Johann Christian Gentz

Tor! wer die Augen nach dem Jenseit richtet,
Sich über Wolken seinesgleichen dichtet!
Er stehe fest und sehe hier sich um,
Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm.
Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen,
Was er erkennt, das will er auch ergreifen.

Fast unmittelbar neben dem Michel Protzschen Hause, dem Gustav Kühnschen schräg gegenüber, lag das Gentzsche Haus, so geheißen nach Johann Christian Gentz, der hier, durch fast ein halbes Jahrhundert hin (und dann sein Sohn), ein für Ruppiner Verhältnisse großes kaufmännisches Geschäft hatte. Johann Christian war ein Original und zugleich ein Mann, der, innerhalb der gewerblichen und merkantilen Welt, von der Pike an gedient hatte. Derartige Persönlichkeiten haben in ihren Lebensgängen immer etwas Verwandtes: sie finden eine Stecknadel, heben sie sorglich auf und heften schließlich mit dieser Stecknadel ein Adels- respektive Grafendiplom an ihre Gobelinwand, oder aber sie gehen, spekulativer angelegt, an der Stecknadel vorüber, beteiligen sich, unter Einzahlung eines Minimalbeitrages, an irgendeiner wundertätigen Sparkassengründung und endigen mit Erbauung von Schulen und Kirchen und Christianisierung eines meistbietend erstandenen Südsee-Archipels. England und Amerika sind reich an solchen Erscheinungen. Mitunter lenken sie nebenher auch noch ins Politische über, zeigen einem verblendeten oder auch nicht verblendeten Fürsten den »Abgrund, an dem er wandelt«, und werden schließlich auf einem Gruppenbilde (Hautrelief in Marmor) in irgendeiner Guildhall zur Bewunderung und Nacheiferung kommender Geschlechter ausgestellt.


In diese Gruppe gehörte nun unser Johann Christian Gentz sicherlich nicht. Der historische Stil war ihm fremd; er war ganz und gar Genre. Die Geschichtsbücher werden deshalb nichts von ihm zu vermelden haben; der »Kenner« aber, der aparten Erscheinungen liebevoll nachgeht und das Beachtens- respektive Berichtenswerte nicht bloß da findet, wo Glockenklang und Kanonendonner ein Leben begleiten, ein solcher wird sich an einer Gestalt wie die des »alten Gentz« immer herzlich erfreuen, weil sie, mit Vermeidung alles alltäglich Wiederkehrenden und blassen Allgemeinen, so viel farbenfrische Lokaltöne zeigt. Eine Figur wie die seinige war nur in der Mark und innerhalb dieser vielleicht nur wieder im Ruppinschen möglich, denn er hatte nicht bloß kleinbürgerliche Verhältnisse (wie sie dieser Grafschaft eigentümlich sind) zur Voraussetzung, sondern baute seinen Reichtum auch auf etwas spezifisch Ruppinschem auf: auf dem Torf. Soll er in wenig Strichen charakterisiert werden, so darf man sagen, er war eine merkwürdige Mischung von Schlauheit und Bonhommie, von innerlicher Freiheit und äußerlichem Sich-Schicken, von Pfennigängstlichkeit und Unternehmungskühnheit, alles auf Grundlage tief eingewurzelten und mit Vorliebe gepflegten Spießbürgertums.

Der äußere Gang seines Lebens ist bald erzählt. Von illustrierenden Zügen füg ich nur einzelnes hinzu.

