Abschnitt 4

An Rhin und Dosse


Trieplatz
Ein Kapitel von den Rohrs


Der Akazienbaum


Im Laufe des Vormittags erschienen: ein Generaladjutant namens Bertrand, mehrere junge Leute von der Adjutantur, endlich auch ein Secretair, um unsere Charaktere und Namen aufzunehmen. Alle diese Herren, besonders sichtbar und auffallend aber der Erstgenannte (Bertrand), waren äußerst betreten, uns so gemißhandelt zu finden. Der Umstand, daß die Zweibrücker Mädchen uns ein Frühstück, und zwar als ein Almosen, gereicht, dazu auch einen Arzt uns zugeführt hatten, brachte die Herren vorzugsweise in Verlegenheit. Sie waren Zeugen, daß wir unsere Wohltäterinnen mit einem einfachen ›Gott vergelt's euch‹ bezahlen mußten. Einige der jungen Offiziere versuchten auf mancherlei Art, die Sache zu entschuldigen, doch ging es ihnen damit nur schlecht vonstatten. Der Umstand, daß man uns in drei Tagen noch kein Zehrungsgeld, am Nachmittag und Abend kein Brot und auf die letzte Nacht auch nicht einmal Wasser, Heizung und Licht zur Genüge gegeben hatte, war nicht wohl zu entschuldigen. Alles, was man für uns getan, war, daß man uns unsere Schärpen geraubt hatte. Bei Aufzählung aller Unbill, die wir erfahren, traten mir die Tränen in die Augen. Bertrand, als er dessen gewahr wurde, trat zu mir heran und hatte freundliche Worte für mich. Es tat mir wohl, und ich vermochte mich wieder zu fassen. Nachdem man unsere Namen und Charakter aufgeschrieben, schenkte uns Bertrand unter dem großmütigen Vorwande, ›daß es die rückständige Gage sei‹, anderthalb Karolin; auch wurde ein Mittagbrot für uns besorgt. Ein Bekannter Wilhelmys, ein verabschiedeter Soldat, der jetzt in Zweibrücken lebte und vor einigen Wochen erst als Handelsmann Wein und andere Lebensmittel ins Lager geliefert hatte, erschien ebenfalls. Dieser verschaffte einem jeden von uns ein Hemd. Infolge davon wurde nun zwar unsere Kasse so gut wie wieder gesprengt, aber dennoch erkauften wir die Glückseligkeit des Wäschewechselns damit nicht zu teuer.

Gegen Mittag brachen wir aus der Zweibrückener Armensünderstube auf und kamen um drei Uhr in Blieskastel an. Man war unschlüssig, wohin mit uns. Nachdem wir wieder drei viertel Stunden lang auf freier Straße zur Schau ausgestellt gewesen waren, brachte man uns endlich in den ›Turm‹. Sergeanten und Gemeine bekamen den Raum unterm Dach; wir Offiziere und der Junker aber wurden in die Stube des Stockmeisters einquartiert. Hier fanden wir bereits zehn oder zwölf Geiseln vor, die die französische Armee bei ihrer Retirade aus der umliegenden Gegend mitgenommen hatte.«

Hier brechen die Briefe ab. Was ich noch zu erzählen haben werde, steht räumlich in keinem entsprechenden Verhältnis zu dem bis hierher Mitgeteilten. Otto von Rohr samt seinen Leidensgenossen, die wir aus vorstehenden Briefen kennengelernt, wurde nach Frankreich abgeführt und in Nogent-sur-Seine, etwa siebzig Kilometer von Paris, interniert gehalten. Hier lebte er, ein Jahr lang und darüber, in ungetrübtem Glück, soweit das Leben eines Gefangenen überhaupt ein glückliches sein kann. Die große Zeit störte nicht seine Kreise. In Paris die Schreckensherrschaft, in Nogent Friede. Auf dem Eintrachts-Platze (furchtbare Ironie) fiel Dantons Haupt, und sein blutiger Schatten ging um, bis das Haupt dessen, der ihn stürzte, dem seinen nachgefallen war – in Nogent aber, als wäre die Welt so klar wie die Sommernacht die sich jetzt über ihm wölbte, saß Otto von Rohr unter dem Gezweig einer mächtigen Akazie, und neben ihm saß Jacqueline, die Tochter des Hauses, halb Kind noch, und hörte ihm zu, wenn er von seiner Heimat erzählte, von den weiten Strecken Sand und der Sumpfniederung, in der ein Fluß laufe, »schilfbestanden und tief und schwarz wie der Styx, der um das Reich des Todes schleicht«. Dann fragte Jacqueline, »ob dort auch Menschen wohnen«.

»Kaum«, antwortete der Gefangene voll übermütiger Laune, »Halbwilde nur, die schwarzes Brot essen und einen bräunlichen, immer schäumenden Saft trinken, den sie Bier nennen. Und zur Winterzeit machen sie Löcher ins Eis und springen hinein oder jagen tagelang durch den Wald, um Füchse zu fangen und mit dem wilden Eber zu kämpfen. Und wenn sie dann heimkehren, können sie oft ihr Dorf nicht finden, weil es in Schnee versunken ist.« Dann fragte Jacqueline: »Und wie sehen diese Menschen aus?«, worauf dann Otto von Rohr erwiderte: »Genau wie ich, Jacqueline.« Und dann lachten sie beide und hörten nicht, daß ein leises Rauschen, wie ein Klageton, durch den Wipfel der alten Akazie ging.

Denn der alte Baum, der das Leben kannte, wußte, was bevorstand: Trennung. Sie kam; der Basler Frieden machte den Gefangenen frei. Wieviel Schwüre wurden laut, wieviel Tränen fielen. Eines Tages aber lag alles zurück wie ein Traum, und nur zweierlei war noch wahr und wirklich: das Leid im Herzen Jacquelines und eine kleine seidengestickte Henkelbörse, die sie dem Scheidenden zum Abschiede gereicht hatte. Darin befand sich eine Schaumünze mit ihrem Lieblingsheiligen darauf und – ein Samenkorn von dem Akazienbaum, unter dem sie so oft gesessen.

Dies Samenkorn ist in Trieplatz aufgegangen. Es ist derselbe Baum, der (womit wir diese Erzählung einleiteten) vom Park aus in das Gartenzimmer blickt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 1. Teil