Vierte Fortsetzung

Wie die russischen Waggons überhaupt mit allen Bequemlichkeiten ausgerüstet sind, dass man Tage lang nicht auszusteigen braucht, so ist auch ein Verlassen derselben zum Zwecke des Essens und Trinkens nur in den seltenen Hauptstationen angezeigt, und Jedermann tut wohl, sich mit Lebensmitteln vorzusehen. Der Russe ist auf Grund dieser Frfahrungen auch für weitere Fahrten praktisch eingerichtet. Nie fehlt bei seinem Reisegepäcke neben warmen Decken ein mächtiges Kopfkissen und ein ansehnlicher Vorrat von papyros (Zigaretten), welche bei der kurzen Dauer derselben er stets wieder durch eine andere zu ersetzen nicht ermüdet.

Bei dem Damen-Handgepäcke gesellt sich hierzu in der Regel noch ein kleiner Teekessel. Auf Verlangen wird, auch an kleinen Stationen, gegen eine Remuneration von einigen Kopeken heißes Wasser durch das Fenster hereingereicht, so dass der zu jeder Stunde des Tages wie der Nacht sehr beliebte Tschai (Tee) bereitet werden kann. Wenn dann der Kessel anheimelnd seinen brodelnden Inhalt durchrinnen lässt, und die Besitzerin mit dem Ausdrucke innerer Zufriedenheit den lieblichen Duft einsaugt, wird auch bald die feine, weiße Hand den mit Stempelpapier umklebten kleinen Karton hervorholen und dem schönen Munde eine Zigarette zuführen.


Sich gegenseitig um Feuer zu bitten, ist allgemein, und wird auch selbst ein stummes Ersuchen von keiner Dame übel genommen. Es besteht dort gewissermaßen eine Art von Freimaurer-Bund zwischen allen Rauchenden, dessen erster und liebenswürdiger Paragraph die gegenseitige Unterstützung zur Erreichung des hohen gemeinsamen Zweckes ist. Als ich mich einst vergeblich mit einem eigensinnigen Zündhölzchen abmühte, reichte mir eine Dame in Trauer, gesetzten Ansehens, verbindlich ihre Zigarette dar, ohne dass wohl in dieser Gefälligkeit die geringste Avance gesucht werden darf.

Die Sitte des Rauchens ist gewiss in keinem Lande so allgemein unter allen Ständen der Gesellschaft, wie beiden Geschlechtern, verbreitet. Der Konsum an Zigaretten muss ein ganz außerordentlicher sein, indem selbst jüngere Damen sich dieselben aneignen. Um so auffallender erscheint es, dass jenseits der Ostsee bei den schwedischen Nachbarn diese Gewohnheit gar keinen Anklang gefunden hat, und der Tabak nur bei den niederen Ständen, wo das Kauen an der Tagesordnung ist, Verwendung findet. Die aus dem Inlande bezogenen und zu verarbeitenden Tabake liefert hauptsächlich die Ukraine, die Krim und das Gebiet der Wolga.

Am zweiten Abende, zwischen sechs und sieben Uhr, erinnert der Ausruf des Kondukteurs: „Station Borissow!" dass wir uns in der Nähe der geschichtlich ewig denkwürdigen Stelle befinden, wo der schreckliche Übergang über die Beresina stattgehabt.

Aus der Kriegsgeschichte ist bekannt, dass dieser Fluss, und namentlich dort, wo er überschritten werden musste, langsam in seinen flachen, überall mit Rohr und Schilf bewachsenen Ufern dahin schleicht. In der trockenen Jahreszeit ist er ziemlich seicht, aber breite, morastige Wiesen dehnen sich längs seiner Ufer auf beiden Seiten aus. So lautete die Charakteristik der Beresina anno 1812, und heute nach zwei und sechzig Jahren überzeugt der Augenschein, wie dieselbe nach dem Wortlaute noch zutreffend ist.

Mit bedeutenden Krümmungen windet sich der träge Fluss, höchstens von einer doppelten gewöhnlichen Landstraßen Breite, durch ein mehrere hundert Fuß breites, sumpfiges Wiesenland, in welchem teilweise das Wasser vorschlägt. Er ist trübe, schlammig und lässt nicht auf den Grund sehen. Die niedrigen Erhebungen des Terrains, welches das nicht bedeutend eingeschnittene Bett dieses — mit dem Rubikon an Berühmtheit wetteifernden — Gewässers cotoyieren, sind abermals vorherrschend mit Wald bedeckt, welcher vielleicht seit dem Kanonendonner von Studenki — außer dem Geschrei der kreisenden Raubvögel und dem Geheul der Wölfe — selten mehr seine Todtenstille unterbrochen hörte!

