Erstes Kapitel - Wie gesagt, vor sechzig Jahren wars, da sagte Waverley, der Held unsrer Geschichte, ...

Waverley–Würden. Ein Rückblick.

Wie gesagt, vor sechzig Jahren wars, da sagte Waverley, der Held unsrer Geschichte, seiner Familie Lebewohl, um sich zu dem Dragonerregiment zu begeben, bei dem er angeworben worden war. Es war ein trauriger Tag für Waverley–Würden, als der neubackne Offizier von seinem greisen, ihm herzlich zugetanen Onkel Sir Everard sich trennte, dessen Rang und Stammgut er einmal erben sollte. Zwischen unsers Helden Vater, dem jüngern Bruder des Baronets, Richard Waverley, und diesem hatten sich durch abweichende Ansichten über die politischen Strömungen im Lande Differenzen gebildet. Sir Everard hatte von seinen Ahnen all die Ideen und Vorurteile geerbt, die die Partei der Tory und der hochbischöflichen Kirche beherrschten, und das Haus und Geschlecht der Waverleys hatte seit dem großen Bürgerkriege sich als Tory wie als Anhänger der Hofkirche allzeit rühmlich hervorgetan. Der jüngere Bruder hingegen, mit dem ältern um zehn Jahre auseinander, lebte der Meinung, als dessen geborner Erbe vorderhand weder ein Amt noch ein Einkommen zu brauchen, aus dem Kampf ums Leben vielmehr weit bequemer und leichter als Sieger hervorzugehen, wenn er sich so wenig Lasten wie nur irgend möglich auf den Hals lüde. Geschichtsstudium und eigne Erfahrung hatten ihm den Beweis dafür geliefert, daß „Leiden in Geduld und ohne Widerstand“, wie es in einem alten Liede heißt, töricht und albern sei. Wahrscheinlich würde aber alle Vernunft kaum im stande gewesen sein, die ererbten Vorurteile zu beseitigen, hätte sich voraussehen lassen, daß Sir Everard, dessen Herz in den früheren Mannesjahren eine bittre Enttäuschung erfahren hatte, als Hagestolz sein siebzigstes Lebensjahr überschreiten werde. Dadurch gelangte er zu der Ueberzeugung, daß er im Leben bloß etwas werden könne, wenn er sich auf sich selbst verließe und mit der althergebrachten Liebe zu dem königlichen Hause der Stuarts und zur bischöflichen Hofkirche bräche, und so schloß er sich der Partei der Whig an, die der hannöverschen Thronfolge das Wort redete. Das Ministerium dieser Periode war klug darauf bedacht, die Oppositionspartei zu schwächen, und nahm den Sprößling eines so alten Geschlechtes mit Wärme auf, denn man durfte hoffen, durch ihn weitere Proselyten zu werben, und überhäufte ihn mit allerhand ministerieller Gunst, die zu tragen seine Fähigkeiten kaum ausreichten. Bald las nun Sir Everard, daß sein jüngerer Bruder, Richard Waverley, Esquire, Parlamentsmitglied geworden sei, und zwar für den ministeriellen Wahlort Barterfield, dann, daß Richard Waverley, Esquire, sich in den Verhandlungen über die Accisbill zu gunsten der Regierung und sehr zu seinem Vorteil hervorgetan habe, endlich, daß Richard Waverley, Esquire, Sitz und Stimme in einem der Kollegien erhalten habe, die sich des Vergnügens, dem Vaterlande Talente und Kräfte zu opfern, zusammen mit der unerquicklichen Vergünstigung all vierteljährlicher Einberufung erfreuen dürfen.

So schnell sich diese Nachrichten aufeinander folgten, so gelangten sie doch zufolge der damals nur wöchentlichen Erscheinung der Zeitungsberichte nur tropfenweis zu den Ohren Sir Everards, und das war für Richard Waverley einigermaßen von Vorteil. Denn wäre die Totalsumme von solch außerordentlichem Glück auf einmal nach Waverley–Würden gedrungen, so dürfte der neue Fürstendiener wohl kaum viel Ursache gefunden haben, sich zu seiner Schwenkung zu gratulieren. Denn wenn auch der Baronet der gutherzigste aller Menschen war, so war doch sein Gemüt nicht frei von empfindlichen Seiten, und dazu gehörte der Stolz auf die Traditionen seines alten Geschlechts in erster Reihe, und diesen Stolz hatte der Bruder durch seinen Uebertritt empfindlich verletzt. Das Haus Waverley war nicht durch Familiengesetz an bestimmte Erbfolge gebunden, und selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, so hätte eine späte Heirat des damaligen Geschlechtsherrn dem Kollateralerben einen bösen Streich spielen können. Mancherlei Gedanken dieser Art gingen Sir Everard durch den Kopf, ohne jedoch einen festen Entschluß, zu Richards Glück, zu reifen.


