Was jede Frau vom Wahlrecht wissen muss!

Autor: Dr. Magnus Hirschfeld und Franziska Mann, Erscheinungsjahr: 1918

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Wahlrecht, Emanzipation, Wahlpflicht, Stimmrecht, Frauenwahlrecht, Wahlverfahren, Wahlbeteiligung, Nationalversammlung, Wahlpflicht, Wahlurne, Revolution, Geschichte, Vaterland, Politik, Politiker, Moral,
Aus grauen Nebeln heraus kam uns eine Hoffnung; - falsches, ungezügeltes Vorgehen kann sie vernichten.

Die Augen der Welt sind auf die Frauen Deutschlands gerichtet. Ihre Kräfte werden von der ungeheuersten aller Revolutionen gefordert. Wieweit wir auch noch von den Ergebnissen der Umwälzung entfernt sein mögen, die wir jetzt durchleben, eines ist sicher: Wäre sie imstande, Frauen von der Notwendigkeit einer starken, eigenen politischen Meinung zu überzeugen, so gehörte diese Wirkung mit zu den weittragendsten der Revolution.

Bisher haben Frauen kein starkes politisches Talent bewiesen; die Stunde ist aber wenig geeignet über unser Wesen und Wirken, über unsere Eigenart, über die Berechtigung unserer Gleichheitsforderungen zu diskutieren. Wir haben mit gegebenen Verhältnissen zu rechnen. Nur wenn alle Frauen und alle Männer zähe und zielbewusst bei der Neuformung Deutschlands mit tätig zu sein für ihre Pflicht halten, nur dann kann der Sinn einer Nationalversammlung sich erfüllen.

Durch höchstgesteigerte Tatkraft der wenigen, die fast ihr Leben lang mit der Politik eng verwachsen waren, sollen nun Wunder vollbracht werden. Stündlich schwillt die Zahl der Unvorbereiteten an, die von glühendsten Eifer beseelt sind, sich mit den ihnen fehlenden Elementen der Entwicklung nach Möglichkeit vertraut zu machen.

Es gehört eine gewisse Größe dazu, gerecht für anders gesinnte Volksaufklärung zu leisten; denn jeder ist geneigt, seine Auffassung und Anschauung für die einzig zu halten. -

Als der Krieg begann, erfassten Frauen aus allen Volksschichten rasch das Gebot der Stunde; jetzt bei Kriegsende wird das Handeln der Frau von viel weittragenderer Bedeutung sein. Unerwartet legten die Augusttage des Jahres 1914 Lasten auf Frauenschultern. Tausende haben ihre Traggeschicklichkeit bewiesen. Die Novembertage des Jahres 1918 beschwerten und beschenkten uns Frauen – je nach Empfindung und Überzeugung – mit wesentlich einschneidenderer Verantwortlichkeit: mit dem Recht zu wählen.

Der Gang der Entwicklung hat für uns einen Sprung getan, - in Sprüngen stecken gefahren.

Wohl haben sich seit Jahrzehnten und länger Frauen bemüht, an der Entscheidung lebenswichtiger Angelegenheiten mitzuarbeiten. Erinnert sei nur an den Kampf Josephine Buttlers gegen die Prostitution, an Ottilie Hoffmanns unentwegtes Ringen gegen den Alkohol, an Harriet Beecher-Stowes Kämpfe für die Befreiung der Negersklaven. An Bertha von Suttners Friedensziele. Im allgemeinen aber erreichten Frauen selten große Wirkungen im öffentlichen Leben, nicht nur der Schranken halber, zwischen denen sie sich zu bewegen hatten; ihr zu schwach entwickeltes Interesse auf staatsbürgerlichem und volkswirtschaftlichem Gebiet hinderte sie daran.

Dass die erste Ärztin wegen ihres für Frauen „nichtanständigen“ Berufes wegen schwer eine Wohnung fand, erscheint heute lächerlich. Ähnliche Unbegreiflichkeiten aus unseren Tagen werden spätere Generationen belächeln, da ungeachtet aller Hemmungen immer mehr Frauen nicht müde wurden, aus sich selbst etwas zu machen, etwas mit dem sie nicht nur sich, sondern auch dem Gemeinwohl zu helfen wünschten. Dennoch konnten über 40 Jahre vergehen, seitdem Hedwig Dohm ziemlich erfolglos die Worte in die Welt schleuderte: Menschenrechte haben kein Geschlecht. Sie fand damals und viele Jahre später nur wenige Aufhorchende. Das Nicht-mitgezählt-werden. Das Beiseite-stehen oder Beiseite-gestoßen-werden blieb für die meisten Frauen das Gewohnheitsmäßige, das vielen ganz Schmerzlose. Jahre sind versäumt, die wertvoll für den Gang der Entwicklung hätte werden müssen. Aber „es ist das Schicksal aller reformatorischen Gedanken und Bestrebungen, das sie erst von der großen Menge nicht beachtet werden, auch dann, wenn sie sich mit Naturnotwendigkeit aus dem Gang der Kulturentwicklung und aus den dadurch veränderten menschlichen Beziehungen und sozialen Einrichtungen ergeben; auch dann, wenn sie ein langersehntes Heil für diese Menge, eine Erlösung aus unhaltbar gewordenen Zuständen bedeuten.“

Diese Erfahrung gemäß ist es nicht leicht, sich von dem beklemmenden Gefühl zu befreien: Werden wir Frauen weitsichtig genug sein, die Größe der Pflicht zu erfassen, die uns jetzt zufällt?

