»Der Hauptmann von Kapernaum«

An Rhin und Dosse


Trieplatz
Ein Kapitel von den Rohrs


Georg Moritz von Rohr war 1713 geboren. Selbstverständlich trat er in die Armee – in welches Regiment, hab ich nicht erfahren können –, war bei Ausbruch des Siebenjährigen Krieges Hauptmann, wurd in einer der ersten Schlachten schwer verwundet und zog sich, zu fernerm Kriegsdienste untauglich, auf sein väterliches Gut Trieplatz zurück.

Er war ein echter Rohr, einfach von Sitten, ein frommer Christ, dabei von jenem verqueren Zuge, der auch aus den schlichtesten Naturen Originale schafft. Georg Moritz von Rohr war ein solches Original. Er gab es schon dadurch zu verstehen, daß er sich selber den »Hauptmann von Kapernaum« nannte. Die Worte, die, der Schrift nach, der wirkliche Hauptmann von Kapernaum an Christum richtete: »Herr, ich bin nicht wert daß du unter mein Dach gehest«, entsprachen ganz seinem eignen demütigen Herzen, aber über all dies hinaus reizte ihn, seiner ganzen Natur nach, auch wohl das Scherzhafte, das in der selbstgewählten Bezeichnung eines »Hauptmanns von Kapernaum« lag.

Kein Zweifel, seine Popularität zog Nahrung aus diesem Namen, was ihn indes in der ganzen Gegend am populärsten machte, das waren doch seine vielen Brautwerbungen, die nicht abrissen und ihn befähigten, es bis auf vier Frauen zu bringen. 3)

Dies allein schon würde genügt haben, alle Zungen der Grafschaft über ihn in Bewegung zu setzen, unser Hauptmann von Kapernaum aber wußte nebenher noch dem immer wiederkehrenden Begräbnis- und Freiwerbungszeremoniell so viel eigentümlichen Beisatz zu geben, daß auch die jedem Klatschbasentum abgeneigtesten Kreise notwendig Notiz davon nehmen mußten. An dem jedesmaligen Begräbnistage ließ er singen: » Lobe den Herrn, meine Seele«, hielt in Promptheit und Treue das Trauerjahr und sprach dann mit einem gewissen humoristischen Trotze: »Nimmt Gott, so nehm ich wieder.« War aber dies Wort erst mal gesprochen, so begannen auch, vom nächsten Tag an, seine Freiwerbungen aufs neue, bei denen er ebenso konsequent und systematisch verfuhr wie bei dem vorgeschilderten Funeralzeremoniell.

Und auch bei diesen Freiwerbungen ist näher zu verweilen. Georg Moritz von Rohr hatte nämlich drei nicht mehr junge Cousinen, die zu Tornow lebten und die Namen führten: Henriette, Jeannette und Babette von Bruhn. Im Trieplatzer Herrenhause, wo sie bloß als eine dreigegliederte Einheit galten, lief ihr Unterschied auf einen einzigen Buchstaben hinaus: Jettchen, Nettchen und Bettchen. Namentlich die beiden letzteren von anheimelndem Klang.

Es war jedoch nicht dieser anheimelnde Klang, sondern lediglich eine donquixotisch-ritterliche Vorstellung von pflichtschuldiger Cousingalanterie, was unsern Hauptmann immer wieder veranlaßte, nach Absolvierung seines Trauerjahrs, erst um die Hand seiner drei Cousinen anzuhalten. Läufer vorauf und gekleidet in den Uniformrock, den er bei Prag getragen, fuhr er dann in Gala nach Tornow hinüber, ließ sich bei den Fräuleins melden und begann seine Werbung bei »Jettchen«, um sie bei »Bettchen« zu beschließen. Immer mit demselben Erfolge, denn die Fräuleins waren längst gewillt, in dem stillen Hafen ihrer Jungfräulichkeit zu verharren und das sturmgepeitschte Meer der Ehe nicht zu befahren. So hatte denn diese regelmäßig wiederkehrende Szene nur noch eine symbolische Bedeutung und bezweckte nichts weiter, als den drei Fräuleins von Bruhn eine exzeptionelle Stellung vor allen anderen Jungfrauen des Landes zu geben. Es war die Konservierung eines Muhmenkultes, zuletzt mehr als »Muhme«. Gleichviel, bei den Cousinen in Tornow lag, in Rücksicht auf die Wandelbarkeit menschlicher Natur, immer wieder das entscheidende Wort, und erst der dreimal wiederholte, verbindlich ablehnende Knicks schuf unserm »Hauptmann von Kapernaum« jene Freiheit der Aktion, von der bis diesen Tag nicht genau festzustellen gewesen ist, ob er sie segnete oder beklagte. Denn die Cousinen waren reich, und die Zeiten waren arm.

