III. Wie heilen wir?

Aus der Erfahrung wissen wir, dass der menschliche Körper durch eigene Kraft jede Krankheit zu überwinden imstande ist: es gibt keine einzige Krankheit, welche nicht unter Umständen auf natürlichem Wege zur Heilung gelangte. Die Art und Weise dieser Selbstverteidigung des Körpers gegen Krankheitserreger und ihrer endlichen Besiegung durch die natürlichen Kräfte des Körpers muss nun auch für unsere Heilkunst die Grundlage abgeben.

Was wissen wir von den natürlichen Heilprozessen? Obgleich zu keinen Zeiten ein Beobachter mit gesundem Menschenverstände und hinlänglicher Erfahrung an der Thatsache der Naturheilung zweifelte, so haben uns doch erst die letzten Jahrzehnte einen besseren Einblick in diese Verhältnisse gebracht. Wir kennen heute verschiedene natürliche Heilvorgänge *): 1) die Alexie Buchner’s, d. h. die Fähigkeit des alle Gewebe durchtränkenden Blutserums, Mikrobien abzutöten. Wahrscheinlich ist diese Fähigkeit an einen bestimmten Stoff gebunden; 2) die Phagocytose Metschnikoff s, die vielleicht mit der vorigen Eigenschaft zusammenhängt, indem die Phagocyten mit dem Stoffe der Alexie, dem hypothetischen Alexin, arbeiten; 3) die antitoxischen, d. h. direkt giftzerstörenden Stoffe, welche vom Körper gegen jedes längere Zeit im Organismus anwesende oder sich daselbst bildende Gift besonders präpariert werden (Behring); 4) die immunisierenden Stoffe, welche die noch intakten Gewebe infektions- und giftfest machen (Buchner); 5) die natürlichen Ausscheidungs- und Evakuierungsvorgänge des Körpers: Expektoration, Diaphorese, Diurese, Erbrechen, Abführen und einige sonstige Drüsentätigkeiten; 6) die Neubildung von Gewebe, meistens allerdings nur von Bindegewebe.


Die Kräfte von 1) bis 4) könnte man unter dem Namen der alektischen zusammenfassen, jene von 5) aber evakuierende nennen.

*) Diese natürlichen Heilkräfte sind keineswegs endgültig erforscht, worauf, es aber bei unserer allgemeinen philosophischen Betrachtung nicht ankommt.

Wir können nun einige dieser Kräfte durch unsere künstlichen Heilverfahren direkt unterstützen, besonders die evakuierenden. Auf die alektischen Kräfte können wir im allgemeinen keinen direkten Einfluss ausüben. Wir müssen sie vielmehr entweder sich selbst überlassen, oder sie auf indirektem Wege verstärken.

Diesen indirekten Weg schlagen wir bei unserem Heilen vielfach ein. Um ihn verstehen zu lernen, müssen wir das Naturgesetz der Kompensation heranziehen, welches mit dem R. Mayer’schen Gesetze der Erhaltung der Energie zusammenhängt. Dieses Kompensationsgesetz, welches Goethe und der ältere Geoffroy St. Hilaire fast gleichzeitig entdeckt haben*), hat Goethe mit folgenden Worten ebenso einfach wie klar ausgedrückt: „Die Natur ist genötigt, auf der einen Seite zu ökonomisieren, um auf der anderen mehr geben zu können“.

*) Nach Darwin’s „Entstehung der Arten“, übersetzt von Victor Garns, Seite 171.

Wie bei allen organisierten Gebilden, so können auch in unserem Körper sich alle Kräfte gegenseitig mehr oder weniger ersetzen, und indem bei einigen derselben gespart wird, kann ein größerer Teil der vorhandenen Energie zur Betätigung der natürlichen Heilbestrebungen verwandt werden.

