II. Was ist Krankheit?

Im vorstehenden Abschnitte haben wir uns mit der Frage nach der Entstehungsart einer Krankheit beschäftigt. Doch haben wir damit nicht den Begriff „Krankheit“ erschöpft; zur Vervollständigung desselben gehört vielmehr noch eine Reihe besonderer Erscheinungen, welche teils direkte oder indirekte Folgen des Giftreizes sind, teils vom Körper selbst als Reaktion gegen den Reiz, im allgemeinen also wohl gegen das Gift, unternommen werden. Beide Arten von Erscheinungen lassen sich aber nicht von einander trennen, und viele Krankheitssymptome können sogar mit demselben Recht als Reizwirkung des Giftes wie als Reaktionserscheinungen des Körpers gegen das Gift aufgefasst werden.

Als wertvollstes Resultat der neueren biologischen Forschung gilt der Satz, dass jeder Organismus alle an ihn herantretenden Reize in einer ganz besonderen Weise beantwortet, dass er als Reaktion gegen dieselben bestimmte (meist zweckmässige) unbewusste Handlungen unternimmt. Auf die menschliche Pathologie übertragen lautet dieser Satz: Unser Körper reagiert auf jedes Gift unbewusst in ganz bestimmter Weise und ein Teil dieser Reaktionen dient zur Entfernung oder Unschädlichmachung des Reizes und seiner Folgen (ist „zweckmässig“).


Ich habe vorhin nicht ohne Grund einerseits zwischen den direkten und indirekten Folgen des Giftreizes, andererseits zwischen den Reaktionen des gereizten Organismus unterschieden. Von letzteren kann man nämlich im allgemeinen sagen, dass sie zum Nutzen des erkrankten Körpers dienen, sei es, dass sie den Reiz selbst zu bekämpfen imstande sind, wie die Entzündung mit der Phagocytose, sei es, dass sie für den Körper Zustände schaffen, unter denen er besondere Aussichten hat, sich bei pathologischen Lebensbedingungen zu erhalten, wie es zum Beispiel bei den „Metamorphosen“ der Fall zu sein scheint.

Aber die erstere Reihe von Symptomen, die ich als direkte oder indirekte Folgen des Giftreizes bezeichnet habe, dienen nicht dem angegriffenen, sondern oft dem angreifenden Teile, indem sie ungünstige Lebensbedingungen der Gewebe schaffen, welche die lokale Läsion oder Disposition noch verstärken. Zu diesen Symptomen gehört die Stauung und Gerinnung des Blutes, die Anämie, vor allem aber die Gewebsnekrose. Sehr oft trifft in dieser Weise auch die Erscheinung ein, dass eine Mikrobienart einer zweiten den Boden vorbereitet, wie das z. B. bei der Eiweißfäulnis der Fall ist, wo immer eine Bakterienart die andere ablöst. Diese Erscheinung nennt man in der Pathologie Misch- und Sekundär-Infektion. So können auch Gifte nicht-mikrobiotischer Natur die Gewebe schwächen und für Mikrobien vorbereiten, wie z. B. unpassende Antiseptica bei der Wundbehandlung und bei der Blasen-Irrigation.

Diese verschiedenen Symptome, mögen sie nun zum Nutzen der angreifenden Mikrobien und zur Beschleunigung der Giftwirkung dienen, oder mögen sie dem erkrankten Körper von Vorteil sein, oder mögen sie endlich indifferenter Natur oder von noch unbekannter Wirkung (wie das Fieber) sein, stets machen sie den wesentlichsten Teil des Krankheitsbildes aus, wie es für unsere Sinne in Erscheinung tritt.

Nehmen wir irgend ein Lehrbuch der speziellen Pathologie zur Hand, und lesen wir die Hauptsymptome einer beliebigen Krankheit, so finden wir fast nur Folgeerscheinungen des Reizes beschrieben, besonders aber jene Erscheinungen, welche zur Reaktion des Körpers, als eines lebenden Organismus, auf jene bestimmten Krankheits-Reize gehören. Alle Vorgänge aber, welche in dem vorigen Abschnitte beschrieben wurden (die eigentliche Infektion oder Intoxikation) finden wir fast nie erwähnt. Woher kommt dies? Sie sind erstens in ihren Anfangen wohl stets zeitlich und örtlich sehr beschränkt, und dann sind sie überhaupt ihrer Natur nach nicht geeignet, von unseren Sinnen wahrgenommen zu werden. So ist es auch zu erklären, dass sie uns lange Zeit gänzlich verborgen blieben, und dass wir sie auch jetzt noch meist nur aus ihren Folgen erkennen können, wie dieses ja außer von den Krankheiten auch von vielen sonstigen Erscheinungen des täglichen Lebens gilt. Auch lässt sich ohne weiteres behaupten, dass ein Stoff, auf welchen der lebende Körper nicht in wahrnehmbarer Weise reagiert, kein Gift genannt werden könnte, dass also ohne jene, durch den Reiz hervorgerufenen, obschon sekundären Erscheinungen keine Krankheit gedacht werden kann.

