Sechstes Kapitel

Nach Polen. — Praga. — Warschau. — Polnische Juden. — Kosaken. — Allgemeine Rückblicke. — Schluss.

Finis Poloniae! war Kosciuszkos Ausruf, als er im Treffen bei Maciejowice tödtlich verwundet vom Pferde sank. Polonia finis möchten wir anklingend das letzte Kapitel unserer Wanderungen im westlichen Russland betiteln, und werden damit für dieses Mal die Feder niederlegen.


Polen, die größte zusammenhängende Ebene Europas, ist nichts weniger als von landschaftlicher Schönheit, und besitzt außer der Hauptstadt nicht mehr als zwei Städte von einiger Bedeutung. Das Interesse, welches sich im Allgemeinen an seinen Namen knüpft, beruht fast ausschließlich auf seiner Geschichte, und es bleibt eine lohnende Studie, die Glanzperiode , wie auch die Zähigkeit im Zerfallen dieses einst bedeutenden zentral-europäischen Reiches zu verfolgen, welches nach einer ersten und zweiten Teilung in den Jahren 1772 und 1793, noch einer dritten 1795 bedurfte, um in der inneren Zerrüttung und Verwirrung zur weiteren Existenz unfähig geworden, seiner endlichen Auflösung entgegen zu gehen.

Der Friede von Tilsit rief bekanntlich 1807 noch einmal ein ephemeres Großherzogtum Warschau ins Leben, welches jedoch nach Napoleons Untergang, und in allen seinen Hoffnungen durch ihn bitter getäuscht, im Jahre 1815 auf dem Wiener Kongress für immer aus der Reihe der selbstständigen europäischen Staaten gestrichen wurde.

Den Höhepunkt seiner Macht hatte Polen in der Mitte des 16. Jahrhunderts erreicht, wo es mit einem Flächeninhalte von dreizehntausend Quadratmeilen der erste Staat im Osten Europas geworden, und nebst der jetzigen preußischen Provinz Posen, Westpreußen und Ermeland, Kurland, Livland, Litauen (die jetzigen russischen Gouvernements Wilna und Grodno) u. s. w. in sich vereinigte.

Der dagegen verhältnismäßig geringe Landesteil, in welchem sich der Name dieses untergegangenen Großstaates noch erhalten hat, fällt mit den Grenzen jenes Gebietes zusammen, welches als Königreich dieses Namens, durch Personal-Union mit dem Reiche seines Herrschers, des Kaisers von Russland, verbunden, — bis in die neuere Zeit bestand. Es zählt gegen 2.331 Quadratmeilen mit etwa fünf Millionen Einwohnern, und ist jetzt dem Gesamtstaate einverleibt.

Wessen Erinnerungsvermögen noch auf das Jahr 1830 zurückreicht, gedenkt sicherlich der Zeit, in welcher die zahlreichen polnischen Flüchtlinge auf ihren Reisen durch Deutschland, eine mehr als gastliche Aufnahme fanden. In vielen Städten waren förmliche Einquartierungs-Büreaus errichtet, um den Wetteifer der Gastfreundschaft regeln zu können. Im Triumphe wurden die Polen heimgeführt, bewirtet und für deren Weiterreise reichlich Sorge getragen.

Die beliebten Polenlieder „Denkst du daran", „Noch ist Polen nicht verloren", „Die letzten Zehn vom vierten Regiment", durften bei keiner musikalischen Produktion fehlen, und mussten sich, in alle möglichen Taktformen gezwängt, zu Potpourri's, Märschen und selbst Galoppaden verarbeiten lassen. Man tanzte Mazurka, und bekleidete die Knaben mit der Ulanka!

Die hochgehenden Wogen der Begeisterung haben sich jedoch im Laufe von mehr als vier Dezennien vollkommen gelegt, die damals lodernde Flamme der Sympathie verlosch, wohl meistens, von Jahr zu Jahr mehr gedämpft, durch die Erfahrung, das revolutionäre Polen bei allen Insurrektionen des Auslandes beteiligt zu sehen.

Wer aus dem mittleren Russland kommt, wie wir, hat sich an Wald und Wald so zur Genüge satt gesehen, dass schon der, wenn auch nicht malerische, doch durch seine Abwechslung das Auge erfreuende Feldbau der, polnischen Ebenen mit einem gelinden Behagen erfüllt. Als Gegensatz zu den letztberührten Gouvernements Mittelrusslands ist es ein hauptsächlich ackerbautreibendes Land, obgleich auch die Waldwirtschaft von großer Bedeutung ist. Etwa ein Drittel der gesamten Bodenfläche kommt auf Ackerland, ein Drittel auf Wiesen und Weiden, ein Drittel auf Waldung. Durch diese richtige Verhältniszahl ist sowohl der Bodenkultur als der Viehzucht Rechnung getragen und deren Wechselwirkung — die Basis jeder rationell betriebenen Landwirtschaft — in zweckentsprechende Proportion gebracht.

Große Herden Rindvieh, meistens von einem oder zwei berittenen Hirten auf anscheinend wohl trainierten Rossen fleißig umjagt, weidende Pferde, bisweilen in dichten Rudeln, nehmen unsere Aufmerksamkeit um so mehr in Anspruch; als seit mehreren Tagen derartig belebte Landschaften unserm Auge nicht mehr erschienen. So vergeht die etwa fünfstündige Fahrzeit von Brest-Litowsk (auch Litewsk) bis Warschau verhältnismäßig rasch, obgleich längs dieser Strecke keine volkreichen Städte (Terespol, Siedlce) oder pittoreske Veduten den fortwährenden Wechsel von Wiese, Wald und Feld unterbrechen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen im westlichen Russland