Zur näheren Bekanntschaft mit diesen Vorgängen müsste man die Physiologie des Menschen zu Rate ziehen und sie zuerst fragen, welches die Einnahmen und Ausgaben des menschlichen Organismus sind? Leider ist aber dieser Zweig der Medizin zur Beantwortung unserer Frage heutzutage noch nicht reif. Außer der noch schwankenden Kenntnis von den Quellen der Muskelkraft, der tierischen Wärme und anderen Lebensäußerungen, sind es besonders die alektischen Kräfte, welche als Ausgaben des Organismus von der Physiologie noch gar nicht berücksichtigt wurden. Und so müssen wir vorläufig auf die Mithilfe der Physiologie mehr oder weniger verzichten und uns bei unserem Gegenstande vielfach auf Vermutungen beschränken. Im großen und ganzen mögen wohl Nahrungs- und Sauerstoff-Aufnahme die Haupt-Einnahmequellen des Körpers darstellen, zu denen sich vielleicht noch äußere Wärme, Licht, osmotische Kräfte, Elektrizität und Magnetismus (?) gesellen.

Diesen Einnahmen gegenüber sind die Ausgaben unseres Körpers wohl hauptsächlich folgende: 1) die alektischen Tätigkeiten und Stoffe, 2) die Drüsenfunktionen, 3) der Aufwand von Muskel- und Nervenkraft, 4) die Verdauung, 5) die Wärme- und Feuchtigkeitsregulierung, 6) der Ersatz aller übrigen Körpergewebe.

Es erhellt, dass, wie in jedem Organismus, so auch im Körper des Menschen Einnahmen und Ausgaben sich die Wage halten müssen. Wenn also unser Organismus arbeiten, denken, sich warm halten, verdauen, allen von außen kommenden Schädlichkeiten Trotz bieten soll, so muss er genügend mit Nahrung und Sauerstoff versehen sein. Soweit ist die Sache wohl dem Leser an sich klar. Aber weiter: auch die Ausgaben scheinen unter einander in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnisse zu stehen“ und zwar dergestalt, dass, wenn eine derselben im besonderen Grade in Anspruch genommen wird, die anderen sich zugunsten der ersteren Einschränkungen auferlegen müssen. Beispiele: bei angestrengter geistiger oder körperlicher Arbeit funktioniert die Verdauung ungenügend; die Kleidung hat eine Kostsparende Wirkung (Rubner); bei Tieren kann man durch Überhitzung, Übermüdung u. s. w. Infektion erzeugen; bei Kälte wächst unser Nahrungs- und Sauerstoffbedürfnis, liegt dabei aber die Verdauung darnieder, so tritt oft ein Defizit ein, welches sich unter Umständen in mangelhafter Alexie (Erkältungsinfektion) äußern kann; bei starker Inanspruchnahme der nervösen und alektischen Tätigkeit (Geistesarbeiter in verdorbener, mikrobienreicher Luft) erfordert der Körper eine sehr reiche und sorgfältig ausgewählte Ernährung; beim Leben in freier Luft funktionieren sämtliche Kräfte besser, als in engen Quartieren u. s. w.

Einer meiner Kritiker hat mir (in No. 5/6 dieser Zeitschrift) die Frage entgegengehalten: Warum sinkt denn beim Typhus und verwandten Infektionskrankheiten die Bluttemperatur nicht? Dadurch würden doch die Regulierungskräfte frei und könnten zur Alexie verwandt werden? Ja, so schematisch arbeitet, unser Organismus denn doch nicht; seine Maßregeln lassen sich nicht in der Weise von uns voraussagen, dass man in jedem Falle beim Wachsen einer Ausgabe das Abnehmen aller anderen und das Zunehmen jeder Einnahme erwarten könne. Dazu ist der gesamte Kompensationsvorgang in einem lebenden Organismus doch zu kompliziert. Auch müssen wir im Falle der fieberhaften Erkrankungen vielleicht annehmen, dass die Temperaturerhöhung eine wertvolle Maßnahme des Organismus im Kampfe gegen die Infektion darstellt.

