I. Wodurch entsteht Krankheit?

Noch vor wenigen Jahrzehnten konnte niemand behaupten, irgend ein Agens zu kennen, welches einen dauernden Krankheitszustand hervorrufe, mit alleiniger Ausnahme einiger Gifte; nur von einer bestimmten Reihe von tierischen, pflanzlichen und mineralischen Produkten und einigen Gasen wusste man, dass sie beim gesunden Menschen Krankheiten hervorbringen könnten und in genügender Dosis auch ausnahmslos hervorbrachten. Von allen anderen Krankheiten kannte man nicht die direkten Erreger, sondern höchstens solche Ursachen, welche in einigen Fällen anscheinend eine Krankheit hervorgebracht hatten, in anderen eine ganz verschiedene, in noch anderen aber gar keine. Wir nennen diese Momente heute „Gelegenheitsursachen“ (obgleich sie keine eigentlichen Ursachen sind) und wissen, dass die eigentlichen Erreger (Causae externae) einer Krankheit von ihnen sehr verschiedener Natur sind, die eigentlichen Ursachen aber (Causae internae) in dem Bau und inneren Eigenschaften unseres Körpers verborgen liegen (Hueppe).

Die bakteriologische Forschung lehrte uns nun in letzter Zeit eine Anzahl Gifte kennen, welche die meisten bisher gekannten an Wirksamkeit weit übertreffen. Aber trotz ihrer oft ins Fabelhafte gehenden Intensität ist die Aehnlichkeit in der Wirkungsart dieser Gifte, verglichen mit den früher bekannten, eine solch frappierende, dass man sich mit Recht wundern könnte, warum man nicht schon früher zu dem Wahrscheinlichkeitsschluss gelangt ist, dass alle oder doch die meisten Krankheiten von Giften verursacht werden. Denn hat nicht z. B. das Gift des Syphilis-Erregers in seinen Wirkungen auf gewisse Organe die größte Ähnlichkeit mit dem Quecksilber*), und zwar in dem Grade, dass eine Anzahl ernster und wohlmeinender Beobachter, dadurch getäuscht, sogar lehrten, die tertiäre Syphilis sei nichts als eine Merkurvergiftung? Kann jemandem, der je die akuten Folgen eines Schlangen- oder Skorpionsbisses beobachtet hat, die Ähnlichkeit mit dem Bilde eines Typhuskranken entgehen? Sind zwischen der Phosphor-Nekrose und einigen Bakteriengift-Nekrosen irgend welche belangreiche klinische oder anatomische Unterschiede vorhanden? Wird ein Arzt ohne Kenntnis der Nebenumstände und ohne chemische Untersuchung imstande sein, eine Arsenvergiftung von einem Cholerafall zu unterscheiden?


Was uns beim ersten Anblick als rätselhaft erschien, „das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis“, und wir haben es sogar schon in die festen Banden eines Gesetzes gezwungen: „Dasselbe Organ oder dasselbe Körpergewebe kann durch ganz verschiedene Krankheitserreger anatomisch und klinisch gleiche Veränderungen erfahren.“

Noch viel ähnlicher ist die Wirkung verschiedenartiger Bakteriengifte untereinander. Aus der Menge der bekannten Beispiele führe ich nur an, dass Knötchenbildung hervorgerufen werden kann durch die Erreger der Syphilis, Lepra, Tuberkulose, sowie durch Filarialarven; Eiterung durch die verschiedensten Kokken, durch die Tuberkel-, Typhus-, Milzbrand-Bazillen und viele andere Arten; Darmkatarrhe durch Spirillum Cholerae asiaticae, Bacterium Coli, Kokken und andere Mikrobien; Meningitis durch Pneumonie-Kokken, Tuberkelbazillen, mehrere sonstige Bazillenarten; das Symptom des Fiebers kann sogar durch sämtliche bis jetzt untersuchte Bakterien erzeugt werden, genauer gesagt durch einen chemischen Körper, welcher ihnen allen gemeinsam zukommt (als Pyrotoxina bacterica von Centanni**) benannt und beschrieben).

*) Auch der Grundgedanke der Homöopathie könnte dadurch einiges Verständnis gewinnen, und könnte man vielleicht die homöopathischen Karen ebenso wie die Quecksilberkuren der Syphilis als eine „Immunisierung“ der Gewebe auffassen.

**) Aus dem pathologischen Institute von Prof. Tizzoni zu Bologna von Gentanni mitgeteilt in No. 7 und 8 der „Deutsch, med. Wochenschr.“ Siehe mein Referat in No. 13 des „Ärztlichen Praktikers“.

Versuchen wir nun, von der großen Gruppe der sogenannten Infektionskrankheiten ein Totalbild zu entwerfen, so werden wir folgende drei, vorläufig noch auseinander zu haltende Abteilungen von Krankheiten ins Bereich unserer Krankheit ziehen müssen:

1) Solche, welche nach unseren heutigen Kenntnissen stets von den Giften bestimmter, mehr oder weniger gut studierter Mikrobien erzeugt werden: Milzbrand, Tuberkulose, Actinomyces, Lepra, Rotz, Scleroderma, Gonorrhoea, Diphtherie und Croup, Tetanus (und Trismus?) Typhoid, Rückfallfieber, die Gruppe der Malaria, Influenza, Pocken (?).