Er prüfte seinen Stammbaum, der auf den Wänden seines Ahnengelasses zwischen allerhand Emblemen und Darstellungen von Heldentaten seiner Vorgänger prangte. Die nächsten Deszendenten Sir Hildebrands waren, außer dessen ältestem Sohne Wilfried, dessen einzige Sprößlinge Sir Everard und Richard waren, die Waverleys von Highley Park, zumeist unter der Bezeichnung „Nants“ bekannt, mit denen jedoch der eigentliche Stamm um einiger Verstöße halber seit Jahren allen Verkehr abgebrochen hatte. Immerhin waren dieselben im Gedächtnis Sir Everards durch die jüngsten Vorkommnisse so weit in den Hintergrund gedrängt worden, daß es, wäre Doktor Beutelschneider bloß um eine Stunde früher auf Waverley–Würden eingetroffen, wohl hätte passieren können, daß ihm der Auftrag, eine neue Aufteilung des Waverley–Erbes auszuarbeiten, zu teil wurde. Aber er hatte sich um diese Zeitspanne unterwegs verspätet, und sie hatte genügt, den Ingrimm, der Sir Everard erst veranlaßt hatte, den Rechtsanwalt durch einen expressen Boten zu beordern, verrauchen zu lassen. Dr. Beutelschneider fand seinen Klienten in tiefes Sinnen versunken und getraute sich nicht, dasselbe auf andre Weise zu unterbrechen, als daß er Papier und Schreibzeug aus seinem blauen Beutel langte und vor sich auf den Tisch stellte zum Zeichen, daß er zur Arbeit bereit und fertig sei. Aber gerade dieses bescheidne Verfahren brachte den Herrn von Waverley in Verdruß, denn er meinte darin einen leisen Vorwurf zu finden, daß er sich noch nicht recht schlüssig darüber sei, weshalb er seinen Rechtsanwalt inkommodiert habe. Und als er nun auf den Jünger der Themis blickte, noch halb unschlüssig, wie er sich verhalten solle, da drang plötzlich hinter einer Wolke die Sonne vor und warf einen buntfarbigen Strahl durch das gemalte Fenster des düstern Zimmers, in welchem sie saßen, und Sir Everards Auge fiel gerade, als er nach dem Fenster sah, durch das der bunte Strahl drang, auf das Wappenbild, in dessen Mittelpunkte, das die Devise enthielt, die sein Ahn in der Schlacht bei Hastings geführt haben sollte: drei Hermeline von Silber in azurnem Felde mit dem Spruche: Sans Taschefleckenlos. schritten.

„Mag er lieber untergehen, unser Name,“ dachte da Sir Everard, „als daß dies alte, loyale Symbol durch das beschimpfte Wappen eines solchen Rundschädels von Puritaner, der unsern König Karl mit auf den Richtblock geführt hat, seines Glanzes entäußert werden sollte!“

Dies alles war die Wirkung eines flüchtigen Sonnenblicks, gerade hell genug, daß Doktor Beutelschneider sich ohne allzu viele Mühe seinen Gänsekiel spitzen konnte. Aber die Arbeit war müßig gewesen, denn es wurde dem Advokaten der Bescheid, sich wieder zu entfernen, aber sich auf den ersten Ruf bereit zu halten.

Die Anwesenheit des Doktors Beutelschneider im Schlosse mußte natürlicherweise die Folge nach sich ziehen, daß die gesamte Welt, die sich um Waverley–Würden drehte, die Köpfe zusammensteckte. Wer aber hier in diesem Mikrokosmus zu jenen Leuten gehörte, die das Gras wachsen hören und solcher Leute gab es natürlich auch hier die meinten für Richard Waverley aus diesem Vorgange, der so unmittelbar auf seine politische Wandlung folgte, noch weit Schlimmeres ahnen zu sollen ... und in der Tat erfolgte auch nichts Geringeres, als eine Reise des Baronets in seiner sechsspännigen Staatskutsche mit vier Lakeien in reicher Livre zu einem hochadligen Pair im Grafschaftsbezirke, der von fleckenloser Herkunft und ein unentwegt getreuer Anhänger der Torystischen Partei und glücklicher Vater von sechs unverheirateten Töchtern war.

