Fünfte Fortsetzung

Die Eisenbahn bringt uns von der Hauptstadt in einer kleinen Stunde dahin, anfangs über monotone Haiden, sobald man jedoch die vergoldeten Kuppeln und Türme der Schlosskirche aus dem Dunkel des Waldes auftauchen sieht, hält der Zug auch nach wenigen Minuten im Bahnhofe.

Man muss die breiten, graden Straßen der regelmäßigen, hübschen Stadt durchfahren, bis man das, mitten in hohen Eichen und Buchen versteckte, Schloss mit seiner mächtigen Fassade plötzlich vor sich hat.


Die Natur hat für das ziemlich flach liegende Zarskoje-Sselo wenig getan, aber die Zusammenwirkung der Kunst desto mehr. Die nebeneinander gereihten Prunksäle des Schlosses sind eine nicht minder reiche Wiederholung des Winterpalastes und eine Beschreibung der hier entfalteten Pracht auch nur annähernd geben zu wollen, wäre vergebliche Mühe. Der größte der Säle, welcher mit Vergoldung wahrhaft überladen ist, hat dreizehntausend Quadratfuß, mithin beinahe den dritten Teil eines bayerischen Tagwerks. Unter den für die vormals kleinen Großfürsten bestimmten Zimmern findet sich ein Turnsaal (auch mit der in Russland beliebten Rutschbahn versehen), welcher mit seinen Apparaten wohl die eleganteste Schule für Gymnastik sehen lässt, welche überhaupt irgendwo existiert. In der Bibliothek stehen die Modelle aller im russischen Heere eingeführten Geschütze und Kriegsfahrzeuge, ebenso auf einer Galerie, welche oben um die Wand mehrerer Zimmer sich fortsetzt, die etwa ein und einen halben Fuß großen Repräsentanten aller der verschiedenen Gattungen russischer Reiterei, die Ausrüstung von Mann und Pferd mit minutiöser Gewissenhaftigkeit nachgebildet. Es ist eine stattliche Anzahl und jedenfalls zu groß, um die einzelnen, mitunter sehr malerischen Trachten dieser Völkerschaften, namentlich aus dem Süden und Osten des Reiches, im Gedächtnisse zu behalten. Welcher Unterschied |in der Bewaffnung und der Kostümierung, vom Kavalleristen der kaiserlichen Chevalier Garde bis zum Bewohner der turkestanischen und chinesischen Grenzgebiete, — gleichwie vom modernen Hinterlader neuester Konstruktion bis zur langen Vogelflinte des Orientalen und dem Bogen und Pfeilköcher des Persers! Alle Waffen finden sich hier vertreten, und bilden die regulären Kosaken, von denen man z. B. in Petersburg gegen Abend stets kleinen Patrouillen von zwei Pferden begegnen kann, den Übergang vom europäischen Reiter zum Asiaten.

In Spiegeln, Vergoldungen, Damasten und Möbelstoffen, in chinesischen und japanischen Geschirren trägt Zarskoje-Sselo einen unbeschreiblichen Schmuck zur Schau. Jaspis, Achat und Porphyrsäulen, ein ausschließlich mit Bernstein ausgelegtes, ein anderes in Perlenmutter gehaltenes Zimmer, Malachit-Vasen und Gobelins wechseln in ermüdender Pracht mit einander.

Dazu ist der Wald so nahe, dass an den beiden Seitenflügeln des Schlosses das Laub der hohen Bäume fast an die Fenster streift, und eine träumerische Waldeinsamkeit, nur unterbrochen vom Schlagen der Nachtigallen, uns vorspiegeln möchte, ein Zauberspruch habe dieses goldene Kaiserschloss aus dem Gewimmel der Hauptstadt in die stille Nacht mächtig zum Himmel strebender Eichen und Ulmen getragen.

Alles Lärmende ist durch den Park selbst so weit weg gerückt, dass die idyllische Ruhe nichts stören kann, und kein Wagengerassel der Troiken des Adels, keine Trompetensignale der garnisonierenden Regimenter bis zu ihm reichen, und doch wieder genug nahe, um auf einen Befehl des Kaisers sofort den glänzendsten Hofstaat vorfahren und lange Linien kaiserlicher Truppen der Garde aufmarschieren zu lassen!

Dass der Hof unter seinen verschiedenen Schlössern Zarskoje-Sselo als Lieblingssitz auszeichnet, ist sehr erklärlich, wenn man diesen Aufenthalt (zwischen dem neun und fünfzigsten und sechzigsten Grade der nördlichen Breite gelegen), welcher die Öde der Hauptstadt ganz vergessen lässt, in seinen einzelnen Schönheiten zu sehen, Gelegenheit hatte.