Ferner existieren zwischen einzelnen Einnahmen und Ausgaben offenbar stärkere Wechselbeziehungen, als zwischen anderen, z. B. zwischen Temperaturregelung und Alexie, worauf meiner Ansicht nach das Wesen der Erkältung beruht. Einige der vielen Kräfte mögen sich auch wohl gegenseitig nur wenig, oder selbst gar nicht kompensieren. Natürlich bin ich nicht imstande, diese eigenartigen, stärker ausgeprägten Wechselbeziehungen zwischen einzelnen Einnahmen und Ausgaben und zwischen einzelnen Ausgaben unter sich zu erklären; wir müssen sie eben vorläufig als vorhanden hinnehmen. Doch kann ich ein Analogon zu ihnen anführen: die sexuellen Korrelationen Darwin’s, bei denen ebenfalls zwischen bestimmten Körperfunktionen, und dazu zwischen bestimmten Organen, ausgeprägte Wechselbeziehungen bestehen, auf deren nähere Erklärung bis jetzt wohl jeder Naturforscher verzichtet.

Auch will ich hier nicht unterlassen zu erwähnen, dass die Kompensation in den Organismen bei guter Gesundheit und voller Kraft des Individuums sich wenig bemerkbar macht. Erst zur Zeit mangelnder Kräfte tritt sie deutlicher in Erscheinung, wie Untiefen und Strömungen des Meeres zur Ebbezeit. Viele Kräfte in der Natur entziehen sich bekanntlich auch dem ungeübteren Blicke, indem sie für gewöhnlich von anderen Erscheinungen oder von entgegenwirkenden Kräften verdeckt werden. So kam es wohl, dass man bis jetzt dem allgemeinen Naturgesetze der Kompensation in der Heilkunde so wenig Aufmerksamkeit schenkte.

Jeder Körper besitzt also in jedem Augenblick eine bestimmte Summe von Lebensenergie*) die ihre Einnahmen und Ausgaben hat, welche sich stets die Wage halten. Die Äußerungen dieser Lebensenergie können sich vielfach gegenseitig ersetzen und vertreten. Ich nenne dieses Gesetz, welches ich zum Verständnisse des Heilens für äußerst wichtig halte, „das Gesetz der Äquivalenz und der Kompensation aller Äußerungen der Lebensenergie“. Mit diesen Worten glaube ich in verständlicher Weise zweierlei auszudrücken: erstens, dass gewisse Lebensäußerungen unseres Körpers sich unter einander vertreten und kompensieren können, und zweitens, dass zu dieser Vertretung als notwendige Voraussetzung (weshalb ich auch die Äquivalenz vor der Kompensation nenne) eine Verwandtschaft jener verschiedenen Lebensäußerungen unter sich besteht. Deshalb nenne ich sie „äquivalent“. Sie mögen nach einer hypothetischen Vorstellung aus derselben Quelle, eben der Lebensenergie, fließen.

*) Ich würde ohne Bedenken das Wort „Lebenskraft“ gebrauchen, wenn ich nicht fürchten müsste, missverstanden zu werden. Vgl. Seite 29 meines Buches.

Es ist nun überraschend, zu sehen, wie die Menschheit beim Heilen von Krankheiten seit jeher instinktiv von diesem meinen Grundgesetze des Heilens Gebrauch macht.

Im allgemeinen hält man nämlich folgende Maßregeln zum Heilen von Krankheiten für geeignet: 1) eine gleichmäßige, mittlere Temperatur und einen mittleren Feuchtigkeitsgrad der Luft, indem hierdurch offenbar die betreffenden Regulierungskräfte des Körpers gespart werden; 2) Ruhe der Muskeln und der Nervensubstanz, in schwereren Krankheiten sogar Dunkelheit, zum möglichst vollkommenen Ausruhen der durch die Gesichtseindrücke eingeleiteten Hirnarbeit (Schlaf); 3) leichtverdauliche Kost, um Verdauungskräfte zu sparen (Diät); 4) möglichstes Fernhalten aller Saprophyten. Dieser letztere Punkt ist wohl der wichtigste von allen. Um dieses zu verstehen, muss man sich erinnern, dass unser Körper unter den gewöhnlichen Verhältnissen auf Haut und Schleimhäuten von einer sehr großen Menge von Saprophyten und deren Giften ungünstig beeinflusst wird. Diese schädigende Wirkung können wir nun ausschalten oder doch wenigstens bedeutend verringern: durch Reinlichkeit im weitesten Sinne. Dieser Weg des Heilens (und gleichzeitig einer erfolgreichen Prophylaxe gegen die meisten Krankheiten) ist uns unter dem Namen der hygienischen Heilmethoden bekannt. Es gehören hierzu nach meiner Auffassung: Waschen und Baden, reine Atemluft, reine Wäsche und Kleidung, reines Trinkwasser, ausgewählte und gutzubereitete Nahrung.