Wie man sich wohl denken kann, wurde Sir Everards Besuch dort sehr warm begrüßt, leider aber fiel die Wahl seines Herzens auf die jüngste der hochadligen Töchter.

Emilie nahm seine Komplimente mit zaghaftem Herzen entgegen. Sie ließ durchblicken, daß sie sie nicht ablehnen dürfe, nichtsdestoweniger aber alles andre als erfreut darüber sei. Dem Baronet konnte dieser Zwang nicht entgehen, er ließ sich aber durch die Worte der klugen Frau Mama belehren, daß in solchem zurückhaltenden Wesen nichts anderes zu erblicken sei, als die natürliche Folge einer stillen häuslichen Erziehung. Und so würde Miß Emilie jedenfalls, wie manche andre ihrer Geschlechtsgenossinnen, das Opfer einer Konvenienzheirat geworden sein, wäre nicht eine ihrer älteren Schwestern resolut genug gewesen, den reichen Bewerber durch die Offenbarung in Bestürzung zu versetzen, daß Miß Emilie ihr Herz bereits einem jungen, reichen Offizier, einem nahen Verwandten des Hauses, geschenkt habe. Von dieser Mitteilung wurde Sir Everard begreiflicherweise nichts weniger als angenehm berührt, und als Emilie, wenn auch mit Bangen vor dem väterlichen Zorne, ihm in einer vertraulichen Unterredung die Wahrheit dieser Mitteilung bestätigte, da faßte Sir Everard, ehrenhaft und edelmütig, wie ein echter Waverley, den kurzen Entschluß, seine Bewerbung um Emiliens Hand zurückzuziehen und den hochadligen Herrn Papa dahin zu beeinflussen, daß er seiner jüngsten Tochter den Weg zu einer glücklichen Ehe in keiner Weise verschließen möge.

Aber die Lehre, die Sir Everard aus diesem Korbe zog, blieb von nachhaltigem Einfluß auf sein ganzes Leben, wenngleich ihm das Bewußtsein, sich in der Angelegenheit als echter Edelmann betragen zu haben, die Herbigkeit der Pille einigermaßen linderte. Indessen hatte ihm den Gedanken zu einer ehelichen Verbindung bloß eine momentane Regung von Groll und Unmut eingegeben, und die Mühsale einer Brautfahrt schickten sich so wenig zu seinem gesetzten Wesen, daß er, kaum der Gefahr entronnen, die Hand einer Gattin zu erringen, die ihm ihre Liebe nicht hätte schenken können, zurück auf sein Stammschloß kehrte, mit dem festen Vorsatze, seine Neigung keinem andern weiblichen Wesen mehr zuzuwenden, auch jener ältern Tochter des hochadligen Pairs nicht, die ihm doch ganz sicher die Mitteilung des von ihrer jüngern Schwester bereits eingegangenen Verhältnisses nicht frei von selbstsüchtiger Absicht gemacht hatte. Er kehrte wieder zurück zu der alten Lebensweise und zu den alten Grundsätzen, in Waverley–Würden auf gut und echt Englisch im Stile des Landedelmannes von alter Herkunft und bedeutendem Vermögen Hof zu halten. Seine Schwester, Miß Rachel Waverley, stand dem Hauswesen wieder vor wie bisher, und so traten denn beide, Bruder und Schwester, allgemach in den Stand des alten Junggesellen und der alten Jungfer hinüber, nahmen aber beide alle Gutherzigkeit und brave Gesinnung hinüber, die sie ihr ganzes Leben lang ausgezeichnet hatten.

Der Groll, der in Sir Everards Herz gegen den Bruder eingezogen war, hielt nicht lange vor, aber sein Groll gegen alles, was mit Whigs und Regierungspartei zusammenhing, blieb dort haften, und der Baronet mied lediglich aus diesem Grunde noch den Umgang mit ihm. Da sollte es ein glücklicher Zufall fügen, daß die alten Beziehungen sich wieder fanden. Richard Waverley hatte nämlich einer Dame von Stand die Hand zum ehelichen Bunde gereicht, deren Vermögen ihn in die Lage setzte, seine Laufbahn mit größerm Nachdruck fortzusetzen. Sie brachte ihm nicht nur einen ziemlich umfangreichen Landsitz in die Ehe, sondern auch einen recht bedeutenden Betrag an barem Vermögen. Und dadurch, daß der Landsitz in nicht zu großer Entfernung von dem Landsitze seines Bruders lag, sollte es sich eben fügen, daß die beiden eine Zeitlang einander feindlich gewesenen Brüder sich in Freundschaft wieder zu einander fanden.