Am 26. November 1812, an welchem Tage die retirierende Armee den Übergang begann, war die Beresina teilweise über ihre niedrigen Ufer getreten, und wälzte, da nach kurzem Tauwetter am 24. wieder Frost gekommen war, Massen von Treibeis daher. Zum Scheine hatte Napoleon bei der kleinen Stadt Borissow (über 5.000 Einw.) alle Anstalten, welche auf ein Überschreiten des Flusses schließen ließen, treffen lassen, während bei dem nordwestlich gelegenen Studenki unter unsäglichen Anstrengungen der Pontonniers und des Marine-Corps der Garde zwei Holzbrücken zu Stande gebracht wurden. Das Corps Oudinot, welches zuerst übergegangen war, hatte gleich Gelegenheit, die jenseits der Beresina ihr den Weg verlegende Division Tscheplitz anzugreifen und zurückzuwerfen. Am 27. folgte Napoleon mit der Garde, aber da es den Brücken an Festigkeit gebrach; und durch die öfteren Ausbesserungen stets Hemmungen entstunden, wuchs die Masse der des Übergangs Harrenden und namentlich des Trosses und Wagenparks immer mehr an. Dazu verbreitete sich die Nachricht, dass Kutusows Armee im Rücken anmarschieren; diese Ereignisse, im Bunde mit der hereinbrechenden finstern Nacht, veranlassten jenes schauderhafte Gedränge, in welchem die Unglücklichen, nur noch den einen Gedanken der möglichen persönlichen Selbsterhaltung im Auge, sich gegenseitig in den Tod stürzten!

Die mörderische Schlacht, mit welcher der Übergang über die Beresina endigte, hatte der französischen Armee nochmals 10.000 an Toten, Verwundeten durch Feindeshand und Ertrunkenen gekostet, wie auch der ganze Tross mit 20.000 Mann in die Hände der Russen fiel.

An der Beresina spielte der letzte Akt des weltgeschichtlichen Dramas. Wenn auch in fast täglichen kleinen Plänkeleien zwischen den Trümmern der großen Armee und den nachdrängenden Russen mitunter noch das Gefecht zum Stehen kam, war das Geschick der Franzosen doch mit jenem Übergange entschieden worden. Von den sämtlichen Armee-Corps, welche Napoleon über den Niemen geführt hatte, und mit ihnen bis Moskau vorgedrungen war, wälzte sich nach nicht vollen fünf Monaten nur noch eine Musterkarte von etwa vierzigtausend Köpfen daher, von denen mehr als ein Viertheil ohne Waffen war, moralisch und körperlich gebrochen!

Um Mitternacht hält der Zug bei der ziemlich entfernt, rechts auf unbedeutender Höhe liegenden Stadt Minsk (über 36.000 Einw.), wo die Verbindungsbahn nach Wilna, in nordwestlicher Richtung abzweigt.

Von hier an fällt unsere Reise nicht mehr mit der Marschroute der großen französischen Armee des Jahres 1812 zusammen, da bekanntlich Napoleon von Minsk aus sich bestrebte, mit den gesammelten Resten Litauen zu erreichen, und sich seiner dort gesammelten Vorräte zu versichern. Nicht minder ist bekannt, wie auch diese Hoffnung vereitelt worden und der weitere Rückzug über den Niemen die nächste Folge war.

Noch den größten Teil einer Nacht haben wir vor uns, um die einförmigen Gouvernements von Minsk und Grodno in ihrer Breite zu durchreisen. Die achte Stunde des Morgens erst bringt uns Erlösung, wo wir im Bahnhofe der starken Festung Brest-Litowsk (über 22.000 Einw.), zunächst der vormals polnischen Grenze am Bug gelegen, einen angenehmen, mehrstündigen Aufenthalt gewährt erhalten, bis der Zug nach der Hauptstadt des einstigen Polenreiches abgeht.

Es war, — wie vor Augen liegt, — nicht unsere Absicht, eine zusammenhängende Geschichte (wenn auch in den engsten Umrissen) der zweiten Hälfte des Kriegsjahres 1812 zu geben. Wir versuchten nur, beim Anblicke so vieler historisch gewordener Orte, welche dem großen europäischen Weltverkehre weit abseits liegend, fast sechs Jahrzehnte vom Schleier der Vergessenheit bedeckt waren, ebenso angesichts der stummen Zeugen des höchsten Opfermutes und militärischer Tugenden, wie sie die Geschichte aller Zeiten nur je verzeichnen wird, — an Ort und Stelle der hinübergegangenen Generation, dabei namentlich der 30.000 Bayern, welche in Russland ihren Tod fanden, mit schuldiger Pietät zu gedenken!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen im westlichen Russland