Erste Fortsetzung

Das turmreiche Warschau hat sich eine prächtige Stelle auf dem linken hohen Ufer der Weichsel ausgewählt, und blickt in der Ausdehnung einer Meile stolz auf die jenseits des hier 1.600 Fuß breiten Stromes gelegene Vorstadt Praga herab, welche in den polnischen Unabhängigkeits-Kämpfen so oft genannt worden. Der Bahnhof für die Linien nach Russland, also Wilna und Brest, auf welchem wir ankommen, liegt auf dem rechten Ufer am südöstlichen Ende Pragas, — jener für die Linie Warschau-Wien (auf polnisch Warszawa-Wieden) dagegen jenseits der Stadt auf dem linken Ufer der Weichsel. Eine lange Reihe von Hotelwägen, mindestens ein halbes Hundert, ist am Bahnhofe aufgefahren. Alle sind in kürzester Zeit besetzt, und jagen der Stadt entgegen, und zwar durch die lange, schnurgrade Hauptstraße Pragas. welche jedoch durch Barrieren rechts und links so verengt ist, dass ohne das tätige Einschreiten zahlreicher Polizei an kein Durchkommen zu denken wäre.

Es ist nämlich heute Viehmarkt. Die ansehnlich breite Straße ist in ihrer ganzen Länge, mit Ausnahme des mittleren Fahrweges, mit Rindvieh und Handelsleuten, — letztere unverkennbaren Glaubensbekenntnisses, — Kopf an Kopf, besetzt. Was sich für Genremalerei und Kulturstudien hier ausbeuten Hesse, lässt sich erst würdigen, sofern man bedenkt, dass wir uns im Zentralpunkte Polens befinden, dessen achter Teil der Bevölkerung mosaischen Glaubens ist und sich ausschließlich vom Zwischenhandel ernährt.


Es ist ein nicht zu beschreibendes Gewirre. Sobald wir den Platz vor dem Bahnhofe hinter uns haben, wird uns klar, warum die Wägen sich so sehr den Vorrang abzugewinnen trachteten. Alle Augenblicke wieder Aufenthalt und Sperrung der Straße. Im Eifer des Schacherns drängt sich da und dort ein Knäuel von Tier und Menschen über die Barrieren heraus, wobei oft acht bis neun Hebräer an einer einzigen Kuh hängen. Der Polizeimann treibt sie mit erhobenem Stocke wieder zurück, um die Straße frei zu machen, in Wahrheit die Arbeit des Sisyphus!

Ein unverständliches Gesumme wälzt sich aus allen Häusern, — ausschließlich Branntweinschenken und kleinen Läden für den Detailverkauf — auf die Straße, mischt sich dort mit dem rohen Geschrei der tausendköpfigen Menge und dem Brüllen ebenso vieler Tiere. Dazu ein mephitischer Gestank, welcher diese Passage fast unerträglich macht, aber — es führt kein anderer Weg nach Warschau!

Die vereinzelten Exemplare polnischer Juden, an dem fadenscheinigen Talare und den fettgetränkten, schwarzglänzenden Schmalzlocken kenntlich, welche bisweilen sich bis Mitteldeutschland verirren, wegen ihrer Unsauberkeit oft angestaunt, geben uns noch keinen Begriff der äußerlichen Erscheinung, in welcher ihre Glaubensgenossen zu Tausenden den Viehmarkt Pragas beleben. Erstere sind geschniegelte Elegants gegen die große Masse, welche sich hier umtreibt, und in ihrem Schmutze, wie der frivol zur Schau getragenen Verlotterung jeder Beschreibung spottet. Abscheu und Ekel überfällt uns in Mitte einer Menschenmenge, deren Haar und Bart weder Schere noch Kamm kennen gelernt hat, deren bis zur Unanständigkeit lückenhafte Bekleidung vom Ungeziefer strotzen muss und eine die Luft verpestende Ausdünstung am sich verbreitet. Es drängt sich unwillkürlich die Frage auf, ob mit einem drakonisch durchgeführten Verbote der Beteiligung am öffentlichen Handelsgeschäfte für Jeden, welchem der Schacher noch nicht die Anschaffung des für alle Menschen notwendigsten ersten Kleidungsstückes abgeworfen, der persönlichen Freiheit zu nahe getreten wäre, und ob die zwangsweise Anwendung von Bädern in verdünnter Karbolsäure für solche seifenfeindliche Ebenbilder Gottes vom sanitären Standpunkte aus nicht gerechtfertigt werden könnte?

Die Ghettos zu Prag und Korn bieten durch ihren charakteristischen Gestank, ihren gassensperrenden Trödel und Quark, ihre triefäugigen Weiber und verwahrlosten Kinder dem Fremden, welchen die Neugierde durchtreibt, viel Widerliches; es kostet immer einige Selbstüberwindung, nicht in der ersten dieser Winkelgassen auch schnell umzukehren; aber ihre Bevölkerung bleibt zurück vor der äußerlichen Verkommenheit, welche die Figuren des Viehmarktes zu Praga mit einer gewissen Behaglichkeit öffentlich zum Besten geben.

Dank dem Kutscher und seinen raschen Polaken, welche uns, trotz der mancherlei Hindernisse, diesem Gewirre entführen, und über die lange, stattliche Gitterbrücke zur Hauptstadt des einstigen Polen bringen. In dem schönen, reinlichen Warschau, welches gleich rechts der Brücke sein imponierend auf der Höhe liegendes, königliches Schloss präsentiert, dessen Park sich herab bis zur Weichsel zieht, vergisst man schnell den üblen Eindruck, welchen Praga in seinem heutigen Gewände uns aufdrängte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen im westlichen Russland