von einem Rothschild, einem Rockefeller oder J. Pierpont Morgan!«

Noch eine Weile stehen wir auf den kahlen Steinplatten und schauen fasziniert auf die stummen Zeugen vergangener Zeiten, über denen die Schatten des frühen Abends sich immer schwärzer zusammenziehen. Sollte man es glauben, daß diese Welt des ständischen Staates in gewisser Hinsicht noch im Jahre 1918 hier in Geltung war? Aus dem tiefsten Mittelalter führt hier eine ungebrochene Linie bis fast zum heutigen Tage. Alle Formen der damaligen Zeit waren hier noch erhalten und für Zwecke der inneren Selbstverwaltung nutzbar gemacht. Ritterschaft mit Ritterschaftshauptmann und Landtag für die Adligen, die große und kleine Gilde für Handwerker und Kaufleute in der Stadt, alles arbeitete erfolgreich und auf gleichem Fuße zusammen. Keiner brauchte sich vor dem anderen zu ducken und zu demütigen, so lange er nur deutschen Blutes war. Dabei waren die mit ihnen zusammenlebenden anderen Nationen keineswegs »unterdrückt« im landläufigen Sinne des Wortes. Sie konnten es gar nicht sein, da ja die politische Macht seit Jahrhunderten nicht mehr in deutschen Händen lag. Wenn trotzdem diese Minderzahl der Deutschen so lange ihre überragende Stellung behaupten und noch stets erweitern konnte, so lag es nur an ihrer größeren wirtschaftlichen Tüchtigkeit, an ihrem Rassestolz und an dem berauschenden Gefühl des Blutes. In der Geschichte aller Völker ist kaum ein Beispiel ähnlicher Zähigkeit zu finden.

Erst der November 1918 hat diesen letzten Resten des alten Ordensstaates ein Ende gemacht. Aber einen letzten großen Tag hat er zuvor noch erlebt. Das war der Tag, an dem die deutschen Truppen über den »Dom« marschierten, der Tag, an dem Prinz Heinrich in dieser Kirche den Ordensstab ergriff. Wahrlich, es hätte ein großer Tag werden können! Wie oft hört man es heutzutage noch aus dem Munde von Leuten, die damals noch Rittergüter besaßen und heute bettelarm sind: »Ich hab's erlebt! Das können sie mir nicht nehmen!« Sie haben dann freilich auch den Verrat erlebt. Aber aller Verrat und alle Niedrigkeiten wiegen nicht das Gedächtnis auf an einen einzigen großen Tag.

»Das Haus mag zerfallen.
Was hat's denn für Not?
Der Geist ist in uns allen.
Und unsere Burg ist Gott!«

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Weltwanderers letzte Fahrten und Abenteuer