2) Diejenigen Infektionskrankheiten, welche mit großer Wahrscheinlichkeit (ex analogia) von Mikrobien, und in letzter Linie von deren Giften erregt werden. Hierher gehören: Beulenpest*), Flecktypbus, Syphilis, Scharlach, Masern, Wasserpocken, Röteln, Keuchhusten, akute gelbe Leberatrophie, Leukämie und Pseudo-Leukämie, Weil’sche Krankheit, Skorbut, Gelbfieber, Hundswut, Trachom, Ulcus molle, Noma, Klauenseuche, Heufieber und eine Anzahl exotischer Krankheiten.

3) Die dritte Abteilung endlich umfasst das ganze Heer derjenigen Entzündungen und Lokal Affektionen, welche (meist mit der Endsilbe itis bezeichnet) den verschiedensten Organen und Gewebsarten oft in lokal-eigentümlichen Formen zukommen, am Verdauungsschlauch anfangend mit Gingivitis und Stomatitis bis hinab zur Proctitis, am Respirationstraktus vom Nasenkatarrh bis zur Bronchiolitis und den Pneumonien. Ferner die verschiedenen Entzündungen der parenchymatösen Organe und Drüsen, der Schleim- und serösen Häute, mit ihren bekannten drei Stadien der Intensität (der epithelialen, mukösen oder serösen, der eitrigen und der diphtheritischen oder croupösen Entzündung), die Beinhaut-, Knochen-, Sehnenscheiden-, Muskel-, Haut-, Unterhautzellgewebe-, Arterienwand-, Venen- und Lymphgefäß-Entzündungen u. s. w., kurz aller bekannten Organe und Gewebe, mit Ausnahme vielleicht einiger reaktionsunfähiger, wie der elastischen Gewebe, des Knorpels und des Fettes. Diese ganze dritte Abteilung der Lokal -Affektionen kann nur insofern den Infektionskrankheiten beigezählt werden, als diese Leiden in der Mehrzahl der Fälle von Mikrobiengiften veranlasst werden. Doch können sie auch durch andere Gifte erregt werden, und muss man diese (seltenen) Fälle dann zu den eigentlichen Inoxikationen zählen.

*) Bei den meisten dieser Krankheiten sind schon bestimmte Mikrobien gefunden worden; doch konnten dieselben aus verschiedenen Gründen die Kriterien der heutigen Bakteriologie nicht erfüllen.

Gehen wir dann zu den größeren menschlichen Parasiten über (mit denen ein Lehrbuch der Pathologie des Menschen sehr logisch beginnen könnte), deren Gruppe durch das Verbindungsglied der Trichine mit den mikroskopischen Parasiten, den Mikrobien, verbunden ist, so ist zunächst zu bemerken, dass es immer wahrscheinlicher wird, dass auch die größeren Parasiten nur durch Giftentwickelung beim Lebensprozess (Trichine) oder beim Absterben (Bandwürmer) oder durch Veranlassung einer intensiven Nervenreizes, eines Trauma und einer sekundären Bakterien-Infektion (Spulwurm) zu ernsteren Störungen Veranlassung geben. Hierfür spricht außer der Kasuistik über gelegentliche Todesfälle besonders die Thatsache, dass die großen Darmparasiten in enormer Anzahl ohne irgend welche Störungen den Körper des Menschen bewohnen können.

Dann sei die Gruppe der Hautkrankheiten erwähnt, welche, soweit ersichtlich ist, besteht: erstens aus Infektionskrankheiten, welche sich von einem oder mehreren lokalen Herden aus verbreiten, und zweitens aus den nervösen, vasomotorischen und hämorrhagischen Formen, welche bestimmten Nerven- und Gefäss-Territorien entsprechen und wahrscheinlich auf Intoxikationen von Nervengewebe oder Blut beruhen.

Über die Geschwülste lässt sich vorläufig wenig Positives sagen, wenn auch eine bedeutende Anzahl von Ärzten und Zoologen die bei Krebsen vorgefundenen Gebilde für niederste Tiere hält*). Erwähnt sei nur, dass eine Art von Blasengeschwulst durch die Bilharzia hervorgerufen wird, dass Molluscum contagiosum von Mensch zu Mensch überimpft worden ist, und dass Warzen ansteckend sind. Vergessen wir aber weiterhin nicht die klinischen und anatomischen Erscheinungen der Geschwülste: ihre charakteristische Art der Lokalisation, ihre Metastasenbildung, ihr progressives Wachstum und überhaupt den Eindruck, den ihr ganzes Wesen hervorruft. Nehmen wir nun dazu alle unsere bekannten naturwissenschaftlichen Analogien, besonders die Gallenbildung im Pflanzenreiche, so zeigt es sich meiner Ansicht nach auch hier wieder, dass der Naturforscher weiter sieht, als der Arzt. Es erscheint mir nämlich kaum gewagt, schon jetzt auszusprechen, dass die Geschwülste Zellwucherungen darstellen, oft anaplastischer Natur**), verursacht durch den anhaltenden Reiz eines äußerst reizfähigen Giftes.