Unermüdlich möchte man es denen, die die Tragweite des neuen Gesetzes noch nicht erfassten, ins Gehirn hämmern: Begreift es endlich, eure Stimmen sollen gehört werden, dort, wo man bisher über Euch hinwegstimmte. Bei einschneidenden Entscheidungen in der Öffentlichkeit, - etwa auf den Gebieten der Schule, der Kirche, der Ehe und vielen anderen – sollen Eure Urteile und Eure Ansichten und Eure Erfahrungen künftig stark in die Waagschale fallen.

Intelligente Arbeit ist zu leisten. Durch Unterricht in staatsbürgerlichen Fächern wurden Frauenköpfe bis vor kurzem sehr wenig beschwert. Die feste Verankerung von Politik und Moral ist ihnen vorenthalten geblieben. Nicht fachgemäßes Wissen mahnte sie, die Ungleichheit der Lebensmöglichkeiten zu bekämpfen, nur ihr Gefühl. Wenige von uns dürfen behaupten, sie wüssten Gründliches etwa über Zölle und Steuerangelegenheiten, über Ehe- und Familienrecht, über Unterrichtsfragen, über Boden- und Wohnungspolitik und Währungsfragen, über alle diese unendlich wichtigen Dinge, ohne die von einer staatsbürgerlichen oder volkswirtschaftlichen Bildung kaum die Rede sein kann.

„Die Dame“ bedarf einer ehrlichen Prüfung einer ebenso einschneidenden Wahlvorbereitung wie ihre Angestellten.

Kenntnisse allein genügen freilich nicht. Auf ein höher entwickeltes Gewissen kommt es nicht minder an.

Revidieren wir anlässlich des gewonnenen Stimmrechts unsere eigenen Vorurteile. Über Bord mit ihnen. Unsere Genügsamkeit war groß, beschämend groß auch in Bezug auf uns selbst.

Eine nutzringende Aufklärung soll daher nicht davor zurückschrecken auch solche Worte und Begriffe zu erklären, die man als allgemein verständliche vorauszusetzen geneigt ist; die Elementarschule darf nicht gescheut werden. Interessen und Anlagen der verschiedensten Volksschichten sind zu berücksichtigen. Der zweite Schritt darf nicht vor dem ersten getan werden, wenn mit erfolgreicher Aufklärungsarbeit gerechnet werden soll. Jener zweite Schritt verlangt ernstes Vertiefen in Werke der einschlägigen Literatur; nicht jede Frau wird Zeit erübrigen, ihn sich gestatten zu können, selbst dann, wenn sie Verständnis für seine Notwendigkeit hat. Bis zur Berechtigung, für die Interessen einer Partei eintreten zu können, ist der Weg weit.

Jede Lernende sollte den ihr gebotenen Lehrstoff zunächst unparteiisch „neutral“ durchdringen. Um das so Gewonnene kristallisiert sich dann eine eigene Überzeugung, die zu einer politischen Parteistellung berechtigt, welcher Art sie auch immer sein möge. Begeisterung und Schulung müssen sich einen. Flüchtig zusammengetragenes kann verhängnisvoll werden. Nirgends ist, wer überall ist.

Je rascher sich jede Frau der Gefahr bewusst wird, in die auch sie ihr Vaterland stürzen kann, je ruhiger sie sich gleich heute in die Arbeit eingräbt, aus der heraus sie das ihr echt Erscheinende zu erforschen hat, je mehr gewinnt sie für ihr eigenes Verständnis und damit für ihre Wahlfähigkeit.

Eine von Gegensätzen und Hader zerrissene Zeit, wie die, durch die unser Volk jetzt hindurch muss, kann nicht ernst genug genommen werden. Ernst nehmen aber ist nicht gleichbedeutend mit schwarz sehen. Ernst sehen bedeutet: trotz allem nicht tatenlos Verlorenem nachtrauern, sondern mutvoll an neu zu Erringendes glauben und bereit bleiben, es mit zu gewinnen.

Keine Frau glaube, dass sie von den augenblicklichen Weltereignissen nicht mit abhängig sei, sie sei dem bereits lebend zu den Toten zu zählen.