Die hygienischen, d. h. gegen die Saprophyten und deren Gifte gerichteten, Maßregeln wirken aber noch in einer anderen Weise gegen die Krankheit günstig. Nicht nur, dass sie viele alektische Kräfte und Stoffe sparen, welche dann zum Kampfe gegen die eigentlichen Krankheitserreger verwandt werden können, so wissen wir heute auch, dass die Saprophyten*) sich mit vielen Infektionserregern in der Art komplizieren, dass wir meist nicht einmal sagen können, wie weit gewisse Krankheitssymptome von den pathogenen Mikrobien, wie weit von den begleitenden Saprophyten verursacht werden.

Nach meiner Auffassung beruht nicht nur die Wirkung der klimatischen Kurorte, sondern auch der meisten Bäder auf der Verminderung, oft auch nur Modifikation der Haut- und Schleimhaut-Saprophyten. Um nicht missverstanden zu werden, will ich hierbei aber ausdrücklich bemerken, dass ich auch die sonstigen physiologischen Wirkungen von frischer Luft, Bädern und Trinkkuren, auf welche bisher der Hauptwert gelegt wurde, anerkenne, z. B. die Stoffwechsel-beschleunigende Wirkung. Aber nur durch meine Saprophyten-Hypothese, zusammen mit meiner Gift-Theorie über die Entstehungsart sämtlicher Krankheiten, kann ich mir ungezwungen die anfangs so paradox erscheinende Tatsache erklären, dass die verschiedensten klimatischen Kurorte und die verschiedensten Bade- und Trinkquellen mit Erfolg gegen die anscheinend heterogensten Leiden gebraucht werden.

*) Alle Saprophyten produzieren Gifte. Siehe mein Referat über Centanni’s Untersuchungen, Nr. 13 des „Ärztlichen Praktiker“.

In der Atemluft spielt außer den Saprophyten, welche den schädlichsten Bestandteil jedes Staubes ausmachen, auch der nichtorganisierte Staub in mehrfacher Hinsicht eine Rolle: er kann durch Läsion der Atemschleimhaut zur Infektion führen; er kann sich auf den Schleimhäuten zersetzen und für Saprophyten einen günstigen Nährboden bilden; er kann die Flimmertätigkeit der Atmungsorgane in schädigender Weise in Anspruch nehmen.

Auf der Wirksamkeit des in der Blutflüssigkeit vorhandenen Alexins gegen die krankmachenden Gifte und auf der der Antitoxine beruhen ferner die Heilmethoden der Massage und der Heilgymnastik, sowie der hygienische Wert der Muskelarbeit, indem durch alle diese aktiven und passiven Bewegungen und Manipulationen Gewebsverschiebungen bewirkt werden, welche die Schutz- und Heilstoffe der Körpersäfte mit den Krankheitserregern und Giften in direkten Kontakt bringen.

Es wird die Einsichtsvollen nicht wunder nehmen, dass ich als heilende Kraft im Anfange meiner therapeutischen Betrachtungen „Ruhe“, später aber auch „Muskeltätigkeit“ angeführt habe. Wir kennen noch mehrere äußere Agentien, sowie viele Arzneien, welche zweierlei Wirkungen in sich bergen, eine heilsame und eine schädliche. Auch die Kälte gehört zu diesen Einflüssen, indem sie einmal durch Herabsetzung der Blutwärme schädlich wirkt, dann aber auch nützlich durch Nervenkräftigung und sogar durch Anregung der Wärmebildung im Organismus. Diese zweischneidigen Mittel zur rechten Zeit und am rechten Orte anzuwenden, so dass stets die günstige Seite ihrer Natur zur Hauptwirkung gelangt und den Ausschlag giebt, ist Sache der Erfahrung und nicht zum mindesten des Taktgefühls des geborenen Heilkünstlers.