Aber nicht nur die klinischen Erscheinungen, die Symptomatologie, sondern auch die pathologisch-anatomischen Veränderungen, welche wir teils mit bloßem Auge, teils mit dem Mikroskop zu erkennen gelernt haben, gehören zum größten Teile zu diesen Folgezuständen und Reaktionen. Wer wollte das heutzutage noch leugnen?

Vergegenwärtigen wir uns alle diese Erscheinungen und Veränderungen, denken wir an die Symptome von Schmerz, Anästhesie, Ohnmacht, Krampf, Lähmung, Schwäche, Fieber, Frost, ferner an Schwellung, Blutandrang, Blutleere, Entzündung mit oder ohne Eiterung, Katarrhe und Ergüsse, Nekrosen und Nekrobiosen, Atrophien und Hypertrophien, verminderte und vermehrte Sekretionen, kurz alle subjektiven und objektiven Erscheinungen und pathologischen Befunde, so müssen wir uns darüber klar werden, dass alles dieses, was wir gewohnt sind, Krankheit zu nennen, größtenteils nur Folgen der pathologischen Reize und Reaktionen des Organismus gegen dieselben darstellen.

Nur in den seltensten Fällen gelingt es uns, das Gift durch Überimpfung auf andere Körperstellen, auf andere menschliche Individuen oder auf Versuchstiere in seiner spezifischen oder einer modifizierten Wirkungsart zur Veranschaulichung zu bringen, und noch seltener, es aus den Geweben mehr oder weniger chemisch rein darzustellen. In vielen Fällen ist sogar der Erfolg solcher Versuche von vornherein dadurch ausgeschlossen, dass wir es nicht mehr mit dem ersten Stadium seiner freien Anwesenheit in den Geweben zu thun haben, sondern nur noch mit den von ihm veränderten Organen, z. B. Metamorphosen, Degenerationen u. s. w.

Möge ein jeder meiner Leser die Probe machen und sich eine beliebige Krankheit vergegenwärtigen, so wird er finden, dass zum sogenannten klinischen Bilde derselben nur jene Erscheinungen gehören, welche tatsächlich die Folgen des Giftreizes oder Reaktionen des lebenden Körpers gegen den Reiz darstellen. Ich spare hier den Raum, den die Anführung von Beispielen ausfüllen würde, und schließe dieses Kapitel mit den Sätzen: Das, was wir gewohnt sind, Krankheit zu nennen, ist eine Mehrheit von Symptomen oder Erscheinungen, welche durch einen Reiz — so viel wir bis jetzt wissen, stets einen Giftreiz — direkt oder indirekt an einem lebenden Körper oder einzelnen seiner Organe und Gewebe ausgelöst werden. Und diese Symptome können bestehen: erstens in Schädigungen des Körpers oder einzelner seiner Organe, welche von Mikrobien und Giften bewirkt werden und welche den Mikrobien vielfach Vorteile im Kampfe gegen den Körper gewähren; zweitens in Reaktionen des erkrankten Körpers, die zu seiner Verteidigung und zur Heilung dienen; drittens aber in indifferenten Erscheinungen oder doch in solchen nicht näher aufgeklärter Natur.

Die zweckmäßigen Reaktionen unter ihnen, die zur Heilung fuhren, hat der Körper und seine Gewebe offenbar im Laufe der phylogenetischen Entwickelung allmählich erlernt (erworbene Eigenschaften; nützliche Instinkte) ebenso wie die Mikrobien im Laufe der Aeonen die wirkungsvollen Methoden gelernt haben, mit denen sie unseren Körper bekämpfen, unter ihnen nicht in letzter Linie die Anwendung von Giften.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Was ist Krankheit, und wie heilen wir?