Abschnitt 1

Auf dem Plateau


Gentzrode


2. Vom Tode des alten Johann Christian Gentz (1867) bis zum Bau des Gentzroder Herrenhauses 1877


Alexander Gentz


»Ich wurde«, so schreibt er, »am 14. April 1825 geboren, und zwar als der jüngste von vier Brüdern, die, von frühester Kindheit an, sämtlich lebhaften Geistes und von gleicher Neigung beseelt waren, sich in freier Natur herumzutummeln, um Pflanzen, Käfer, Vogeleier und Schmetterlinge zu sammeln. Ein Elementarlehrer, der Weißbauer hieß und trotz eines mehr als bescheidenen Gehalts von nur 120 Talern sich eine wundervolle Pflanzen- und Insektensammlung angelegt hatte, wußte durch Exkursionen, auf denen wir ihn begleiten durften, unsren Eifer für naturwissenschaftliche Dinge zu steigern. Es ging meistens auf Alt Ruppin zu bis an den Molchow-See. Die weite Sandfläche – von kleinen Hügeln unterbrochen, mit denen der Wind spielte – war so tot und öde, daß nicht einmal Fichtengestrüpp oder Heidekraut drauf wuchsen, und an dieser Wüste vorbei (wenn nicht querdurch, was auch vorkam) wanderten wir bis an die ›Räuberkute‹, die wir schon um ihres Namens willen liebten und der nur leider die Räuber fehlten. Mitten im Sande begegneten wir dann plötzlich einem Sumpfloch mit wilden Enten drauf, nach denen wir vom Ufer her mit Steinen warfen, bis sie weiterflogen oder niedertauchten. Hinter der ›Räuberkute‹ lief dann, die sogenannte Schwedenschanze durchschneidend, ein alter Weg auf die Neue Mühle zu. Dies war der Ausflug, den wir am häufigsten machten, am liebsten aber war uns der Weg am Klappgraben hin und dann über diesen fort bis zu den mit Eichen und Buchen bestandenen ›drei Wällen‹, die wohl auf 1000 Schritt die Grenze zwischen der Storbecker und Kränzliner Feldmark ziehen und den Eingang zu einem prachtvollen Eichenkamp, der der ›Blecherne Hahn‹ hieß, bildeten, eine landschaftlich reizende Partie mit Baumgruppen, wie sie sich, was unsere Grafschaft angeht, kaum noch auf dem schönen Ruppiner Wall und im Forstrevier ›Pfefferteich‹ vorfinden. Ja, nach dem ›Blechernen Hahn‹ hin, wo sich eine Meierei mit Milchwirtschaft befand, das war ein beliebter Ausflug, und nur eines gab es, was noch darüber hinausging, das war ein in der Nähe der Kahlenberge gelegenes Elsbruch, mit einem dunklen Wassertümpel in der Mitte, der den Namen der ›Gänsepfuhl‹ führte. Das war harmlos genug, es war aber die unheimlichste Stelle in der ganzen Gegend, an die sich allerlei Spukgeschichten knüpften, Geschichten, deren Grusel noch wuchs, als es eines Morgens hieß, Uhrmacher Hettig und Ratsdiener Kalle, die hier zu fischdieben und sich zu diesem Zwecke eines am Ufer liegenden alten Fischerkahnes zu bedienen pflegten, seien in der Nacht vorher auf dem Gänsepfuhl ertrunken. Ja, der Grusel wuchs, das muß ich wiederholen, aber ich kann nicht sagen, daß sich im übrigen ein mir zur Ehre gereichendes menschliches Mitgefühl mit eingeschlichen hätte, namentlich was den Ratsdiener Kalle betraf. Dieser nämlich war unser aller Feind, weil er uns, wenn wir uns auf eine städtische Wiese verirrten, um Schmetterlinge zu fangen, immer abzufassen suchte, bei welcher Arbeit ich auch wirklich mal ergriffen und von ihm gepfändet worden war. Ich war jetzt naiv oder selbstsüchtig genug, in dem Tod, den er erlitten, eine gerechte Strafe für die mir widerfahrene Strenge zu sehn, und sympathisierte durchaus mit dem hämischen Fischer, der den am Ufer liegenden Kahn vorher durchlöchert und dadurch den Tod beider Inkulpaten herbeigeführt hatte. Daß Kalle neun Kinder hinterließ, änderte wenig in meinen Augen. Nichts Egoistischeres als ein halberwachsener Junge. Sonderbarerweise kam der Elsbruch und mit ihm der gefürchtete Gänsepfuhl dreißig Jahre später in meinen Besitz, und als ich an die Urbarmachung des Bruches ging und den mit Kraut ganz durchwachsenen Gänsepfuhl ausbaggern ließ, kam auch das Boot wieder ans Licht, darin Hettig und Kalle ihren Tod gefunden hatten, und ich sah nun deutlich die Löcher, die der Kahnbesitzer, um seine fischdiebenden Feinde zu vernichten, hineingebohrt hatte.