*) Nach Prof. Dr. Bibbert in Zürich (s. No. 15 der „Deutschep Med. Wochenschrift“) sind alle diese Gebilde, welche man bis jetzt für Mikrobien hielt, nur als Zell- und Kerndegenerationen aufzufassen. Aber, frage ich, woher jene Degenerationen? Entstehen sie ohne Ursache? Oder darf man nicht vielmehr ex analogia auf besondere Erreger derselben schließen, welche im Laufe der Zeit verbesserte Mikroskope und verfeinerte Technik wohl noch auffinden werden?

**) Auch im Pflanzenreiche gibt es Gallenbildungen anaplastischer Natur, indem z. B. aus Blättern durch den Reiz eines Pilzes Knospen entstehen, welche unter normalen Verhältnissen von diesen Organen nicht produziert werden.

Und da nun unter allen uns bekannten Giften die Mikrobien-Gifte diesen Anforderungen am meisten entsprechen, so fällt auf sie von vornherein der größte Verdacht bei der Erzeugung von Geschwülsten, ein Verdacht, welcher durch den Umstand, dass es bisher noch nicht gelungen ist, den Naturprozess der Infektion mit Krebsmaterial nachzuahmen, nur geringe Einbuße erleidet.

Was schließlich das große Heer der Nervenkrankheiten anbelangt, so vermögen wir deren Typen auch schon fast vollständig in der Reihe der Giftwirkungen auf das Zentral-Nervensystem und die peripheren Nerven zu erkennen: Anästhesien, Parästhesien, Paralysen, Paresen, Neuralgien, Krämpfe, sowie Atrophien und verschiedene Ernährungsstörungen der von den Nerven versorgten Organe, sind sie uns nicht aus dem Gebiete der Infektions- und Intoxikationskrankheiten schon alle geläufig? Dass die Gifte vollends eine ganz besondere Affinität zum Nervengewebe haben, welchem Arzte brauchte man das erst zu sagen? Und wenn wir die Verschiedenheit der Gehirnzentren berücksichtigen, samt den Distrikten ihrer Herrschaft, und annehmen, dass jedes Zentrum von Mikrobien und deren Gifte ergriffen sein kann; wenn wir dazu ferner die Thatsache ins Auge fassen, dass das Nervensystem und seine den höchsten, geistigen Funktionen dienenden Abschnitte in der heutigen Zeit gesteigerter Konkurrenz sehr oft die meist-disponierten, geschwächtesten Teile des Körpers sein müssen, so ist es wohl sapienti sat, und es bedarf keiner weiteren Ausführung, um die verschiedensten Psychosen und Neurosen (samt den beliebten „funktionellen“ Störungen) in ihrer Aetiologie beleuchtet zu sehen. Gewiss können bei den Nervenkrankheiten zwei verschiedene Modi der Erkrankung eine Rolle spielen: Infektion eines mehr oder weniger geschwächten Nervenabschnittes, oder aber auch Intoxikation von einem entfernter liegenden Mikrobienherd aus, wobei das Nervengewebe eine gewisse Attraktion auf das im Blute zirkulierende Gift auszuüben scheint.

Dass Geisteskrankheiten eine Ausnahmestellung in der Pathologie einnehmen, wird im Ernste nur derjenige behaupten wollen, der sich den Geist von der Nervensubstanz unabhängig vorzustellen vermag.

Überblicken wir nun die ganze Reihe von Krankheiten, welche nach unseren heutigen Kenntnissen durch irgend welche Gifte hervorgebracht werden können, und vergessen wir dabei nicht, dass unsere Lehrbücher sehr oft bloße Symptome und Folgezustände von primären Krankheiten als selbständige Krankheiten beschreiben, und dass ferner beim Forschen nach der primären Krankheit sehr oft auf die Zustände des Foetus und selbst der Eltern zurückgegangen werden müsste; vergegenwärtigen wir uns dann neben dem Gros der vorhin betrachteten Krankheiten den kleinen Rest solcher Affektionen, die von jenen ätiologisch verschieden zu sein scheinen: Gicht, Rhachitis und Osteomalazie, Chlorose und Diabetes. Was bleibt denn sonst von der ganzen Pathologie etwa noch Erhebliches übrig?

Betrachten wir diese kleine Reihe aber nun näher, so werden wir sehen, dass uns überall zwischen ihnen und der vorhin beleuchteten Hauptarmee Analogien in der Erscheinungsform begegnen, und dass wir bei ihnen sogar kaum einen einzigen klinischen oder anatomischen Zug auffinden können, der uns nicht schon früher vorgekommen wäre.

Zuerst die Gruppe der gichtischen Leiden. Ihre Symptome gehören auf der einen Seite offenbar zu den Gewebsnekrosen und Gewebs-Neubildungen, die ja oft beide Hand in Hand gehen, und die wir schon bei vielen bekannten Giften kennen. Auf der anderen Seite aber lehnen sich die gichtischen Affektionen an die sog. rheumatischen Leiden an, die wir mit hoher Wahrscheinlichkeit den Eiter-Kokken zuschreiben müssen. Daraus lassen sich, zusammen mit der als nekrotisches Gift wirkenden Harnsäure, alle Bilder der Gicht konstruieren. Höchstens könnte noch zur Vervollständigung des Bildes dienen, dass man bei der Entstehung aller Arten von mineralischen Ablagerungen und Konkretionen im Körper mit Recht heutzutage der Mikrobienthätigkeit eine bedeutende Rolle zuweist.

