Fünftes Kapitel

Von Moskau über die Schlachtfelder von 1812. — Mosaisk. — Smolensk. — Im Eisenbahn-Coupe. — An der Beresina.

Es war am 14. und 15. September 1812, als die französische große Armee, wonnetrunken von dem Anblicke der Paläste, der vergoldeten Dome und unabsehbaren Häuser-Massen des prächtigen Moskau, in die altrussische Hauptstadt einzog, und die erlebten Strapazen, welche der dreimonatliche Marsch, seit das Gros den Niemen überschritten hatte, ihr auferlegt, nun behaglich vergessen zu können, träumte.


Am Morgen des dritten Tages begann jedoch auch der verheerende Brand, mit welchem Rostopschin, das gehoffte Capua den Franzosen vereitelnd, binnen acht Tagen mehr als 13.800 Häuser und Paläste in Asche legte, so dass nur der prachtvolle, die Stadt ringsum beherrschende Kreml und etwa der zehnte Teil aller Gebäude unversehrt blieb. Erst nach fünf Wochen, am 19. Oktober, hielt es Napoleon an der Zeit, seine Armee aus den endlosen Trümmerhaufen, welche ein rasendes Feuermeer aus eleganten Straßenzeilen in weite Schauerstätten des Todes und der Verwesung verwandelt hatte, zurückzuführen, für ihn ein harter, aber von der unerbittlichen Notwendigkeit diktierter Entschluss!

Wenn er selbstverständlich hierzu den graden, mithin kürzesten Weg zu nehmen gezwungen war, so trifft dieser aus gleichen Gründen mit der heutigen Bahnlinie von Moskau zum Bug zusammen, da bei der geringen Bevölkerung und den wenigen Städten von einiger Bedeutung, für ein erhebliches Abweichen von der alten Heerstraße bei Anlage dieser hauptsächlich strategischen Zwecken sich anpassenden Bahnlinie ein Anlass nicht gegeben sein konnte. Aber grade durch dieses Zusammentreffen gewinnt die an landschaftlicher Schönheit nichts bietende Eisenbahnreise von 1.023 Wersten (gegen 300 Stunden) von Moskau zur polnischen Grenze ein hohes Interesse, sofern man an der Hand der neueren Geschichte diese weiten Landstriche durchfährt, an welchen, durch die Verhältnisse bedingt, seit 62 Jahren Kultivierung und Anbau wenig oder nichts geändert haben.

Auf den ausgedehnten Schlachtfeldern von Leipzig und Waterloo sind es die verschiedenen Monumente, welche dem veränderlichen Zustande solch' stark bevölkerter Flächen, wo ein halbes Jahrhundert die Anhaltspunkte teilweise verwischen würde, tunlichst entgegenwirken, und bei Aufsuchen der wichtigeren kriegsgeschichtlichen Objekte als Richtpunkte dienen.

Anders jedoch ist es in den hier zur Sprache kommenden, dünn bevölkerten Gouvernements Mittelrusslands, nämlich von Grodno, Smolensk und Minsk, wo Waldflächen die Hälfte des ganzen Areals bedecken und die Bevölkerung auf 1.362, 1.174 und sogar 684 Seelen per Quadratmeile herabsinkt.

Dass unter solchen Umständen die Bewachsung und übrigen Bodenverhältnisse seit dem Jahre 1812 fast unverändert geblieben sein mögen, dürfte anzunehmen sein, und die hauptsächlichste der dem Auge wahrnehmbaren Wandlungen wird sich auf die etwa 60 bis 70 Schritte breit durchforstete Waldlichtung beschränken, in deren Mitte ohne erhebliche Schwierigkeit das Schienengeleise gelegt worden, ohne im Übrigen den Charakter der Gegend auch nur im mindesten dadurch zu verändern.

Was die Geschichte mit ehernem Griffel in ihre Tafeln geschrieben hat, ist unvergänglich, aber die Zeit lässt die Tinten blässer werden. Neue Ereignisse drängen die früheren in den Hintergrund, und so ruht es nur in einem natürlichen Gesetze, wenn Borodino und Smolensk seit Solferino, Sadowa und Sedan wenig mehr genannt werden. Haben sich ja auch die Helden jener Tage, wie fast alle ihre Coätanen, zur ewigen Ruhe gelegt , und wo die gütige Vorsehung einem einzelnen Überlebenden das Auge noch nicht geschlossen, da will es doch bald Abend werden.

Selbst wenn man im bequemen Wagen und, wie wir, bei völlig wolkenlosem blauem Himmel oder heller Sternennacht, wo die volle Mondscheibe durch die dunkeln, gleichförmigen Nadelwälder blitzt, über diese endlosen Strecken dahinfliegt, mag uns bisweilen ein wehmütiges Gefühl der Einsamkeit beschleichen. Mehr wie je sind wir dann auch befähigt, in dieser Gemütsstimmung die Vorstellung in uns aufzunehmen , wie die Lage jener Tausende gewesen sein müsse, monatelang unter nie ruhender Verfolgung eines unerbittlichen Feindes, in der fürchterlichsten Dezemberkälte, in Lumpen und ohne jede Nahrung, — jeder Orientierung bar, außer jener, welche Auf- und Niedergang der Sonne gibt, — durch dieses Gestrüppe, Schritt für Schritt, sich durchzukämpfen, um fern von der Heimat endlich doch zu erliegen! An der Beresina —

Doch wir vergessen, dass unser Zug den Westbahnhof Moskaus noch gar nicht verlassen hat, indessen der Gedankenflug der weiten Strecke, welche wir bis zu ihr zurückzulegen haben, entfesselt voraneilte.

Während wir zu Moskau vom Gasthofe nach dem Warschauer Bahnhofe fahren, kommen wir in einer schönen breiten Straße an einer Brandstätte vorüber, wo seit dem gestrigen Abende fünf Häuser in rauchenden Trümmern liegen. Am Nachmittage unserer Ankunft signalisierten die in den einzelnen Stadtteilen (wie auch in Petersburg) erbauten Feuerwachttürme ebenfalls zwei verschiedene Brände, mittelst ihrer auf der Plattform aufgestellten optischen Telegraphen. Es findet hierin seine Bestätigung, dass Feuerallarm in Moskau zu den täglichen Vorkommnissen gehört, obgleich bei den breiten Straßen und den niedrigen Gebäuden des weit auseinander liegenden Moskau besondere Gefahr dadurch nicht entsteht, und nur der betreffende Stadtteil in einige Aufregung versetzt wird.

Auf dem Bahnhofe selbst ist ein großer Andrang von Reisenden zu unserem Abendzuge, erklärlich durch die Größe der Stadt, die geographische Lage derselben im Zentrum des europäischen Russlands und ihre Eigenschaft als Hauptsitz des Binnenhandels für alle Produkte, welche der reiche Süden, Kaukasien, Persien und die Hinterländer des nahen Asiens ihr zuführen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen im westlichen Russland