Johann Christian Gentz wurde den 26. Juli 1794 geboren. Sein Vater war ein kleiner Tuchmacher, und der Sohn trat mit dreizehn Jahren in das väterliche Handwerk ein. Dann kamen Wanderjahre. 1820, inzwischen von seinen Kreuzundquerzügen zurückgekehrt, verheiratete er sich mit Juliane Voigt und erstand von ihrem Vermögen, 2000 Taler, ein kleines Eisen- und Kurzwarengeschäft, das sich schon damals in dem eingangs erwähnten Hause (dem Gustav Kühnschen schräg gegenüber) befand. Er fühlte was vom Handelsgeist in sich, und diesem Geiste folgend, ging er bald von dem Eisen- und Kurzwarengeschäft zum Bank- und Wechselgeschäft über; endlich wurde das Wustrauer Luch erstanden und Gentzrode gegründet, über welche Gründung ich, am Schluß dieses Bandes, in einem besonderen Abschnitt ausführlich berichte. Diese Gründung von Gentzrode war das letzte große Unternehmen. Aber ehe die Tausende dafür verausgabt werden konnten, mußten die Einer und Zehner erworben werden. Das forderte einen langen und mühevollen Weg.

Wie er diesen Weg machte, welche Mittel er ersann, um zu seinem Ziele zu gelangen, ist bezeichnend für den Mann. Um drei Uhr war er auf und begann damit, den Laden selber auszufegen. Dies verriet Kraft und Energie und vor allem jenen Mut, der dem Gerede der Leute Trotz bietet. Eine Art von Genie aber entwickelte er in seinem Verkehr mit dem Publikum. Von einer seiner Meßreisen hatte er eine acht Fuß hohe Spieluhr mitgebracht, die fünf Lieder spielte. Wollte nun eine wohlhabende Bauerfrau, die nach seiner Meinung noch nicht genug gekauft hatte, den Laden wieder verlassen, so zog er an der Uhr, die sofort »Schöne Minka, du willst scheiden« zu spielen begann. Die Frau blieb nun, um weiter zu hören, und fiel als Opfer ihrer Neugier oder ihres musikalischen Sinnes. Als die Uhr defekt geworden war, schaffte er statt ihrer eine Schwarzdrossel an, die in gleicher Lage pfeifen mußte:

Mein Schätzchen, mein Schätzchen, kommst immer her
Und bringst mir gar nichts mit?

Der schon vorerwähnte Kauf der Wustrauer Wiesen erfolgte gegen 1840 und legte, wenigstens nach damaligen Begriffen, das Fundament zu wirklichem Reichtum. Was bis dahin erworben war, bedeutete nicht viel mehr als eine mittlere Wohlhabenheit. Im Loch aber lag ein Schatz. Erst von jenem Zeitpunkt ab hob sich, mit der finanziellen Lage des Besitzers, auch der Torfbetrieb überhaupt. In unseren residenzlichen Heizungsverhältnissen bildet übrigens der Torf, wie hier parenthetisch bemerkt werden darf, nur eine »Episode«, die rapid ihrem Abschluß entgegengeht. Anfang dieses Jahrhunderts begann sie zu blühen, und ehe hundert Jahre um sein werden, wird sie gewesen sein. Wie bei der Newcastler Steinkohle, so ist auch beim Linumer Torf sein Ende vorausberechnet.

Aber zurück zu unserm Christian Gentz.

Etwa 1855 schied er aus den Geschäften, dieselben seinem jüngeren Sohne Alexander (siehe das Kapitel »Gentzrode«) überlassend. In einem am »Tempeltore« gelegenen Garten, unter den Bäumen des Walls, verbracht er mit Vorliebe seine Tage, ländlichen Beschäftigungen hingegeben, die nur, von 1857 ab, durch häufige Nachmittagsfahrten auf das in Gründung begriffene Gut und dann und wann auch durch weitere Reisen unterbrochen wurden. Die weiteste dieser Reisen ging nach Paris, wo sein älterer Sohn, der Maler Wilhelm Gentz, damals lebte. Völlig umgewandelt, wenigstens in seiner äußeren Erscheinung, kam er von dieser Reise zurück. Er trug einen eleganten Anzug aus dem Schneiderkunst-Atelier von Dusantoy, dazu einen langen, weißen Bart und einen Fez. In diesem Aufzuge verblieb er auch bis an sein Lebensende, mit Ausnahme der Dusantoyschen Schöpfung, die, selbstverständlich, einige Jahre später durch bescheidnere Produkte heimischer »Ateliers« ersetzt werden mußte. Seines weißen Bartes war er ganz besonders froh und widerstand allen Aufforderungen, ihn abzulegen. »Ich habe lange genug einem hochlöblichen Publikum gedient und einen Philisterbart getragen; nun will ich endlich frei sein und einen Demokratenbart tragen.«

