Fünfte Fortsetzung

Wir haben im Slavenski-Bazar in Kitaigorod, — in der sogenannten chinesischen Stadt (wahrscheinlich von der sie umgebenden hohen weiß-getünchten Mauer, abenteuerlich geschmückt mit Zinnen und Türmen) — Wohnung genommen. Dieser elegante Gasthof ist annähernd nach westeuropäischer Art eingerichtet, und tragen z. B. sämtliche Kellner den schwarzen Frack, während die unter dem Portale stets bereitstehenden vier Dworniks (Hausknechte, Lohndiener) die kleidsame russische Nationaltracht behalten haben.

Um jedoch ein in vollkommen altrussischer Weise geführtes nobles Gasthaus zu sehen, muss man unter Anderem vornehmlich den „Eremitage Traktyr" aufsuchen, die feinste Restauration in ganz Moskau. Vier große, in einander gehende Säle, in dunklem Roth und maurischer Ornamentik öffnen sich; eine Unzahl von Aufwärtern, alle gleich in weiße Überhemden und Pumphosen mit rotseidenen Leibgürteln gekleidet, treibt sich lautlos und geschäftig darin herum. An hohen Kirchenfesttagen verwandeln sich die weißen Baumwollhemden in seidene, von blauer oder roter Farbe. Eine Schwarzwälder Spieluhr, von der Große einer Kirchenorgel, deren Ankaufspreis auf 25.000 Silberrubel angegeben wird, produziert sich während der Stunden des Diners; wir waren so glücklich, die eminent ausgeführte Ouvertüre zu Rossinis Teil von ihr zu hören. Die Bedienung ist vortrefflich, und zeigt von einer. Kellnerschule, wie sie in den Restaurants des Palais Royal nicht besser gefunden wird; keine unnötige Silbe wird gesprochen, jeder Wink wird erraten, im Momente des Erhebens zum Gehen präsentiert auch ein hinter dem Stuhle stehender Aufw?rter den Hut, wie man es nur bei Hofe gewöhnt ist. Die Preise sind für unsere „deutsche Gewohnheit" allerdings etwas hoch, allein in Rücksicht auf den Luxus der Ausstattung und die Menge des Personals, welche solche Etablissements uns schauen lassen, nicht übertrieben.


Wir fragten beim Fortgehen den gefälligen süddeutschen Landsmann, welcher gleich uns hier Mittag gemacht hatte, und in Folge mehrjährigen Aufenthalts in Moskau der russischen Sprache mächtig geworden: Wie viele Aufwärter sind denn eigentlich in dieser Restauration? Antwort: „Einhundertfünfzig und vierzig Mann in der Küche (Wir geben diese Zahlen, wie sie uns genannt wurden, wahrheitsgetreu wieder, auch auf die Gefahr hin, dass sie Einem oder dem Andern zu hoch erscheinen mögen.)

In einem andern größeren Restaurant der Boulevards, zunächst dem Industrie-Ausstellungs-Gebäude, traten wir früh, etwa um neun Uhr ein, um Kaffee zu trinken. (Dieses erfordert stets einigen Aufenthalt, da in Russland überall in der Regel nur Tee zum Frühstück genommen wird.) In den verschiedenen großen Gasträumen waren die Aufwärter mit kleinen Berufsarbeiten, Serviettenfalten, Zylinderputzen u. s. w. beschäftigt. Nach russischem Gebrauche ist in einer der vier Ecken jedes öffentlichen Gemaches (Gastzimmers, Comptoirs) ein Heiligenbild, vor welchem fortwährend ein Licht brennt, ein Herkommen, welches mit den Zimmern der Tiroler und südbayerischen bürgerlichen und Landbevölkerung, wo das Kruzifix in der Ecke ebenfalls, nie mangelt, viel Übereinstimmendes hat.

Als der Hotelbesitzer in das erste Zimmer, wo wir saßen, eintrat, schritt er vorerst gegen das Bild, machte drei Kreuze, verneigte sich dreimal gegen dasselbe, worauf er gegen sein Personal gewendet, deren gleichzeitige tiefe Verbeugung als Morgengruß entgegennahm. Wir folgten ihm leise und fanden, dass in jedem Zimmer die gleiche Formalität sich wiederholte. Die Sitte, bei dem Eintritte in ein Appartement mit den Bücken sofort das Bild zu suchen und sich zu bekreuzen, ist in Russland allgemein. Wir fanden sogar öfter, dass Passagiere beim Einsteigen in das Eisenbahn-Coupé ihrem religiösen Gefühl in dieser Weise auch äußerlichen Ausdruck geben.