Das einzige Kind, das Richards Ehe entsproß, war Edward, der Held unsrer Geschichte. Eines Morgens war der Knabe mit seiner Gouvernante ein halbes Stündchen weit von dem Landsitze seines Vaters, dem Schlosse Brerewood–Lodge, spazieren gegangen. Da wurde ihre Neugierde durch eine sechsspännige Staatskutsche gefesselt, die so stattlich aussah, daß sich der Oberbürgermeister von London ihrer nicht hätte zu schämen brauchen. Ein kurzes Stück ab von ihnen hielt die Kutsche, um auf ihren Herrn zu warten, der sich nach einem im Umbau befindlichen Pachthofe begeben hatte, um nachzusehen, welche Fortschritte die Arbeiten in den letzten vierzehn Tagen gemacht hatten. Ob nun der Knabe durch italienische oder schottische Ammenmilch aufgezogen worden, weiß ich nicht, auch nicht, auf welche Weise sonst seine Phantasie so lebhaft angeregt wurde, daß er ein Wappenschild mit drei Hermelinen ohne weitres mit dem Gedanken in Konnex brachte, daß ihm ein Eigentumsrecht auf die Kutsche, an welcher sich das Schild befand, zustehe. Gerade während sich die Gouvernante bemühte, ihm das Irrige seiner Auffassung klar zu machen und ihm zu wehren, als er, den Fuß auf den Tritt setzte in der Absicht, sich in die Kutsche zu setzen, kam der Baronet wieder aus dem Pachthofe heraus. Es war ein um so glücklicheres Zusammentreffen für den jugendlichen Pausback, als der Onkel eben in dem Pausback seines Freisassen Anlaß bekommen hatte, sich selbst solches Glück zu wünschen. Und nun sah er den kleinen rosenwangigen Burschen vor sich, der noch obendrein seinen Namen führte, mithin rechtskräftige Ansprüche auf sein Haus und seine Familie, auf seine Liebe und Fürsorge besaß, zufolge eines Bandes, das er ebenso hehr und heilig hielt, wie ein Hosenbandritter sein blaues Ordensband; und da war es ihm zu Mute, als habe die Vorsehung selbst ihm denjenigen Gegenstand seines Sehnens und Wünschens zugeführt, auf den er alle Liebe und Sorge übertragen könne, ohne sich in irgend welchem Zweifel darüber zu bewegen, ob er sie einem würdigen Gegenstande zuführe oder nicht.

Knabe und Gouvernante wurden nun in der Staatskutsche zurück nach Schloß Brerewood–Lodge gebracht, und zwar mit solch freundlichen Worten, daß sich Richard Waverley nicht unklar darüber bleiben konnte, daß sein Bruder dieses Verhalten als einen ersten Schritt zu der Wiederannäherung der beiden Brüder betrachtete. Die neuen Beziehungen behielten nun zwar einen etwas zeremoniellen Charakter; immerhin fanden beide Brüder ihre Rechnung dabei. Sir Everard fand in den häufigen Besuchen, die nunmehr der kleine Vetter auf Schloß Waverley machen durfte, jene Zuversicht, daß dem alten Geschlecht ein neuer Sproß erwachse, und für den reichen Schatz von Liebe, der in seinem Herzen wohnte, einen gern gesehenen Ableiter, während Richard Waverley in der zunehmenden Zuneigung des Oheims zu dem Neffen das Mittel erblickte, das reiche Erbe des alten Stammguts für seinen Sohn, wenn nicht gar für sich selbst, sicher zu stellen.

So ließ man hinfort den kleinen Edward, vermöge stillschweigender Übereinkunft, den größern Teil des Jahres im Schlosse Waverley–Würden zubringen, so daß er zwischen beiden Familien stand als ein Band, dem von beiden Seiten die gleiche Liebe und Zuneigung entgegengebracht wurde, und seine Erziehung wurde wechselweise nach dem Geschmack und nach den Ansichten des Oheims einer– und des Vaters anderseits geleitet. Hiervon aber weiteres im nächsten Kapitel.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Waverley oder Es ist sechzig Jahre her. Erster Band