Dies führt uns auf seine Gesinnung, auf sein Glaubensbekenntnis in politischen und kirchlichen Dingen. Personen, die sich aus dem Nichts emporarbeiten, haben immer eine Neigung, ins Extrem zu verfallen und entweder alles dem lieben Gott oder aber alles sich selber anzurechnen. Zählen sie zu den erstren, also zu den gläubig-kirchlichen Leuten, so sind sie meist auch loyal, Ordnungsmänner par excellence, und werden, mit einem Ordenskissen vorauf, schließlich als Geheime Kommerzienräte hinausgetragen; gehören sie jedoch umgekehrt zu der zweiten oder der ungläubigen Gruppe, so stehen sie, wie zur Großautorität Gottes, gewöhnlich auch zu den Kleinautoritäten der diesseitigen Welt in einem sehr zweifellustigen Verhältnis und haben in ihrer ungrammatikalischen Weisheit eine tiefe Neigung, alles, was nicht ihren Gang geht, unsagbar töricht zu finden. Innerhalb der Politik sind sie dann jedesmal treue Anhänger des Satzes: »Alles für das Volk, alles durch das Volk.« Und so war auch der alte Gentz. Die Zeiten sind vorüber, wo man sich berechtigt glauben durfte, daraus einen moralischen Makel herzuleiten. Das Recht einer freien Entwicklung der Geister, nach rechts oder links hin, ist zugestanden; nicht Ziel und Richtung gelten fürder als das sittlich Entscheidende, sondern der Weg. Wessen Weg über Treubruch, Verrat und Undankbarkeit führt, den kann kein hohes Prinzip, keine glänzende Fahneninschrift retten; wer umgekehrt lautere Wege wandelt, dem gegenüber ist es gleichgültig, wenigstens vom ethischen Standpunkt aus, wohin diese Wege leiten.

Welche Wege nun wandelte Christian Gentz? Wir lassen dabei die bisher berührten Punkte fallen und beziehen die Frage nicht mehr auf Politik und Kirche, sondern auf sein Leben überhaupt. Die Antwort wird verschieden ausfallen, je nachdem der Beantwortende die Lust und Fähigkeit mitbringt, Menschen und Dinge mit dem Maßstabe zu messen, der in den Menschen und Dingen selber gelegen ist. Macaulay sagt, bei Beurteilung des Machiavellischen »Fürstenspiegels«, etwa das folgende: »Die Anklagen, die dieser Fürstenspiegel erfahren hat, gehen zumeist daraus hervor, daß der germanische Norden Europas andere Ideale hegt als der romanische Süden. Dem Germanen bedeuten Tapferkeit und Treue das Höchste, der Italiener dagegen zollt der überlegenen Klugheit, der List, der feingesponnenen Intrigue dieselbe Bewunderung, die wir jedem Percy Heißsporn entgegentragen, der ein Dutzend Schotten zum Frühstück verzehrt.«