Rhachitis und Osteomalazie scheinen von vornherein nichts mit Infektion oder Intoxation zu thun zu haben, und doch wird die Wahrscheinlichkeit immer größer, dass diese Krankheiten auf Verdauungsstörungen beruhen, welche eine Resorption von Kalksalzen verhindern. Als Grund dieser Verdauungsstörungen wird aber heutzutage wohl nichts anderes, als eine abnorme Gährung beschuldigt werden können, und diese ist bekanntlich von Mikrobien und ihren Produkten unzertrennlich.

Dass die Chlorose, soweit ihre Natur unserer Untersuchung zugänglich ist, nur ein Krankheitssymptom darstellt, wird wohl keiner ernstlich bestreiten wollen. Eine Anzahl von Anämien und Oligocythämien sind uns aber schon als Symptome, resp. Folgezustände von Vergiftungen bakterieller und sonstiger Art bekannt und somit wohl geeignet, auch auf die Chlorose Licht zu werfen.

Von dem Diabetes wissen wir, dass sein Hauptsymptom durch Reizung einer bestimmten Hirnstelle bei Tieren, und durch Fütterung mit Gift (Phloridzin) erregt werden kann, was ebenfalls geeignet erscheint, für eine Entstehung durch Giftreiz zu sprechen.

Wenn wir nun in dieser Weise, durch Heranziehung und Vergleichung aller bekannten Thatsachen (was natürlich ein besserer Kenner als ich in noch viel ausgiebigerer Weise thun könnte) das ganze Heer der menschlichen Krankheiten überblicken, welcher Arzt und Naturforscher wird dann wohl noch daran zweifeln können, dass es außer den Giften einen irgend erheblichen, eine ausgedehntere Rolle spielenden Krankheitserreger kaum geben könne?

Ohne die kritische Forschung der modernen Zeit, welche ja glücklicherweise mit einer tüchtigen Dosis Exaktheit arbeitet*), wären wir gewiss noch nicht zu einem genügenden Forschungsmaterial gelangt, um darauf eine Theorie der Entstehung von Krankheiten zu erbauen. Auch wünschen wir natürlich lebhaft, dass alte Forschungen auf dem Gebiete der Aetiologie noch immer weiter ausgedehnt würden, damit unsere Wissenschaft ein festes Fundament erhält. Denn nur durch besseres Kennen kann der Weg zum besseren Können führen, da wir doch keine blinden Empiriker sein, resp. bleiben wollen. Aber ich darf hier nicht unterlassen zu betonen, dass ich es für einen höchst pedantischen Standpunkt ansehe, wenn jemand heutzutage noch behauptet, es sei vorerst für jede Krankheit der exakte Beweis zu führen, dass in jedem einzelnen Fall nur ein Gift ihr Erreger sein könne, bevor es erlaubt sei, eine Hypothese wie die meinige aufzustellen.

*) Meine Ansichten über die Berechtigung der Exaktheit in der Forschung siehe auch in No. 11 des „Ärztlichen Praktiker“, S. 307.

Nein, die Wahrscheinlichkeit ist der Leitstern auf der Bahn zur Erkenntnis! Gewissheiten gibt es weniger, als man an den Fingern einer Hand herzählen kann. Analogien und Induktionsschlüsse haben von jeher die Wissenschaft geleitet und müssen ganz besonders in der Heilkunde maßgebend sein, welche nicht den geringsten Anspruch auf den Namen einer exakten Wissenschaft erheben kann. Ebenso wie allen anderen Zweigen der Naturwissenschaften muss man auch der Medizin die Vorteile der Hypothese zugestehen, wenn es auch die Vertreter der überexakten Richtung heutzutage noch nicht eingestehen wollen. —

Aber muss man nicht einen Unterschied machen zwischen den Infektions- und den Intoxikationskrankheiten? so höre ich fragen. Ich lasse diese Einteilung gelten — für den Schüler. Sie ist gleich einem Baugerüst, welches später abgebrochen wird. Fragen wir nämlich, worin der ganze Unterschied zwischen beiden Gruppen besteht, so lernen wir, dass bei den Infektionskrankheiten der direkte Krankheitserreger, das Gift, von dem Bildner desselben, der Mikrobie, erst im Körper selbst erzeugt wird; während bei den Intoxikationen die Gifte (mögen sie von Mikrobien, mögen sie von höheren Tieren oder Pflanzen herstammen, oder sonstige Natur- oder Kunstprodukte sein) schon als fertige Stoffe in den menschlichen Körper gelangen. Dass ein derartiges Einteilungsprinzip keine scharfe Grenze herzustellen imstande ist, liegt aber auf der Hand. Ein Unterschied besteht ja allerdings, der nicht übersehen werden darf: in den Körper eingeführte organisierte Keime können sich in demselben vermehren und werden dann im Laufe der Zeit im allgemeinen eine größere Menge Gift abgeben können, als solches unter den gewöhnlichen Verhältnissen einer Intoxikation möglich wäre, wo ja doch eine bestimmte Menge fertig gebildeten und nicht vermehrungsfähigen Giftes dem Körper zugeführt wird. Dieser Unterschied hat aber mehr Bedeutung für die Prognose und für die Therapie, als für die Beleuchtung des Krankheitsbegriffes und für die systematische Auffassung. Denn schließlich ist doch in beiden Fällen die Materia peccans das Gift.