Zehn Jahr alt, kam ich auf das Ruppiner Gymnasium und verließ es von Sekunda aus, um noch die Magdeburger Handelsschule zu besuchen, denn es stand fest, daß ich für den Kaufmannsstand erzogen werden sollte. Jahr und Tag war ich in Magdeburg und kam dann in ein Stettiner Modewarengeschäft, um daselbst die Handlung zu erlernen. Es erging aber meinen Eltern mit mir nicht besser als mit meinem älteren Bruder Wilhelm: auch mir wollte das Kaufmännische, wenigstens in der Gestalt, in der es mir damals entgegentrat, nicht behagen, und alle meine Neigung richtete sich, wie bei meinem Bruder, auf die Kunst. Ich überwand mich aber und hielt aus. Als ich zwanzig Jahr war, wollt ich aus den engen Verhältnissen heraus und in die Welt hinein. Meine Sehnsucht war Paris, was meine Eltern veranlaßte, meinen Oheim, den in Neustrelitz wohnenden Rentier Voigt (einen Bruder meiner Mutter), nach Ruppin kommen zu lassen, um mich von meiner Reisesehnsucht abzubringen. ›Der Junge geht ins Verderben‹, sagte Onkel Voigt, ›bringt ihn nach Wittstock. Was soll er in Paris? In Wittstock kann er was lernen.‹ Es half aber alles nichts, ich blieb bei meinem Willen, und meine Mutter war schließlich einsichtig genug, in dieser Frage nachzugeben. Ich packte also meinen Koffer und ging auf zwei Jahre nach Paris. Während der ersten Monate flanierte ich, um die Weltstadt kennenzulernen, in den Straßen umher, dann nahm ich eine Stellung in einem kaufmännischen Geschäft an und wurde meines Fleißes halber belobt, während man mir das ausbedungene Gehalt schuldig blieb. Meine Kollegen lachten darüber und sagten: ›Monsieur, vous avez travaillé pour le roi de Prusse.‹ Bald danach trat ich, um's besser zu haben, in ein spanisches Kommissionshaus ein. Als aber infolge der ausbrechenden Februarrevolution (1848) alle Geschäfte zu stocken begannen, gab ich auch diese Stellung wieder auf und zog es vor, eine Reise nach dem südlichen Frankreich, nach Spanien und Algier zu machen. Bei dem Wiedereintreffen in Paris fand ich Briefe vor, die mich in die Heimat zurückberiefen, und vom Sommer 1848 an war ich wieder in Ruppin.

Es folgten diesem ersten großen Ausfluge noch verschiedene Reisen, aber alle waren von kürzerer Dauer. So war ich beispielsweise Anfang der fünfziger Jahre verschiedentlich in Wien und Venedig und 1855 ein halbes Jahr lang in England, bis ich mich das Jahr drauf mit Helene Campe, Tochter des Buchhändlers Julius Campe zu Hamburg (Verleger Heines), verlobte. Mein Papa, als er mich zur Verlobungsfeier nach Hamburg begleitete, schmeichelte sich damit, in meinem Schwiegervater einen wohlhabenden Mann gewonnen zu haben, von dessen Vermögen mir sofort ein erheblicher Bruchteil zufallen würde. Beide alte Herrn unterhielten sich dann auch über diesen Punkt und suchten sich auszuhorchen.

›Was geben Sie Ihrem Sohne mit?‹ fragte Campe.

›50 000 Taler‹, antwortete mein Papa und erwartete eine Gegenerklärung von ungefähr derselben Höhe. Campe aber antwortete nur: ›Wohl Ihnen.‹

Und dabei blieb es. 4000 Taler abgerechnet, die mir mein Schwiegervater zur Bestreitung der Aussteuer, unmittelbar nach der Trauung, in die Hand drückte.

Glücklicherweise zog ich mit meiner Heirat, auch ohne besondere Legitimierung von seiten meines Schwiegervaters, ein glückliches Los. Meine Frau hatte, unter häuslichen Tugenden, auch den Vorzug einsichtsvoller Klugheit und die Fähigkeit, sich in die Verhältnisse der neuen Familie zu schicken. Aus unserer Ehe wurden uns vier Kinder geboren.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 1. Teil