Hieraus ist leicht die Nutzanwendung auf den vorliegenden Fall gezogen. Im allgemeinen sind wir hierlandes und zumal in den Herzen unsrer Besten immer noch von jenem altpreußischen Gefühl durchdrungen, das in dem schönen »Ich dien« seinen selbstsuchtslos-hingebenden und zugleich stolzen Ausdruck gefunden hat. »Meine Seele Gott und mein Blut dem König!« – ja, diese Devise lebt noch in hunderttausend Herzen, und der Himmel woll es fügen, daß uns das entsprechende Gefühl bis in weite Zukunftstage hinein erhalten bleibt. Aber so gewiß es gestattet sein muß, sich in schwärmerischem Eifer zu dieser Empfindung zu bekennen, so gewiß ist es doch auch, daß dies eine Feiertagsempfindung ist, neben der eine Durchschnitts- und Alltagsbetrachtung ihre volle Berechtigung hat. Die Montmorencys haben ihr Gesetz, und die Torf-Exploitierungs-Gesellschaften haben es auch. Man kann nicht verlangen, daß diese beiden Gesetze untereinander stimmen. 1) Wer bis zwanzig Jahr ein Tuchmacher und dann weitere zehn Jahr ein kleiner Krämer war, kann nicht zugleich bei Roncesvalles gefochten oder König Roberts Herz in einer silbernen Kapsel gen Jerusalem getragen haben. Finanzielles und Romantisches, das »Goldene Kalb« und das »Goldene Vlies«, sie schließen einander aus, und im Schoße der merkantilen Welt, ein paar glänzende Ausnahmen zugegeben, ist es längst zum Axiom erhoben worden: was nicht verboten ist, ist erlaubt. Freiherrn und Grafen gehorchen einem umgeschriebenen Kodex der Ehre, sollen es wenigstens; der Torfgraf seinerseits kennt kein anderes Gesetz der Ehre als – das Landrecht.

An diesem Gesetze gemessen, wird unser alter Christian Gentz, und viele mit ihm, in Ehren bestehen. Es ist ein Fehler, wie schon eingangs bemerkt, an Gestalten wie diese den sans-peur-et-sans-reproche-Maßstab legen zu wollen. Jeder werd in seinem Kreise treu und tüchtig befunden. Hier war der Kreis ein geschäftlicher und lag einerseits im Wustrauer Luch, andererseits auf den »Kahlenbergen«. Ein unendlicher Gottessegen ersproß an beiden Stellen aus der Urbarmachung von Sumpf und Sand, und war auch zunächst dabei nur ein Egoistisches, nur das Ich gemeint, das Allgemeine durfte bald daran teilnehmen. Überall aber, wo Segen geboren wird, forsche man nicht allzu kritisch nach dem Motiv, das ihn ins Dasein rief. Ein Kaufmann sei ein Kaufmann und wolle gewinnen. Das ist nicht bloß sein Recht, sondern auch seine Pflicht.

Aber freilich, der überflügelte Dilettantismus ist auch auf diesem Gebiete stets geneigt, den strengsten Kritiker abzugeben und nötigenfalls, so nichts andres verfangen will, die Böller einer »höheren Sittlichkeit« abzufeuern. Sie springen aber beim ersten Schuß.

Johann Christian Gentz starb am 4. Oktober 1867 und fand seine Ruhestätte auf dem alten Ruppiner Kirchhof, innerhalb des Familienbegräbnisplatzes »am Wall«. Dort ruht auch sein jüngerer Sohn Alexander.




1) Es existiert ein natürlicher Gegensatz zwischen dem Chevaleresken und dem Merkantilen, der natürliche Gegensatz von Geben und Nehmen. Schon der einfache Kalkül: »Ich kaufe zu 1 und verkaufe zu 2«, enthält ein Etwas, das dem noblesse oblige widerstreitet, dem überall, wo es echt ist, die Neigung innewohnen muß, den vorstehenden Rechnungssatz umzukehren. In den höchsten Handelssphären haben sich freilich diese Gegensätze von Geben und Nehmen gelegentlich versöhnt, und die Kaufhäuser erwiesen sich dann den Fürstenhäusern verwandt in denen sich die Gewinnfragen zu Kulturfragen gestalteten. Aber so gewiß es in Jahrhunderten, die nicht allzuweit zurückliegen, solche Handelshäuser gegeben hat, so gewiß ist es doch auch, daß unsere Sandmark – von Berlin selbst ist abzusehen – jederzeit der unglücklichste Boden für sie gewesen ist. Hier war, als Regel, immer nur der Kleinhandel zu Hause, der, bis in die neueste Zeit hinein, seine Normen weder aus Venedig und Florenz noch aus Amsterdam und dem alten Hansa-Lübeck entnehmen konnte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 1. Teil