Gibt es aber nicht auch solche Mikrobien, welche allein durch ihre massenhafte Vermehrung in der Blutbahn die Krankheit erzeugen? Noch gegenwärtig unterscheiden die Lehrbücher der Bakteriologie zwei Arten von Infektionen: a) septikämische, zu denen sie den Milzbrand-Bacillus und den Bacillus der Mäuse-Septikämie, und b) toxische, zu denen sie alle übrigen zählen.

Nun ist es aber meiner Ansicht nach wohl nötig, die Reihe a) gänzlich fallen zu lassen, seitdem auch aus dem Milzbrand-Bacillus ein Gift dargestellt wurde (wie aus allen Mikrobien, pathogenen und saprophytischen). Es würde als „septikämischer“ Krankheitserreger dann nur noch der Bacillus der Kaninchen-Septikämie übrig bleiben, der sich wohl seiner Bedeutung nach von selbst erledigt.

Dabei soll jedoch keineswegs die Möglichkeit geleugnet werden, dass eine die ganze Blutbahn verstopfende Zoogloea den Tod veranlassen könnte, ja die Gewissheit wird ohne weiteres zugegeben. Aber man beachte doch, dass dieses Vorkommnis beim Menschen ein äußerst seltenes ist, und dass andererseits keine einzige Bakterienart bekannt ist, die nicht wenigstens bei ihrem Absterben Giftstoffe liefert.

Übrigens wäre der Name „Septikämie“ meines Erachtens für eine solche Gruppe, selbst wenn sie sich aufrecht erhalten ließe, fabelhaft schlecht gewählt, da man erstens dabei an kein Gift, also auch an keine „Sepsis“ denken soll, zweitens aber ganz besonders nicht an die uns allein interessierende Septikämie des Menschen! Diese ist ja bekanntlich eine exquisit toxische Erkrankung, und kommt sogar (nach Centanni) durch die Gifte der Saprophyten zustande, welche auf gangränösen Körperteilen, z. B. auf Plazentarresten, ihre Lebensbedingungen finden und von hier aus das Blut vergiften.

Aus allem diesem folgt, dass wir bis jetzt keine sicher bekannte Entstehungsweise einer Krankheit kennen, außer durch Gifte, und dass es deshalb nach den in der Wissenschaft allgemein anerkannten Grundsätzen erlaubt ist, die Hypothese aufzustellen, dass jede Krankheit durch Gifte verursacht werde*): Omnis morbus ex veneno!

*) Hueppe nennt diese Verursachung eine „Veranlassung, Erregung, Auslösung“. Siehe meine Kritik seiner diesbezüglichen Anschauungen in No. 2 des „Ärztlichen Praktiker“.

Fragen wir nun weiter nach der Entstehungsart der in Betracht kommenden Gifte, so erscheint die Antwort gerechtfertigt, dass die große Mehrzahl derselben von Mikrobien herrührt; und stellen wir die weitere Frage, welches der Ort dieser Gifterzeugung sei, so weist alles darauf hin, dass in weitaus den meisten Fällen unser Körper selbst dieser Ort sei.“

Diese drei abzugrenzenden Begriffe wären also folgende: 1) Krankheit im Allgemeinen = Intoxikation, 2) Mikrobiengift-Intoxikation im weiteren Sinne (außerhalb und innerhalb des Körpers), 3) Mikrobiengift-Intoxikation im engeren Sinne (im Körper selbst). Die Umfange dieser drei Krankheitsbegriffe im Verhältnis zu einander können am besten veranschaulicht werden, indem wir sie als drei ineinander gezeichnete Kreise graphisch darstellen, von denen der zweite ein wenig enger als der erste und der dritte wiederein wenig enger als der zweite wäre; dann würde der innerste, kleinste (Nr. 3) immer noch den bei weitem größten Teil aller Krankheiten darstellen, nämlich die Infektionskrankheiten im eigentlichen Sinne.

Nun will ich mich aber bemühen, auch diejenigen zu befriedigen, die von vornherein als geschworene Feinde der Bakteriologie auftraten, denen der Gedanke ein Gräuel ist, dass die Mikrobien und ihr Gift das wesentliche bei der Erregung einer Krankheit darstellen könne.

Diese möchten alle Mikrobien als Saprophyten auffassen, welche an schon vorher erkrankten Stellen des Körpers nur ihre besten Existenzbedingungen gefunden haben.