Wenn wir als Arzneimittel diejenigen Stoffe zu unserer Verfügung hätten, welche der Körper selbst als Gegengifte präpariert, so brauchten wir diese nur in die Blutbahn des erkrankten Körpers zu bringen und die Heilwirkung abzuwarten. Eine solche Kur würde dann allen Anforderungen genügen, welche wir billigerweise stellen könnten; es wäre eine dem natürlichen Heilvorgange entsprechende, eine ideale. Bekanntlich arbeiten heute hunderte von rastlosen und ehrgeizigen Forschern in dieser Richtung, und es genügt, an dieser Stelle der künstlichen Immunisierung, der Blutserum-Therapie und verwandten Methoden ihren Platz angewiesen zu haben.

In ähnlicher Weise wie die Antitoxine wirkt diejenige große Abteilung unserer Medikamente, welche wir Antiseptica nennen. In vielen Fällen wirken sie gewiss direkt tötend auf Mikroparasiten; in den meisten Fällen aber nur entwickelungshemmend. Auch ist in anderen Fällen eine immunisierende Wirkung auf die Körpergewebe wahrscheinlich, die man sich wie die imprägnierende Kraft des Kreosots zur Konservierung von Holz gegen Pilze vorstellen kann. In vielen Fällen kombinieren sich offenbar antibakterielle und immunisierende Wirkungen. Zur Gruppe der Antiseptica gehört nach meiner Auffassung ein viel größerer Teil der Mittel unseres Arzneischatzes, als man für gewöhnlich annimmt.

Von einer Bakteriengift-zerstörenden Wirkung unserer gebräuchlichen Heilmittel weiß man noch viel weniger, als von einer Bakterienzerstörenden. Doch zweifle ich nicht daran, dass viele unserer sogenannten Antipyretica hierher gehören, deren Temperatur-herabsetzende Wirkung man wohl oft mit Unrecht für eine direkte ansieht.

Die „Innere Antisepsis“ unserer Therapie stelle ich mir in vielen Fällen als eine Heilwirkung vor, welche auf ähnliche Weise zustande kommt, wie bei den hygienischen Methoden. Sie wirkt dann hauptsächlich durch Einschränkung des Saprophyten-Wachstums im Darmkanal. Besonders scheinen die längs des Darmkanals liegenden Drüsen, Gefäße und sonstigen Teile durch die innere Antisepsis günstig beeinflusst zu werden.

Auf den ersten Blick könnte es befremdend erscheinen, warum bei dem Reichtum der uns zur Verfügung stehenden Antiseptica, Desinficientia und Antipyretica und überdies bei den verschiedenen Angriffs-Modi derselben auf die Krankheitserreger die Heilkraft ersterer doch so oft zu wünschen übrig lässt: man vergesse aber nicht, dass wir es meist mit Mikrobien, also mit organisierten Wesen zu thun haben, welche im Kampfe ums Dasein wirksame Schutzmittel erwarben und sich gewöhnlich wohl fest und innig in den von ihnen befallenen Geweben eingenistet haben.

Groß ist die Reihe jener Heilmittel, welche die evakuierenden Tätigkeiten des Körpers unterstützen und vermehren: Diuretica, Diaphoretica u. s. w. Oft haben sie gleichzeitig eine antiseptische Wirkung, z. B. durch ätherische Öle, wie ja natürlich sehr viele Heilmittel und Methoden zu mehreren der von mir aufgestellten Rubriken gemeinschaftlich zählen können.

Dann seien genannt: die nervenberuhigenden und damit Nervenkraftsparenden Alkaioide und die nervenstärkenden Mittel, zu welchen bei geeigneter Anwendung auch die Kälte gehört; die Excitantia und Tonica. Beim Daniederliegen der Verdauung sind oft die Sparmittel (Alkohol) von großem Werte.

