Dritte Fortsetzung

Auch die Steppe mit ihren hoch-halmigen Gräsern und Rispen, ihrem eigentümlichen Blumenflor und ihrer andersgearteten Fauna, über welche träumerische Mondnacht herabglänzt und nie gestörte Einsamkeit sich lagert, hat ihre zur Poesie stimmenden Motive, so gut als die Alpen der Steiermark und das Tal von Vaucluse. Von der Steppe haben Lenaus Heidebilder und Polenlieder ihre duftenden Blüten gepflückt, von solchen bleichen Nachtbildern oder mondbestrahlten endlosen Flächen ihre tiefe Trauer entlehnt.

Es ist sicherlich unbegründet, wenn die Liebe zur und Sehnsucht nach der Heimat den Söhnen der Berge, dem Steirer, Tiroler, Schweizer und Savoyarden vorzugsweise zugeschrieben wird. Das Gemüt des Autochthonen sieht mit anderen Augen, als jenen des Fremdlings, und die ausschließliche Glorifizierung der Gebirgswelt ist — entgegen den Anschauungen der Schriftsteller des Altertums — eine veränderte Geschmacksrichtung der neueren Zeit.


Mit dem Verlassen Warschaus hat man wohl das Sehenswerteste, was Polen zu bieten vermag, hinter sich. Die weitere Fahrt in der Richtung nach Wien, auf welcher man nur die Städte Petrikau und Czenstochau berührt, ist von wenig Interesse. Bisweilen zeigt sich ein stattlicher Edelsitz, mit großen eingezäunten Wildparks, deren geweihtragende Bewohner, an die vorüberfliegende Lokomotive schon gewöhnt, in behaglicher Ruhe ihr nachschauen. Die südlichen Bezirke Polens, durch welche unser Weg führt, sind mehr der Kultur des Bodens zugänglich gemacht, während jenen des Nordens die zusammenhängenden großen Waldflächen zukommen, in welchen zahlreiches Raubwild, der Bär, Wolf und Luchs Schutz findet.

Die Dörfer nehmen sichtlich an Wohlstand und gutem äußeren Ansehen zu, je mehr wir uns der deutschen und mährischen Grenze nähern. In allen kleinen Städten Polens scheinen Truppen, namentlich Infanterie, zu stehen. Öfter fuhren wir an ausmarschierenden und keimkehrenden Abteilungen, bis zur Stärke eines Bataillons, vorüber, die Mannschaft stets in voller Feldausrüstung.

Bei Szczakowa betritt man den österreichischen Boden. Die russische Grenzbehörde auf dem Bahnhofe verlangt den Pass des das Reich verlassenden Passagiers, und gibt ihn zurück, nachdem ein mit längerer Inschrift versehener und angeklebter Zettel davon losgetrennt und zurückbehalten worden. (Auf unserem Passe war beispielsweise ein derartiger bei der Abmeldung in Petersburg angefügt worden, und enthält solcher wahrscheinlich die Bewilligung, dass man ungehindert die Grenze wieder passieren dürfe.)

Eine Zeit von drei bis vier Wochen gestattet, Vieles des Neuen und Schönen zu schauen, mancherlei Eindrücke in sich aufzunehmen, hervorragende Bilder sich einzuprägen. Diese in flüchtigen Konturen wiederzugeben, ist ein Versuch, welcher wenigstens nicht in das Gebiet des Unmöglichen sich versteigt.

Anders jedoch erscheint das Unternehmen, auf Grund einer Reise, wenn auch in der Dauer von drei bis vier Monaten, ein Reich, ein Volk in seinem ganzen Nationalcharakter, in seinen religiösen Anschauungen, seinen staatlichen Verhältnissen, seiner politischen Stellung zum übrigen Europa, endgültig aburteilen zu wollen, weshalb es auch erklärlich ist, dass seiner Zeit das oben bereits einmal erwähnte Werk Custines • „Russland im Jahre 1839 (3 Bände, 1843), welches vielfältig über das Ziel hinausschoss, Erwiderungen, wie jene von Grimm und Gretsch hervorrufen, und ebenso in der Entgegnung Yakolefs eine unbarmherzige Abfertigung erfahren musste.

Um des platten Landes willen wird Niemand das westliche Russland aufsuchen; aber Jeder wird es gerne in Kauf nehmen, um durch den Anblick der beiden Hauptstädte sich belohnt zu sehen, in Petersburg die glänzendste Hauptstadt Europas im Geschmacke der Neuzeit, in Moskau die Residenz der altrussischen Dynasten im buntfarbigen Schmucke des Orients, kennen zu lernen.