Mag immerhin Petersburg im Winter, wo die Newa gefroren ist, — Tausende von Schlitten durch die breiten Prospekte oder den Quais entlang fliegen, alle Theater geöffnet sind, prächtige Ballfeste die Salons der Fürsten in tropische Wintergärten verwandeln, — in dieser Art einzig auf Erden sein, so ist ein Besuch der Metropole des Nordens im hohen Sommer nicht minder glücklich gewählt, und Peterhof, wie Zarskoje-Sselo im reichsten Blumen- und Laubschmucke gesehen zu haben, wiegt Schlittenfahrt und Ballett einigermaßen auf.

Das nahe Alexandraschloss sollte man eigentlich vor jenem von Zarskoje-Sselo besichtigen, weil, nach dem Beschauen des letztgenannten Hauptschlosses, das erstere zu sehr in den Hintergrund gedrängt wird.

Wohl nirgends werden so ungeheure Summen auf Hortikultur und Blumenzucht verwendet, als in Petersburg und seiner Umgebung. Auf den kaiserlichen Schlössern wird in dieser Hinsicht das nur Mögliche geleistet, und so ist auch der Park von Zarskoje-Sselo, wie alle kaiserliche Gärten mit einer Sorgfalt [gepflegt, dass die konsequente Durchführung einer solchen Reinlichkeit fast unbegreiflich ist.

In dem ganzen weiten Areale ist auf keinem Fuß- wie Fahrwege ein abgefallenes Blättchen zu finden, so wenig als die Fußspur eines Menschen oder das Geleise eines Wagens; die Oberfläche der Teiche ist allenthalben spiegelrein, und doch sah man nirgends einen Gartenarbeiter. Es scheint, dass Alles schon vor Anbruch des Tages besorgt worden sei, was allerdings im Juni und Juli, wo es bekanntlich nicht dunkel, sondern nur etwas dämmerig wird, ausführbar erscheint.

Den Weg zu dem eine Gehstunde entfernten „Paulowsk", wohin die Eisenbahn noch fortgesetzt ist, machten wir zu Fuß. Am Ende des Parks von Zarskoje-Sselo, bei der Kaserne eines Kavallerie Regiments der Garde, beginnt eine schnurgrade, breite Allee, bis man abermals Wald, und in ihm die jedem Petersburger wohl bekannte Restauration von Paulowsk erreicht.

Hier, in diesen Sälen, wie im weiten Rondelle der mit Tischen, Bänken und zahlreichen Gaskandelabern versehenen Veranden fühlt man sich wie nach Deutschland zurückversetzt, und glaubt sich bei Kroll in Berlin oder im Tivoli von Hannover zu befinden. Es ist der Vereinigungspunkt des eleganten Mittelstandes der Hauptstadt, wo in den kurzen Monaten der warmen Jahreszeit die berühmten Symphonie-Konzerte unter Bilsens Dirigentenstab täglich ein zahlreiches Publikum anlocken. Es bedarf keiner Versicherung, dass die weiten Räumlichkeiten, aber auch die Preise diesem, viel Champagner konsumierenden Teile der Petersburger Bevölkerung angemessen sind.

Dass das Leben in den beiden Hauptstädten Russlands auf einem andern Wert des Geldes fußt, als in den Ländern Zentral-Europas, ist längst bekannt, somit schauen deutsche Geldbeutel verdrießlich drein, wenn z. B. der feinste Bordeaux, wie auch der Heidsik mit fünf, sechs und acht Rubeln angesetzt sind, und eine Portion „Botwinja", die beliebte kalte Suppe des Gourmands (aus Kraut, Beeren, Gurken, Stückchen Lachs oder Sterlet, geröstetem Brot und Stückchen Eis! zusammengesetzt) mit einem und einem halben Rubel berechnet wird!

Um diesen letzteren Preis lässt sich jedoch auch einfach dort Mittag essen, wobei man vier vorzügliche Gerichte erhält, und den Gefahren der unverständlichen russischen Speisekarte und somit möglichen Enttäuschungen, entgeht. Einschlüssig eines Glases Bier zu fünfzehn und einer Tasse Kaffee zu dreißig Kopeken, hat man mithin für etwas über zwei Thaler eine ganz ausreichende Mahlzeit und tut besser, sich den Champagner bis zur glücklichen Rückkehr in die Heimat aufzusparen.

Die Gärten von Paulowsk, wie auch das Schloss selbst sind räumlich beschränkter, als Zarskoje-Sselo, aber romantischer situiert und zeichnen sich durch den Reichtum der verschiedenen Baumarten aus, welche in ihrer Schönheit und Üppigkeit vergessen lassen, dass ihr grünes Laubdach, unter welchem wir wandeln, nur durch Kunst dem hohen Korden aufgezwungen werden konnte!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen im westlichen Russland