Wenn wir die bisher erwähnten Gruppen von Heilmitteln meist zur kausalen oder ätiologischen Therapie rechnen müssen, so bleibt uns nun diejenige Reihe von Medikamenten und Heilmethoden zu betrachten übrig, welche wir symptomatische nennen. Man darf nicht glauben, dass dieselben auf die Krankheit selbst keinen Einfluss ausüben könnten, sondern etwa nur zur Linderung irgend welcher quälender Erscheinungen dienten. Vielmehr sind sie, wenn auch meist von geringerer Bedeutung als die kausalen Mittel, doch in vielen Fällen wichtige Heilmittel. Jeder Praktiker wird zugeben müssen, dass oft durch Ausschaltung eines effektvollen Gliedes in dem Circulus Causarum der ganze Krankheitsprozess zum Stillstande gebracht wird. Auch darf man sich eine länger anhaltende Krankheit mit ihrem Anfangsgliede der Giftwirkung nicht lediglich als direkten Folgezustand der letzteren denken. Vielmehr können wir es schließlich bei vollständigem Schwinden des ersten Reizes nur mehr mit Folgen zweiten, dritten u. s. w. Grades zu thun haben. Man könnte dann einen solchen chronischen Krankheitszustand mit einer Kletterpflanze vergleichen, deren anfangs im Erdboden haftende Wurzeln längst abgestorben sind, und welche nun teils aus der früher erworbenen Kraft, teils aus neu aufgesuchten Nährquellen sich weiter erhält. Bei diesem Vergleiche will ich mich aber sogleich vor der Anschuldigung verwahren, als glaubte ich an ein Krankheitswesen, ein Ens morbi. Das tue ich keineswegs. Dennoch kann ich die Tatsache nicht verleugnen, dass bei einer chronischen oder sekundären Krankheit schließlich das Gift selbst aus dem Körper eliminiert sein kann, und doch seine Wirkungen sich noch durch gewisse Veränderungen des Körpergewebes bemerkbar machen, die erst nach Jahren, Jahrzehnten oder selbst gar nicht mehr sich ausgleichen.

Auf welchem Wege die Heilung durch Suggestion erfolgt, das wissen wir noch nicht. Aber auch dieses wichtige Heilmittel der verschiedensten Krankheiten, welches die Kuren eines Vertrauen einflössenden Arztes so vielfach unterstützt, scheint mir für meine Grundanschauung zu sprechen, dass Gesundheit ein Gleichgewichtszustand unseres Körpers sei, welchen derselbe durch sich selbst — bei der Suggestion auf dem Wege des allmächtigen Nervensystems — wieder zu erlangen bestrebt ist; dass Krankheit jedoch eine Störung dieses Gleichgewichts sei, die durch äußere Schädlichkeiten (wohl stets Gifte) hervorgerufen wird.

Keinesfalls maße ich mir an, mit Vorstehendem fertige und feste Regeln für unser therapeutisches Handeln gegeben zu haben. Die Empirie wird auch weiterhin ihr Recht behalten. Aber wenigstens ein besseres theoretisches Verständnis für unsere bisher gar zu sehr in der Luft schwebenden Heilmittel und Methoden wird sich, wie ich zuversichtlich hoffe, gewinnen lassen.

Die Heilkunde ist bis jetzt nichts als ein halbwildes Ackerland, im besten Falle ein Versuchsfeld der verschiedensten Spekulationen. Wenn es jemandem gelingen würde, naturwissenschaftliche (besonders biologische und transformistische) Anschauungen in ihr einzubürgern, so würde er damit den Boden der Medizin zugleich umpflügen und neu besäen, und man könnte hoffen, dass mit der Zeit eine fruchtbringende Saat der Therapie aufsprieße. So weit meine Kräfte reichen, glaube ich wenigstens einen Versuch in dieser Richtung gemacht zu haben.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Was ist Krankheit, und wie heilen wir?