Abschnitt 1

Auf dem Plateau


Gentzrode


3. Die Turmknopf-Urkunde


Das Niederschreiben einer für den Turmknopf bestimmten Urkunde 4) , deren Vor- und Nachwort ich am Schluß des vorigen Kapitels bereits mitteilte, war es, was A. Gentz, nach vorläufigem Abschluß seiner Gentzroder Bautätigkeit, einen Winter lang beschäftigte. Wie mir nicht zweifelhaft ist, zu seiner besonderen Befriedigung. Und eine solche Befriedigung zu fühlen, dazu war er, nicht nur aus menschlicher Schwachheit (er wollte den Ruppinern etwas anhängen), sondern auch ästhetisch und künstlerisch angesehen, vollkommen berechtigt. Ja, was er da niedergeschrieben hat, zum Teil in einem brillanten Stil, ist durchaus eine literarische Tat, und das bekannte, für die fachmäßige Schriftstellerwelt freilich nicht allzu schmeichelhafte Wort: »Ein Schriftsteller kann jeder sein, der was zu sagen hat«, empfängt aus diesen Alexander Gentzschen Aufzeichnungen eine neue Bestätigung. Eine literarische Tat, so sagte ich. Aber damit ist die Sache noch keineswegs erschöpft; der eigentliche Wert dieser Urkunde liegt in ihrer lokalhistorischen Bedeutung. Es wird darin ein kleines märkisches Städtebild aus der Mitte des Jahrhunderts gegeben, ein Bild, wie's bis dahin nicht da war und auch auf lange hin mutmaßlich nicht wiederkommen wird. Eingelebtsein in alle Verhältnisse, scharfe Beobachtung und große Klugheit vereinigten sich hier mit angeborner schriftstellerischer Begabung und ließen ein Werk entstehen, das nun für alle die, die dermaleinst märkische Kulturhistorie schreiben wollen, und ebenso für die märkische Novellistik der Zukunft unschätzbar erscheint. Ein Mikrokosmus, wie er nicht schöner gedacht werden kann.

Der ursprüngliche Zweck der Urkunde, »wie Gentzrode ward und wuchs«, wird nie ganz aus dem Auge verloren, aber, wie sein eignes, vorzitiertes Schlußwort es auch ausspricht, überall finden wir Exkurse, denen sich Portraitierungen gesellen, eine ganze Galerie von kleinstädtischen Charakterköpfen.

Und nun geb ich dem Verfasser selber das Wort, nur hier und da, beßren Verständnisses halber, eine kurze Bemerkung einfügend.

»... Ich war nun also Mitglied des Magistratskollegiums, und damit scheint mir der Zeitpunkt da, mich über diese Körperschaft oder doch wenigstens die Hervorragendsten darin auszusprechen. Eh ich aber den einzelnen mich zuwende, muß ich noch meiner Einführung als solcher gedenken. Ich meinerseits war im Frack erschienen und unterwarf mich eben der herkömmlichen Begrüßungsanrede von seiten des Bürgermeisters, als ein älteres Mitglied den Sprechenden ohne weiteres unterbrach, um ihn darauf aufmerksam zu machen, ›daß zwei Kollegen ohne Frack erschienen seien, was gegen die Étiquette verstoße und zuvörderst gerügt werden müsse‹. Nun erst, nach erteilter Reprimande, konnte der Sprecher in seiner Anrede fortfahren.

Wie sich denken läßt, war das Kollegium, dem ich von da ab angehörte, von sehr verschiedener Zusammensetzung. Da waren zunächst der Ratszimmermeister Söhnel, Kürschnermeister Emden und Buchbindermeister Siecke – gute, treffliche, wohlwollende Herren, der letztere, vielleicht weil er die Kirchenverwaltung hatte, etwas zu zaghaft. Dann war da der Particulier Loof, eng überhaupt, am engsten aber in Geldsachen, zumal wenn es seinen eignen Beutel anging, in welchem Fall er sich, wo nützlich, noch konservativer erwies als in der Politik. Ein fünfter war Möbelfabrikant König. Er genoß des Vorzugs, die beste Ratsherrnfigur zu haben. Auch Kaufmann und Gutsbesitzer Windaus hätte gelten können, wenn er etwas besser auf dem Posten gewesen wäre. Windaus hatte das Einquartierungswesen, kam aber Mobilmachung oder dergleichen, so zog er sich auf sein Gut Herzberg zurück und überließ das Nötige seinen Deputierten. Particulier Menzel (ehemaliger Apotheker), der mit der Abschätzung zu tun hatte, war erheblich anfechtbarer. Man wußte nie, was eigentlich seine Meinung war, und wäre die Grafschaft Ruppin noch katholisch gewesen, so hätte man glauben müssen, er sei in einem Jesuitenkloster erzogen. Posthalter Hoepfner ersetzte, was er an Tüchtigkeit nicht besaß oder wenigstens nicht zeigen wollte, durch ausdrucksvolle Rede, die, je länger sie dauerte, desto schöner wurde. Vor allem bemerkenswert indes war der stellvertretende Bürgermeister und Auskultator a. D. Mollius, Sohn des im vorigen Jahrhundert in der Ruppiner Geschichte vielgenannten Ratsherrn Mollius. Vor diesem Auskultator a. D., wenn man ihm in der Dämmerung begegnete, konnte man sich fürchten, denn zu eingezognem Kreuz und durchbohrendem Blick trug er das Gesicht bis an die Nasenspitze derartig in ein dickes Halstuch gewickelt, daß man ihn für Robespierre halten konnte. Bei näherer Bekanntschaft wurde man freilich gewahr, daß dies anscheinende Revolutions- und Schreckgespenst, trotz seiner sechzig Jahre, von sehr kümmerlicher Konstitution war und zu nicht viel mehr als einem zarten Knaben zusammenschrumpfte. So war Mollius. Das Lumen des ganzen Kollegiums aber und zugleich die Geißel desselben war Mühlenbesitzer und Particulier Gustav Schultz, den mein Vater immer nur ›Gustav von Gottes Gnaden‹ nannte. Sein Verstand und seine praktische Befähigung waren gut, aber er hütete sich auch, sein Licht unter den Scheffel zu stellen, und wer dies Licht dennoch nicht sehen wollte, der war sein Feind. Das Oberhaupt dieser ratsherrlichen Körperschaft war Bürgermeister von Schultz, früher Offizier in dem in Ruppin garnisonierenden Infanterieregiment.




4) Ob das ursprüngliche, von A. Gentz selbst herrührende Manuskript wirklich in den Turmknopf hineingelegt worden ist, weiß ich nicht. Was mir für diese meine Arbeit vorgelegen hat, war eine beglaubigte Abschrift.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 1. Teil