Viertes Kapitel

Nach Moskau. — Total-Anblick. — Die Kathedralen und die Schätze des Kremls. — Die eroberten Geschütze vor dem Arsenale. — Restaurationen. — Kaufläden. — Teemagazine. — Auf der Straße.

Es wird erzählt, der verstorbene Kaiser Nikolaus habe, als ihm der Entwurf für die Petersburg-Moskauer Bahn im Plane vorgelegt worden sei; — welcher in der Absicht, einige bedeutende Orte mit in die Linie zu ziehen, mehrere Krümmungen nicht vermeiden konnte, ein Lineal ergriffen, zwischen beiden Endpunkten eine grade Linie, in Wirklichkeit 664 Werste oder 87 deutsche Meilen bedeutend, gezogen und die mündliche Entschließung beigefügt: „diese Linie wird gebaut".


So entstand diese wichtigste und frequenteste Bahn auf russischem Gebiete, die „Nikolai-Bahn", welche durchgehends doppelgleisig, den außerordentlichen Verkehr zwischen den beiden Hauptstädten vermittelt, und dem weit oben im Nordwesten abgelegenen Petersburg die vielseitigen Bedürfnisse des Lebens in Massen, das Getreide aus dem fruchtbaren Süden, aus Taurien und den Gouvernements des Schwarzen Meeres, ebendaher seinen Bedarf an Schlachtvieh, soweit ihn nicht

Podolien deckt, Kohlen von Tula und Nischnei-Nowgorod, Hanf und Tabak, endlich Wein, Gemüse und Südfrüchte aus der Krim zuführt.

Die Bahn wurde 1842 begonnen, für Rechnung des Staats ausgeführt, und am 1. September 1868 der großen russischen Eisenbahn-Gesellschaft auf vierundachtzig Jahre übergeben. Terrainschwierigkeiten waren verhältnismäßig wenige zu überwinden: die Überbrückung von vier nicht unbedeutenden Flüssen dürfte die erheblichsten in den Weg gelegt haben. Diese weite Strecke legt der Abends von Petersburg abgehende Kurierzug in fünfzehn Stunden zurück, indem er nur an den Abstoßpunkten der Seitenbahnen; in Tschudowa (nach Groß-Nowgorod am Ilmensee), in Bologoje (nach Ribinsk), endlich bei der seitwärts gelegenen, turmreichen Stadt Twer, sich einen kurzen Aufenthalt vergönnt.

Der Verkehr auf dieser Bahn ist großartig; in der ersten Fahrstunde flogen fünf Züge an uns vorüber, von dieser Zeit an wäre es ermüdend geworden, die späteren noch zu zählen. Die Gegend bietet wenig genug, und wem es gegeben ist , die Nacht im Waggon zu verschlafen, tut unbedingt wohl, sich am Schalter zu Petersburg, für zwei Rubel weiter, eines Platzes im Schlaf-Waggon zu versichern, wo ihm ein vortreffliches, neu überzogenes Kopfkissen, und ein sehr bequem gepolsterter Lagerplatz, in erster oder zweiter Etage (die untere ist für Nachtwandler vorzuziehen) angewiesen wird , auf welchem sich selbst ein russischer Grenadier ausstrecken kann. Auch vermeiden die Zugführer, ohne besonderen Anlass, diese Räume zu betreten und die Bewohner zu stören.

Die Gouvernements Nowgorod und Twer, welche wir in ihrer ganzen Ausdehnung von Norden nach Süden zu durchfahren haben , sind reichlich zur Hälfte mit Wald bedeckt. Im ersteren passieren wir das Waldai-Gebirge (auch Wolchonskijwald genannt) , welches jedoch nur als Hochplateau relativ diese Bezeichnung rechtfertigt. Seine Lehmberge übersteigen selten die Höhe von achthundert, nirgends von tausend Fuß, obgleich es die Wasserscheide zwischen dem nördlichen Polargebiete und dem kaspisch-pontischen Flussgebiete bildet, oder deutlicher ausgedrückt: seine nördliche Abdachung schickt die Gewässer in das nördliche Eismeer, seine südliche nach dem Kaspischen und Schwarzen-Meere.

Bei Twer passiert man die Wolga , welche hier in ihrem oberen Laufe sich immerhin noch nicht als der mächtigste Strom Europas erkennen lässt, und auf ihrem 470 Meilen langen Wege in das Kaspische Meer allerdings noch Zeit genug finden mag, sich Kräfte zuzuführen. Dennoch trägt sie hier schon jährlich 4.000 Schiffe befrachtet zum Handelsplatze Twer.