Gerechter Groll, Nervosität, Empörung, Maßlosigkeit täuschen leicht über die rechten Wege, die ein Volk retten können. „Im Verlauf des Kampfes ist es leicht möglich, dass die Stärke hast werde, und die Freiheitsfreunde zu Unterdrückern. (Ellen Key). Anstelle der Bedeutungslosigkeit des Individuums ist die ungeheure Bedeutung jedes einzelnen getreten. Nicht auf bekannte und berühmte Frauen kommt es an, sondern auf die vielen unbekannten, ungenannten.“ -

Nur jetzt keine Lauheit! Nur jetzt Wesentliches von Unwesentlichem trennen! Nur jetzt nicht wartend zusehen! Die Zeit ist Kurz; hoffen wir, dass sie nicht zu kurz ist, schlummernde Begabungen emporzureißen.

Ernten, was man nicht gesät hat, verpflichteten hundertfach. Ein neuer Abschnitt hat in der Geschichte der Frau begonnen. Sie weiß, dass sie viel gewonnen; wie viel, darüber werden die entscheiden, die nach uns kommen – nicht die von heute, nicht die von morgen.

Für die eigene Entwicklung des Frauengeschlechtes wird das Stimmrecht von hoher Bedeutung sein. Die Wirklichkeit hat bewiesen, dass Frauen, obwohl sie die Universität absolvierten und dann lange schon in ihrem Fach arbeiteten, nichts von dem einzubüßen brauchten, was wir „das Seelenvolle“ nennen, auch nicht Frische und Freudigkeit und Sonnigkeit verlieren mussten, und dass sich ihre Art des Fühlens nicht vergröberte, wie sehr sie auch an Denkmut und an Sicherheit gewannen.

Die gewaltigste Revolution, die idealste Republik wird nichts an der Tatsache ändern: Menschen werden im Strom des Lebens getrieben, gestoßen, weitergeschoben ja nach Wind und Wellen.

Dies Bewusstsein aber soll uns nicht hindern, am Streben der leidenden und lebenden Menschheit mit glühendem Herzen soweit es in eigenen Kräften steht, tätig teilzunehmen. Wertvoller noch als das Leben ist der Kampf für das Recht. Nur wer die grandiose Idee des Rechtes erfasst hat, wird freudig erfüllt sein – trotz der furchtbaren Schwere dieser Zeit – dass den Frauen ein Recht gegeben wurde, ein Recht, dass sie zur mitverantwortlichen Bürgerin des Staates macht. (Minna Cauer).

Noch können wir nicht von Dauerndem oder Festgefügtem sprechen, aber nie mehr werden über Frauenlippen Worte so wilder, leidenschaftlicher Anklage dringen, wie die der Dichterin Eleonore Kalkowska:

„Man tat uns dieses an und frug uns nicht!
Den großen Tot beschlossen alle Lande
Und uns, frug man nicht! - -

Und in einer Vision glaube ich Millionen Frauenhände sich wie zum Schwure heben zu sehen:

„Wir wollen es mit Hand und Mund verhindern,
Das solche Blutzeit unseren Kindeskindern
Noch einmal wird.“ F. M.

1. Geleitworte
2. Aus Erfahrung
3. Was ist eine Wahl
4. Was ist Wahlpflicht?
5. Wie ist unser Wahlrecht beschaffen?
6. Das Wahlverfahren
7. Die Wahlhandlung
8. Wahlvergehen
9. Die Wahlbeteiligung
10. Die Nationalversammlung

Was jede Frau vom Wahlrecht wissen sollte, Titel

Was jede Frau vom Wahlrecht wissen sollte, Titel

Was jede Frau vom Wahlrecht wissen sollte, Widmung

Was jede Frau vom Wahlrecht wissen sollte, Widmung

Was jede Frau vom Wahlrecht wissen sollte, Geleitworte 1

Was jede Frau vom Wahlrecht wissen sollte, Geleitworte 1

Was jede Frau vom Wahlrecht wissen sollte, Geleitworte 2

Was jede Frau vom Wahlrecht wissen sollte, Geleitworte 2

Was jede Frau vom Wahlrecht wissen sollte, Geleitworte 3

Was jede Frau vom Wahlrecht wissen sollte, Geleitworte 3

Was jede Frau vom Wahlrecht wissen sollte, Geleitworte 4

Was jede Frau vom Wahlrecht wissen sollte, Geleitworte 4

Was jede Frau vom Wahlrecht wissen sollte, Geleitworte 5

Was jede Frau vom Wahlrecht wissen sollte, Geleitworte 5

Was jede Frau vom Wahlrecht wissen sollte, Inhalt

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Berliner Wählerversammlung in den sechziger Jahren 1

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Berliner Wählerversammlung in den sechziger Jahren 2

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Die Massenversammlung, an der einsamen Pappel vor dem Schönhauser Tor am 26. März 1848

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Karrikatur auf die Gleichgültigkeit bürgerlicher Wähler, aus dem Kladderadatsch

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Spottbild auf die Reichstagswahlen 1877

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