Zuerst will ich zugeben, dass ich von meinem naturwissenschaftlichen, und besonders darwinistischen (phyletischen) Standpunkte aus nie einen solchen scharfen Unterschied zwischen pathogenen und saprophytischen Kleinwesen machen konnte, wie ihn leider fast alle Bakteriologen machen. Vielmehr bekannte ich mich stets zu der Ansicht, dass es keine scharfe Grenze zwischen beiden gäbe, dass als pathogen nur diejenigen Arten und Formen der Saprophyten anzusehen seien, denen es im Laufe der phyletischen Entwickelung gelungen ist, sich dem lebenden tierischen Gewebe bis zur Vermehrungsmöglichkeit anzupassen. Wahrscheinlich wird der Unterschied mit der Zeit sogar noch mehr verwischt werden, da es offenbar auch Krankheiten gibt, die von echten Saprophyten, die also nur auf abgestorbenen Körperteilen leben, durch ihre giftigen Produkte verursacht werden, sofern letztere nicht durch einen Leukocyten Wall oder sonstige Schutz- und Heilbedingungen des Organismus ferngehalten oder unschädlich gemacht werden. Auch wird es immer mehr offenbar, dass Saprophyten eine höchst wichtige Rolle nicht nur bei der Wundinfektion, bei der Diphtherie, bei der Tuberkulose, sondern auch bei vielen anderen Infektionskrankheiten als sekundäre Faktoren spielen. Hoffentlich ist in dieser Beziehung durch Centanni der Bann gebrochen, und ist es nun mit der beliebten Phrase von den „unschuldigen Saprophyten“ für immer aus.

Wenn die Gegner der Bakteriologie nur die unbestreitbare Thatsache der Giftwirkung aller Mikrobien und der spezifischen Giftwirkung einiger besonderer Arten zugeben wollten, so fände sich, wie wir sogleich sehen werden, leicht eine Verständigung mit ihren sonstigen Auffassungen vom Wesen des Krankheitsprozesses.

Auch wir sagen, wie sie, dass zur Entstehung einer Krankheit im allgemeinen eine Disposition oder eine Läsion (Trauma) gehöre, d. i. wahrscheinlich die Eigenschaft eines Zellbezirkes oder auch eines ganzen Organismus, der natürlichen Schutzkräfte und Schutzstoffe zu entbehren. Die Gegner der Bakteriologie sehen nun in diesen abnormen Beschaffenheiten von Zellbezirken oder ganzen Organismen schon die Krankheit selbst, behaupten also, dass diese Eigenschaften die Hauptsache im Begriff der Krankheit darstelle, und dass wegen der Ubiquität der meisten Mikrobienarten (die sie ohne Grund annehmen) sich keine abnormen, (geschwächten, disponierten) Körperteile frei von der Einwirkung der Mikrobien oder deren Gifte denken ließen.

Gehen wir zunächst an die Beurteilung dieser Anschauungen vom naturwissenschaftlichen Standpunkte aus, z. B. vom botanischen. Denken wir uns etwa eine Wiese, welche von mehreren Arten von Gräsern und Kräutern bewachsen ist. Von dieser Wiese werde ein Stück von allem Pflanzenwuchs befreit, sodass der Boden nun ganz kahl sei. Denken wir uns weiter, dass alle Samen derjenigen Pflanzenarten, welche früher darauf wuchsen, fern gehalten werden könnten, alle anderen aber freien Zutritt hätten. Dann wird es gewiss nicht ausbleiben, dass in nicht zu langer Zeit der vakante Platz wieder bewachsen wäre, und zwar mit anderen Arten als zuvor, in diesem Falle wohl meist mit Unkräutern, deren Samen auf den natürlichen Wegen durch Wind oder Tiere dorthin getragen worden sind. Und wenn zufällig keine für das leere Gebiet passenden Arten oder Varietäten sich in der Nähe befänden, so werden sich im Laufe der Zeit ganz gewiss von den benachbarten Arten besondere biologische Typen bilden, die sich dem bestimmten Terrain und seine besonderen physikalischen und chemischen Verhältnissen anpassten. Denn das Gesetz gilt für die gesamten Lebewesen: Wo ein irgend wie Nahrung bietender Fleck in der Natur frei wird, da stellen sich stets Tiere und Pflanzen ein (und sollten sie sich auch extra den Eigenheiten des Terrains erst anpassen müssen), um von ihm Besitz zu ergreifen.

Soweit komme ich also den Gegnern der Bakteriologie entgegen und räume sogar ein, dass man als das zuerst gegebene Moment bei der Entstehung einer Krankheit die Disposition oder Läsion ansehen mag. Aber diese allein bildet nie eine Krankheit, ebensowenig wie z. B. in einem natürlichen Wasserbecken, selbst unter dem Einflusse intensiver Sonnenwärme, eine Flora von Sumpf- und Wasserpflanzen entstehen könnte, wenn die Samen oder Knospen letzterer sich nicht an Ort und Stelle befinden oder von Wind und Vögeln dorthin getragen werden, wie es allerdings meist, aber nicht immer unter natürlichen Verhältnissen der Fall ist.

Da nun aber die gegebene Läsion oder Disposition eine sehr kleine, unmerkliche sein kann, und zur Entstehung der meisten Krankheiten wohl eine Wechselwirkung zwischen dem Erreger und dem locus minoris resistentiae stattfindet, so dass der eine Faktor immer den anderen begünstigt und fördert (auf welches Kausalitäts-Verhältnis ich bei der Entstehung der meisten Krankheiten ein ganz besonderes Gewicht lege — Circulus causarum seu vitiosus), so ist die Frage, welche zur Zeit Bakteriologen und Nicht-Bakteriologen trennt, eine rein-theoretische. In der Tat wird man finden, dass sie für die Praxis von sehr geringem oder keinem Belang ist.