Aber wenn ihm die Freiheit der Aktion kein überhohes Glück schaffen mochte, so schuf ihm andererseits der »Refus« keinen allzu tiefen Schmerz, zu welcher Annahme die vorerwähnten vier Frauen wohl eine genügende Berechtigung geben dürften. 4) Alle vier waren Nachbarstöchter aus dem Adel der Grafschaft oder der angrenzenden Prignitz. Die erste Frau eine Platen, die zweite eine Jürgaß, die dritte eine Hagen, die vierte eine Putlitz. Durch die Platen und Jürgaß ergab sich denn auch eine nahe Verwandtschaft mit den Zietens, so daß unser Hauptmann mit dem gesamten Adel der Nachbarschaft verschwägert war.

Georg Moritz von R. kam zu hohen Jahren, und wenn er bald nach seiner Geburt die Kanonen von Landau (1713) gehört hatte, so kurz vor seinem Tode die Kanonen von Valmy. Achtzig Jahre lagen dazwischen und drei Kriege, die er selbst bestand. Mit dem Älterwerden wuchsen auch seine Schrullenhaftigkeiten, und er mußte den Tribut entrichten, den das Alter ohnehin so leicht zu zahlen hat. Dem Ehrwürdigen gesellte sich das Komische. Jeden Morgen stieg er mittelst einer Leiter in eine Pappelweide hinein, um in den Zweigen derselben seine Morgenandacht abzuhalten, und sang, während sein weißes Haar im Winde flatterte, mit klarer Stimme: »Wie schön leucht't mir der Morgenstern«. Grotesk und rührend zugleich. Für die Dorfjugend aber herrschte das erstere vor, und ein paar Übermütige sägten den Ast an, mit dem der Alte denn auch zusammenbrach, als er anderntags seinen Platz in dem Gezweige wieder einnehmen wollte.

Daß er gezürnt habe, wird nicht berichtet. Er stand bereits da, wo Leid und Lust nur noch traumhaft wirken und selbst Unbill nichts weiter als ein Lächeln weckt. Seine Zeit war um, und seine Seele flog dem Morgensterne zu, zu dem er so oft emporgesungen hatte. Den 14. Juni 1793 ward er in Trieplatz begraben. Die Dorfjungen aber waren ernsthaft geworden, folgten seinem Sarge und sangen diesmal ihm: »Lobe den Herrn, meine Seele!«




3) Dies »vier Frauen nehmen« war im vorigen Jahrhundert wenn es die Verhältnisse gestatteten, an der Tagesordnung. Selbst die Unbequemlichkeit, daß – wenigstens seitens des Adels und Militärs – ein Konsens beim Könige eingeholt werden mußte, hielt nicht davon ab. Herr von Hagen auf Nackel bat sogar zum fünften Mal um die Erlaubnis und erhielt als Antwort weder Zustimmung noch Ablehnung, sondern die echt altenfritzige Replik: »Er braucht künftig nicht mehr einzukommen.«
4) Bei Gelegenheit seiner vierten Verlobung hatte Georg Moritz von R. (ähnlich wie Herr von Hagen auf Nackel, über den ich in der vorstehenden Anmerkung berichtet) allerdings auch eine Kränkung zu bestehn, die nur den einen Vorzug aufwies, daß sie nicht von dem gefürchteten Könige ausging. Der Kränkende war der eigne Bruder auf Tramnitz, allwo sich das Erbbegräbnis befand, in dem auch die Trieplatzer Rohrs beigesetzt wurden. Als Georg Moritz von B. seinem Bruder anzeigte, daß er sich zum vierten Male verlobt habe, schrieb ihm der Tramnitzer zurück: »er wünsche ihm Glück, müsse ihm aber von vornherein erklären, daß für diese vierte Frau kein Platz mehr im Erbbegräbnis sei«. Dies war denn doch zuviel, und Georg Moritz erschien schon am nächsten Tage mit drei Wagen in Tramnitz, um die Särge seiner drei Frauen aus dem ungastlichen Erbbegräbnis abzuholen. Er begrub sie nunmehr auf dem Trieplatzer Kirchhof.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 1. Teil