Es ist nun voller Tag geworden, und bietet sich damit Gelegenheit, die veränderten Bodenverhältnisse des Gouvernements Moskau, welches wir nun bald betreten, wahrzunehmen. Dasselbe gilt als ziemlich fruchtbar, die unabsehbaren Waldungen haben sich ihres ausschließlichen Monopols begeben, und gestatten auch noch anderen Bodenerzeugnissen Kaum. Die aus der Ferne herüberschauenden, rauchenden Dampfkamine verraten einige Fabriktätigkeit, welche sich mit der Nähe der Hauptstadt fortwährend steigert. (Moskau ist der Hauptsitz der russischen Nationalindustrie und zählte schon vor zehn Jahren in seinem Stadtgebiete fünfhundertfünfzig Fabriken mit fast vierzigtausend Arbeitern.)

Gegen neun Uhr gewahrt man am Horizonte einzelne Kuppeln, in Gold, Silber und allerlei Farben glänzend, bald jedoch ragen hohe Spitzen ohne Zahl aus dem stets weiter sich entfaltenden Häusermeere hervor, welches, in seiner Lage vergleichbar mit Paris, auf beiden Seiten das breite Talgebiet der Moskwa ausfüllt, und an den anschließenden Höhenzügen, gleich wie dort am Montmartre und Montrouge, aber sanfter hinansteigt.

Der Totalanblick von Moskau , zu dessen vollstem Genusse wir alsbald nach unserer Ankunft den großen Iwan, den hohen Glockenturm des Kreml besteigen, ist ein schwer zu beschreibender. Es wurde uns behauptet, dass der Umfang des ganzen bebauten Baumes, einschlüssig der Vorstädte, jenen von Petersburg noch übertreffe, was, aus der Vogelperspektive betrachtet, nicht unglaubwürdig erscheint. Die Zahl der Kirchen wurde uns als weit über vierhundert, die Zahl der Einwohner mit siebenmalhunderttausend bezeichnet. Letztere Angabe wird jedoch hinfällig, indem nach offiziellen Quellen die Einwohnerschaft Moskaus im September 1871 mit 399.321 bekannt gegeben wurde, — (jene der Residenzstadt Petersburg mit 667.000) — und eine derartige Zunahme von dreimalhunderttausend Seelen in drei Jahren erfahrungsgemäß nicht möglich ist, selbst wenn die enorme Zahl der ab- und zureisenden Kaufleute und die Menge der stets anwesenden Pilger hinzugerechnet werden sollte!

Vergegenwärtigt man sich, dass eine griechisch-russische Kirche nicht variierend einen oder zwei Türme hat, sich vielmehr über einer jeden eine mächtige Mittelkuppel wölbt, umringt von vier kleineren, oder vier Türmen; alle ohne Ausnahme mit Metall gedeckt, vergoldet, versilbert, einfarbig oder musivisch, in grellem Hellgrün, Blau, auch rosafarbig, dazu auf jeder Kuppel und Spitze ein mächtiges, vergoldetes Kreuz, welches vornehmlich in Moskau, noch mit schweren gleichen Ketten, in grobem Filigran gearbeitet, vielfach nach dem Dachfirste gespannt ist, so bietet sich, namentlich im Sonnenglanze, ein Funkeln und Farbenspiel, welches dem ungewohnten Auge des West-Europäers einen Vorgeschmack des Orients zu kosten gibt, wie ihn zweifelsohne, außer Konstantinopel, diesseits des Mittelländischen Meeres und des Pontus Euxinus, keine Stadt mehr bietet.

Die Straßen Moskaus sind breit, durchgehends mit verhältnismäßig niedrigen, aber geräumigen Häusern, auch vielen Prachtbauten, eingefasst. Dass die Privathäuser mehr in die Breite und weniger in die Höhe gehen, mag auch auf der morgenländischen Sitte fassen. Der Orientale liebt es, seine Räume neben einander zu wissen, das Treppensteigen vermeidet er, als seiner hochgeschätzten körperlichen Bequemlichkeit widersprechend.

Was in Moskau sehr zum Nachtheile der in der äußeren Erscheinung sonst vorteilhaft sich gebenden Großstadt wirkt, ist die an den Süden erinnernde Vernachlässigung jeder öffentlichen Reinlichkeit. Während vor Sonnenaufgang schon ganz Petersburg auf das Sauberste gekehrt und jeder Gedanke an Abfall oder Staub beseitigt ist (eine um so bemerkenswertere Tatsache, als Tag und Nacht in allen Straßen Tausende von Pferden stehen), watet der Fußgänger hier bei trockenem Wetter bis über den Knöchel in Staub und allerlei zufälligen Beigaben, oder wühlt im Gefährte dichte Wolken auf, aus welchen sich bei starkem Regen schwarzgefärbte Bäche die gesenkten Straßen herab entwickeln sollen. Uns beglückte das herrlichste Wetter der Welt, wir hatten mithin das Letztere nicht persönlich zu erfahren 7 und nur die erstere Plage aber diese auch im vollsten Maße, mit den übrigen Moskowitern zu teilen.

Wie an den Kamen der Siebenhügelstadt am Tiber, knüpfen sich auch an jenen von Moskau für den Touristen, je nachdem ihn die eine oder andere Seite mehr interessiert, die verschiedenartigsten Beobachtungspunkte.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen im westlichen Russland