Zu allem diesen kommt noch, dass es unzweifelhaft Körpergewebe gibt, welche für gewisse Mikrobien schon normalerweise jene Disposition besitzen, die gegenüber anderen Mikrobien erst durch eine Schwäche oder Schädigung erworben werden müsste, z. B. die meisten Schleimhäute gegenüber den Gronokokken, die Haarwurzel-Scheiden gegenüber den Eiterkokken u. s. w. Auch scheint der ganz normale, gesunde Körper für die Erreger der akuten Exantheme und einiger sonstiger „sehr ansteckender“ Krankheiten ohne weiteres disponiert zu sein, wenn nicht ganz ausnahmsweise eine eigentümliche individuelle Eigenschaft, die ihrem Wesen nach vollkommen dunkle natürliche Immunität, ihn vor einzelnen Seuchen schützt.

Stellt man sich bei Betrachtung dieser Frage gewissermaßen auf die Seite der Mikrobien, welche den Körper anzugreifen suchen, so ist die Auffassung berechtigt, dass es verschieden kräftige (virulente) Mikrobien gibt: solche, welche nur auf abgestorbenem Körpergewebe leben, solche, welche mehr oder weniger geschwächte (ihrer natürlichen „alektischen“ Kräfte und Stoffe beraubte) Körperteile bewältigen können, und endlich solche, welche sogar den normalen, gesunden Körper mit Erfolg angreifen. Als ihre Hauptwaffen im Kampfe mit dem Körper muss man sich ihre Toxine, Proteine und Pyrotoxine denken, sowie ihre Sporenbildung und andere erworbene Eigenschaften; als die Waffen des Körpers dagegen die Alexine, die Leukocytose, die Antitoxine und immunisierenden Stoffe, sowie verschiedene zur Elimination der Gifte dienende Fähigkeiten und Funktionen.

Ich habe übrigens die Frage, welches das praktisch wichtigste Moment bei der Entstehung von Krankheiten sei, schon im „Ärztlichen Praktiker“ behandelt, und glaube kaum, dass meine auf darwinistischen Grundsätzen beruhende Auffassung begründeten Widerspruch finden kann. Es kann ja nicht ausbleiben, dass die Darwin’schen Theorien auch auf die Medizin ihr Licht werfen, wie sie sämtliche anderen Zweige der Naturwissenschaften in so hohem Grade beleuchtet haben. —

Nun muss ich noch mit einigen Worten das Gebiet der Gelegenheitsursachen behandeln.

Wenn ich die Behauptung aufgestellt habe, dass alle Krankheiten durch Gifte, meist durch Mikrobien erzeugte, hervorgerufen werden, so muss jedem sofort klar sein, dass bei der Entstehung der meisten Krankheiten die Frage eine große Rolle spielt, ob der Körper oder einzelne seiner Teile für die in Betracht kommenden Mikrobien einen geeigneten Nährboden darstellt oder nicht*).

*) Außer dem Begriff der „Immunität“ unterscheidet die Koch’sche Schule noch den der „Giftfestigung“, darin bestehend, dass eine Mikrobie in einem Körper sich wohl vermehren kann, dass aber die sämtlichen Körpergewebe gegen ihre giftigen Produkte geschützt (giftfest) sind.

Von sämtlichen Mikrobien sind es vor allem gewisse zahlreiche Arten von Saprophyten, gegen welche kein Körper absolut geschützt ist. Aber ihr Wachstum erstreckt sich nur auf diejenigen Körperteile, welche bereits abgestorben sind, also auf die oberflächlichsten Schichten der Hornhaut und der Schleimhaut (im weitesten Sinne dieser beiden Worte), sowie auf sonstige durch Läsionen ernährungsunfähig gewordene Gewebe. Man könnte also auch sagen, dass der lebende Körper und die lebende Zelle immun gegen die Saprophyten sei. Nicht aber kann man den Satz aufstellen, dass sie auch giftfest (siehe die Fußnote) gegen die Produkte derselben seien, wenn auch anzunehmen ist, dass sie sich denselben in gewissem Grade angepasst haben, und dass der ganze Organismus sehr wirksame Schutzvorrichtungen gegen die Gifte der alltäglichen Saprophyten besitze.

Trotzdem das Verhältnis unseres Körpers zu den gewöhnlichen Saprophyten ohne Zweifel ein höchst wichtiges ist, und ich seine Kenntnis für Hygiene und Therapie für geradezu grundlegend ansehe, ist uns noch fast nichts davon bekannt! Hoffentlich wird Centanni’s obenerwähnte Publikation hierin anregend wirken. Wieweit bedarf unser Körper der Saprophyten zu seinen normalen Funktionen, zur Verdauung, zur Menstruation, zur Ablösung der oberflächlichen Hornhaut- und Epithelschichten? Welchen Einfluss hat der Lebensprozess der Saprophyten auf der Haut, den Schleimhäuten und besonders im Darmkanal auf die Wärmebildung? Alles noch unbebaute Gebiete der Physiologie! Die Saprophyten scheinen für den Körper teils als Feinde, teils als Freunde aufzutreten, und man kann ihre Rolle für die Menschheit vielleicht mit dem des Feuers vergleichen und dabei an die bekannten Worte in Schiller’s Glocke erinnern, welche die wohlthätige und vernichtende Kraft des Feuers so wahr und schön schildern. Gewiss muss der lebende Körper die Saprophyten stets in Schranken halten. Dienen vielleicht im Darmkanal die aromatischen Verbindungen sowie einige Gase zu dieser Einschränkung?