Wie durch ein mit jedem Jahre sich mehr verzweigendes Eisenbahnnetz, so wird auch dem Ausländer durch humane Verordnungen jetzt der Eintritt in das Reich, gegen früher, sehr erleichtert. Wer die Vorbedingungen zum Übertritte der Grenze und zum Aufenthalte im Innern durch einen von einer russischen Gesandtschaft im Auslande visierten Pass erfüllt hat, lebt in Russland so unangefochten, wie irgendwo. Bei der Ankunft in Petersburg ist die persönliche Vorstellung bei der Polizei-Behörde innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden geboten. Die kaiserlichen Gesandtschaften im Auslande haben die Aufmerksamkeit, von dieser Bestimmung dem Empfänger des Passes mittelst eines Abdruckes des betreffenden Paragraphen, mithin rechtzeitig, Kenntnis zu geben.

In Petersburg wurde uns bei der Präsentation des Passes, ohne spezielles Nachsuchen, die Aufenthaltsbewilligung sofort auf sechs Monate erteilt. Beim Übernachten in irgend einer Stadt ist die jedesmalige Einsendung des Passes alsbald nach der Ankunft an die Polizei-Behörde geboten. Wenn auch der Ausländer im deutschen Reiche dieser Formalität enthoben ist, so fügt man sich doch unschwer einer Bestimmung, deren Spitze nicht sowohl gegen harmlose Reisende, als gegen politische und sozialdemokratische Agitatoren gerichtet sein dürfte. Zudem ist die Behandlung von Seite der Beamten im Allgemeinen eine so höfliche, oft zuvorkommende, dass die Unterwerfung unter die stramm aufrecht erhaltenen Verordnungen sehr erleichtert wird.

Wie man im fremden Klima, sei es im tiefen Süden oder im Norden, nicht besser tun kann, als um gesund zu bleiben, sich in Kleidung, Speise und Trank nach den Gewohnheiten der Einwohner zu richten, so empfiehlt sich nicht minder, im Thun und Lassen sein Benehmen der Landessitte tunlichst anzupassen. In Russland werden Gespräche politischen und religiösen Inhalts herkömmlich nirgends geführt, und diese löbliche Sitte schützt vor möglichen Unannehmlichkeiten.

Sofern in Russland die Berufsklassen noch strenge abgegrenzt sind, und die Stände sich schärfer unterscheiden, als in den übrigen Ländern Europas, ist auch das System der Arbeitsteilung in festeren Rayons aufrecht erhalten, und es bleibt somit folgerichtig das Regieren ausschließlich der Regierung überlassen.

Was dem Ausländer auf russischem Boden m anfänglich am auffallendsten erscheinen muss, sind die äußerlichen Förmlichkeiten des griechischen Ritus, das vielfältige Bekreuzen, die wiederholten Verbeugungen vor jeder offenen Kirchpforte, wie auch in der Kirche das Küssen des Bodens und der auf den Altären unter Glas eingelassenen Reliquien, zu deren Verehrung sich schon die auf dem Arme der Mütter getragenen Kinder mit ausgestreckten Händchen gewissermaßen drängen.

So streng jedoch der Russe auf diese Gebräuche seiner Kirche hält, so wenig artet seine Frömmigkeit in Intoleranz gegen Andersgläubige aus, indem Niemandem einfällt, von dem Fremden die Nachahmung dieser äußeren Formen zu verlangen.

Weder in Petersburg, noch in den von Wallfahrern wimmelnden Kathedralkirchen des Kremls zu Moskau, wird ihm der Besuch des Gotteshauses hierdurch erschwert, sowenig Jemand versucht, ihm das Umhergehen und Betrachten der aufgehäuften Schätze, selbst während des Gottesdienstes, zu verwehren.

Über die wohlwollenden Absichten und die erleuchtete Regierung des jetzigen Kaisers, Alexander II., herrscht unter den Deutschen nur eine Stimme. Die gleiche Anschauung soll unter den einzelnen Stämmen des russischen Volkes eingewurzelt sein. Eine flüchtige Aufzählung der Gesetze der letzten Jahrzehnte, welche alle das Gepräge der unverkennbarsten Humanität an sich tragen, würde uns zu weit führen. Wo die Bestrebungen, im Gebiete des Unterrichts, des Handels, der Industrie, der Technik etc. etc. den westeuropäischen Staaten schneller zu folgen, weniger rasch die vollendete Tatsache krönt, da sind sicher stets riesige Hindernisse zu überwinden, deren mächtigste die übergroßen Entfernungen und die dünne Bevölkerung sind.

Mit diesen beiden Faktoren lässt sich schwerer rechnen, als mit finanziellen Rücksichten.

Was in Russland fehlt , sind vor allem — Einwohner. Wenn statt der 80 Millionen Seelen, welche sich auf 380.000 Quadratmeilen spärlich verteilen, deren 800 sein würden, dürfte sich die stolze Hoffnung der russischen Nation noch schneller verwirklichen, nämlich ihre innig gehegte Überzeugung: „La Russie est le pays de l’avenir!"
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen im westlichen Russland