Möglichst viele dienstbare Geister in seinem Hause zu haben, ist wie schon oben bei Petersburg erwähnt wurde, der Stolz des Hausherrn, gehöre er nun zu einer Klasse, zu welcher er wolle. Wie in den Palais des Adels, in den Hotels und Restaurationen findet man auch in den großen Kaufläden ein das Bedürfnis weit übersteigendes Personal. Namentlich fällt dieses auf in den verlockenden Gewölben der Armenier, welche persische Kaschmirs, Atlasschlafröcke, schwere buntfarbige Seidenstoffe, kaukasische Metallarbeiten und Tula Gegenstände, Dosen, Dolche, Haarschmuck, türkische Pfeifen, Bernsteinwaren, Kameen u. s. w. feilhalten. Da ihre Waren fast nicht zu bezahlen sind, so nehmen die Fremden meist Anlass, nach Etwas zu fragen, um flüchtig ihre ausgebreiteten Schätze überschauen zu können, aber in jedem dieser Läden wird man vier oder fünf untätig herumstehende, in der Regel schöne Leute, in ihrer schmucken Nationaltracht linden, welche nichts zu tun haben als die Türe auf- und zuzumachen, und dem Fremden mit Verbeugungen das Geleite zu geben.

Als eine höchst interessante Spezialität unter den Verkaufsläden Moskaus (auch Petersburgs) stehen die großen Tee Magazine mit obenan. Nicht nur hat sich einer der feinsten aller nur existierenden Wohlgerüche in ihnen eingebürgert, und entzückt die Geruchsorgane, wie selten anderswo, sondern es ist auch die, in den meisten vollkommen chinesisch durchgeführte Einrichtung der Lokale schon eines Besuches wert.

Ächte schwere Teppiche aus China bedecken den Boden, eben solche Tapeten die Wände; die zahlreichen Sorten der meist auf dem Landwege hertransportierten Ware, — (deshalb Karavanen-Tee genannt) sind in elegant lackierten Kästchen, mit farbigen Bildern und vieler Vergoldung ausgestattet, prangend mit den Erzeugnissen einer Industrie, durch welche das Reich der Mitte längst bekannt geworden, und seinen Absatz in alle Welt gefunden hat. Bei dem außerordentlichen Konsum dieses Artikels in Russland, — des unentbehrlichen Tschai, ist der Handel mit China zu einer großen Bedeutung gelangt.

Aus dem Zusammenhalte der kurzen Aufzeichnungen, welche wir hier zu geben versuchten, wird dem Leser wenigstens klar geworden sein, dass Moskau im Allgemeinen eine schon stark ausgeprägte orientalische Färbung an sich trägt, obgleich die sogenannte französische Tracht, wie sie der ganze Mittelstand, und selbstverständlich die vielen hier wohnenden Ausländer im Gebrauche haben, auf den Straßen vorherrscht. Unter der altrussischen Pelzmütze des Eingeborenen taucht häufig das rote Fez des Türken und Griechen, der hohe schwarze abgestutzte Kegel des Persers auf: Moskau ist ein Weltplatz und unter den Binnenstädten Europas wohl die einzige, wo sich so viele Nationalitäten im bunten Gewirre untereinander treiben , wie sie die Hafenstädte Triest, Livorno und vorzugsweise Marseille uns vor Augen führen.

Die Damenwelt Moskaus richtet sich, wie es scheint, ausschließlich nach dem Pariser Journal, und hat die Juni-Mode 1874 mit ihren hohen Coiffuren und rückwärts hochgeschürzten Tuniken an der Moskwa so gut, wie an der Seine, ihr unerbittlich strenges Zepter geführt. Dem feinen Kennerauge würde nur vielleicht hier die unharmonische Zusammenstellung halbverwandter Farben auffallen, wie wir z. B. Hochrot, Carmoisin und Orange öfter friedlich, aber nichtsdestoweniger unschön, vereinigt sahen.

So lohnend und empfehlenswert ein Besuch von Moskau ist, weil sich in ihm altrussische Bauart und Sitte unverändert erhalten hat und ganz anders abspiegelt, als in dem modernen Petersburg, so waren wir doch nicht ungehalten, nach dreitägigem Aufenthalte, mittels des notdürftigen Gefährtes eines Iswoschtschiks uns wieder zur Abfahrt gerüstet im Bahnhofe zu wissen. Die Hitze war am dritten Tage gradezu erdrückend geworden, und wenn, wahrscheinlich in Folge eines entfernt entladenen Gewitters, einzelne Windstöße durch die langen, breiten Straßen daherbrausten, warfen sie uns lawinenartig wachsende Staubwolken entgegen.

Zudem entbehrt das allseitig vom Meere weit entfernte Moskau den Vorzug der kühlenden Seeluft, wodurch alle, unfern der See gelegenen Städte , sich einer angenehm gemilderten Temperatur erfreuen, eine Eigenschaft, welche namentlich Petersburg in hohem Grade zu Teil wird. Wenn die alte Moskowiterhauptstadt ihre Gründung auf Wladimir den Zweiten, mithin in das zwölfte Jahrhundert zurückzuführen vermag, und schon aus diesem Grunde in vielen Beziehungen interessanter als die jugendliche Kapitale an der Newa ist, ebenso die letztere an solidem Reichtum bedeutend überragen soll, so erreicht im Ganzen Moskau an Schönheit und Eleganz doch niemals das „wahrhaft kaiserliche" Petersburg!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen im westlichen Russland