In meinem Kapitel über Heilung komme ich übrigens auf die Saprophyten noch einmal zurück.

Wir haben also gesehen, dass für die Saprophyten der gesunde, ernährungstüchtige Körper und die lebenden Gewebe keinen geeigneten Nährboden darstellen; dieses ist auch dann nicht der Fall, wenn die gewöhnlichen Gelegenheitsursachen, wie Erkältung, Schwächung, Ernährungsstörung, hinzutreten. Doch wenn letztere den Grad einer Läsion erreicht, sodass es sich nicht mehr um lebende, sondern um abgestorbene Körperteile handelt, dann ändert sich das Verhältnis zu Gunsten der Saprophyten.

Den Saprophyten im gewissen Sinne entgegengesetzt verhalten sich nun einige Mikrobien, welche die Eigenschaften erworben haben, den Körper in seiner vollen Lebensfähigkeit zu invadieren. Hierher gehören die Erreger vieler akuten Exantheme und einiger sonstiger sehr ansteckender Krankheiten, und wohl auch die Malaria und einige sonstige Infektionskrankheiten. Wenn hier auch jene genannten schwächenden Gelegenheitsursachen oft eine Rolle spielen, so scheinen sie doch nicht in jedem Falle erforderlich zu sein. Auch Eiterungen und gonorrhoische Infektion erfordern, soviel wir wissen, keine disponierenden Momente. Drittens sind es die eigentlichen Intoxikationen, bei welchen man keine Gelegenheitsursachen voraussetzen darf. Wenn ein Gift in der genügenden Dosis gereicht wird, so dass die dem Körper eigentümliche Reizschwelle überschritten ist, so äußert es seine Wirkung. Schwächende Momente können wohl die Reizschwelle nähern, kräftigende sie hinaus schieben; aber die Wirkung ganz zu eliminieren, gelingt nur dem Prozesse der Immunisierung, oder es besteht von vornherein eine derartige Eigenschaft des betreffenden Organismus in Gestalt der natürlichen, angeborenen Immunität.

Abgesehen von diesen drei Gruppen müssen wir aber bei der Mehrzahl aller Krankheiten außer den Causae externae (Infektion oder Intoxikation) gewisse Gelegenheitsursachen annehmen. Diese sind jedem Laien in dem Grade geläufig, dass man sie früher, als man die feineren Vorgänge der Infektion und Intoxikation bei den meisten Krankheiten noch nicht beachtete, allgemein für die eigentlichen Krankheitsursachen hielt. So ist es zu verstehen, dass beim Publikum immer noch nur die in ihrer Art auffallendsten Krankheiten als Vergiftungen und Ansteckungen gelten, alle anderen aber stets auf eine der folgenden Ursachen zurückgeführt werden: Erkältung, Schadennehmen (Trauma), Magenverderben, Überanstrengung.

Nach näherer Betrachtung bin ich zu einer ähnlichen Einteilung der Gelegenheitsursachen gelangt, wie sie das Volk als Hauptursachen annimmt, und lasse folgende fünf Momente als solche gelten:

1. Trauma oder Läsion im weitesten Sinne, wodurch nicht nur Saprophyten, sondern auch Eitererreger, Wundinfektions-Erreger und viele andere Mikrobien sowohl Eingangspforte als Nährboden finden. 2. Erkältung, die ich mir als eine, meist lokale, alektische Schwäche vorstelle, welcher eine Infektion oder Intoxikation auf dem Fuße folgt. Näheres besagt mein Buch auf Seite 27 ff. 3. Überanstrengung und sekundäre Schwäche irgend eines Körperteils oder des ganzen Körpers, auch wohl dadurch zustande kommend, dass einem Körperteil durch Überanstrengung eines anderen die Ernährungsflüssigkeit resp. die alektischen Stoffe entzogen werden. 4. Ererbte Schwäche eines Körperteils oder des ganzes Körpers, und allgemeine Schwäche der Kindheit und des Alters. 5. Jene Ernährungsstörungen der Gewebe, welche von Mikrobien verursacht werden, und nun anderen Arten derselben den Boden vorbereiten (Misch- und Sekundärinfektion).

Das Gemeinsame aller dieser Gelegenheitsursachen und Dispositionen ist nun nach meinem Dafürhalten ein mangelhaftes Vorhandensein, selbst ein Fehlen derjenigen Kräfte und Stoffe, welche der gesunde normale Körper den meisten Mikrobienarten entgegenzusetzen befähigt ist. Man pflegt diesen geschwächten Zustand des Körpers oder einzelner seiner Teile „Ernährungsstörung“ zu nennen. Ich nenne ihn alektische Schwäche (in Anlehnung an Buchner’s Alexine), wobei ich jedoch bemerke, dass zur Alexie in meinem Sinne auch die Phagocytose, die antitoxischen Stoffe und wohl noch andere Kräfte und Stoffe des Körpers gehören. Den Ausdruck Ernährungsstörung hatte man offenbar deshalb gewählt, weil tatsächlich die Ernährung mit diesen Kraft- und Schwächezuständen in naher Beziehung steht, indem die Nahrung wohl hauptsächlich das Material zu den bei der Alexie nötigen Kräften und Stoffen liefern muss.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Was ist Krankheit, und wie heilen wir?