Abschnitt 2

An Rhin und Dosse


Trieplatz
Ein Kapitel von den Rohrs


Der Akazienbaum


Das Wachthaus lag so, daß ich einen großen Teil des Schlachtfeldes übersehen konnte. Nicht mit den angenehmsten Empfindungen. Ich wußte, daß unsere Armee, besonders durch Krankheiten geschwächt selbst unter Hinzurechnung der Sachsen kaum gegen 60 000 Mann ausmachte; wenn ich nun hörte, daß die Franzosen nach Vereinigung ihrer Rhein-, Maas- und Moselarmee 150 000 Mann stark seien, wenn ich sie, so unmittelbar vor mir, alle Felder und Wiesen weit umher bedecken sah, so stand meine Hoffnung niedrig, und ich vergaß bei diesem Anblick alle meine eigne Not. Nachmittag brachte man einige Gefangene ein, erst einen Junker von Schulz vom Dragonerregiment Sachsen-Kurland, dann auch Capitain Wilhelmy von demselben Regiment. Auch einige Mannschaften. Wilhelmy sollte später, wie mein Unglücksgefährte, so auch mein Freund werden. Wir hatten bereits eine Weile miteinander gesprochen, ich meinerseits ihm schon diese und jene kleine Aufmerksamkeit erwiesen, und er hielt mich immer noch – durch meinen blauen Surtout mit weißen Aufschlägen dazu veranlaßt – für einen Volontair. Als er nun aber von seinem Irrtum zurückkam und mich als einen preußischen Offizier erkannte, da war er froh, ganz wie ich es war, einen Schicksalsgefährten zu treffen. Herzlich und gefühlvoll waren seine Äußerungen; fest war der Bund, den die neuen Bekannten schlossen; mir dünkt es ein Freundschaftsbund für die ganze Zukunft, für Zeit und Ewigkeit. Auch er war durch übereilte Hitze seiner Befehlshaber ins Mißgeschick gekommen; im übrigen unverwundet wie ich. Er war der erste, der mir sagte, daß das Grenadierbataillon von Kalckstein den vorigen Abend nah an sechzig Mann verloren habe, daß ich zu den Toten gezählt worden und daß außerdem Lieutenant von Reitzenstein gefallen und zwei Offiziere blessiert seien.

Abends in der Dämmerung erschien abermals Freund Malwing. Er trat ein mit einem: ›À présent tout est au diable!‹ Dies hatte zum Teil Bezug auf die mir abgenommenen Habseligkeiten. Er hatte sie zusammen in ein Papier gewickelt in seine Rocktasche gesteckt und diese war ihm durch eine preußische Kanonenkugel weggerissen oder, wie er sich ausdrückte, ›zum Teufel geschickt worden‹. Er hatte dabei eine Kontusion davongetragen, weshalb er zurück in ein Lazarett gehen mußte. Ich bot ihm, da mir sein Verlust leid tat, nochmals meine Schärpe an, aber er lehnte nochmals ab und verwies mir meine Unfolgsamkeit, sie nicht nach seinem Rate besser versteckt zu haben. Dann mahnte er mich zu Geduld und Vorsicht, reichte mir seine Flasche und ging fröhlich und guter Dinge ab, mit dem Versprechen, mich wieder zu besuchen.

Und so beschloß sich der zweite Tag meiner Gefangenschaft. Durch tausend Bemerkungen belästigt, von Ahnungen und Besorgnissen gequält, dazu von der Hoffnung einer baldigen Änderung meines Geschickes nicht mehr geschmeichelt, setzte ich mich, meinem neuen Freunde Wilhelmy gegenüber, auf einen Schemel und wünschte mir Schlaf. Doch ihn zu finden, daran war nicht zu denken. Die Stube zum Ersticken heiß und mit Menschen derart gefüllt daß ich schlechterdings meine Füße nicht regen konnte, ohne jemanden zu treten. Meine Lage war äußerst lästig, und endlich durch die Bewegungslosigkeit, zu der sich mein Körper gezwungen sah, dem Erstarren nahe, blieb mir kein anderes Mittel, als auf den Schemel zu steigen. Hier stand ich wie ein Säulenheiliger. Alles schlief und schnarchte, nur Wilhelmy und ich nicht.

Genug, es war nicht die schmerzhafteste, aber doch die peinlichste Nacht meines ganzen Lebens. Endlich kam der so lang ersehnte Morgen, und alles regte und reckte sich. Ach, wie war ich so froh.

Den 30. November 1793. Der Morgen kam und mit ihm die Sterbestunde für so manchen, Freund wie Feind. Viele fanden ihren Tod gestern schon, viele ehegestern, noch mehr fanden ihn heute. Früh mit der ersten Morgendämmerung begann die Schlacht von neuem; das Feuer der Kanonen war dabei so heftig, wie ich es noch nie gehört hatte. Etwa um elf war die Bataille völlig zum Vorteil der Preußen entschieden. Die Franzosen machten indessen, wie bekannt, einen meisterhaften Rückzug, so daß sie trotz des schlechten Terrains, auf dem sie sich bewegten, keine Kanone verloren. Es kam ihnen dabei freilich zustatten, daß unsere Kavallerie ganz entkräftet war. Von dem Gewimmel der Zurückkommenden sahen wir nur wenig, da auch wir, als die Retirade begann, zurück mußten. Wir bildeten nur ein kleines Häuflein: Wilhelmy, ich, der Junker und etwa acht Gemeine, das war die ganze gefangene Gesellschaft, schließlich noch durch sechs oder sieben Deserteure vermehrt. Letztere höchst widriges Gesindel. Mit genauer Not bekamen wir einige von den erbeuteten Pferden; dann, bei jedem Offizier ein Gensdarm, außerdem noch zwei, drei zur Eskorte der übrigen, so ging unser Zug rückwärts auf der Straße nach Homburg zu.

Ein wahrer Golgathas-Weg für uns arme Sünder. Gleich zu Anfang passierten wir einen großen Teil der französischen Armee, die auf einer weiten Ebene hielt. Hier fanden wir Truppen aller Art, auch das Proviantfuhrwesen. Wir kamen leidlich vorüber. Als wir aber eine andere Abteilung der geschlagenen Armee erreichten, bei der sich viele Hunderte von Schwerverwundeten befanden, war es mit unserer Ruhe vorbei.

Ein großer Teil dieser Unglücklichen, als sie uns sahen, gebärdeten sich wie rasend, wetterten und fluchten und schienen durchaus willens, es bei den insultierenden Worten nicht bewenden zu lassen. Mehr als einmal schlug man die Gewehre auf uns an, und nur der Umstand, daß wir rechts und links Gensdarmen zur Seite hatten, die bei dieser Gelegenheit so gut wie wir getroffen werden konnten, rettete uns aus dieser Gefahr. Die Insulten dauerten fort, aber nach einer halben Stunde schienen auch die Lungen erschöpft, und man ward still. Nochmals eine halbe Stunde später, und wir wurden in einem Stall untergebracht, wo sich unser Häuflein alsbald um einen Unglücksgefährten vermehrte. Das Regiment Göckingk-Husaren hatte verfolgt, und bei diesen Verfolgungsscharmützeln war Cornet Gottschling vom genannten Regiment erst verwundet und dann gefangengenommen worden. Er hatte einen Hieb über den Kopf, einen andern über die Hand und war in sehr bedauernswerter Lage.

Der Zug setzte sich endlich wieder in Bewegung. Neue feindliche Trupps waren zu passieren, da wir aber auf dem Marsche blieben, so hatten wir weniger zu leiden; nur der arme Gottschling erhielt einen Steinwurf.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 1. Teil