Abschnitt. 1 - Den reisenden Freunden hatten holde Traumbilder ...

Den reisenden Freunden hatten holde Traumbilder aus der Erinnerung den Schlummer verschönt, aber auch gekürzt; sie wanderten in der Morgenfrühe bereits durch das herrliche felsgekrönte Marienthal bei Eisenach. Otto sprach: „Ihr gewahret in diesem felsgeschmückten, mit grünen Matten, darauf Heerden da und dort verstreut, oder anmuthig hingelagert erscheinen, und mit düstern Klüften abwechselndem Thal eines der schönsten und malerischesten Thore des Thüringer-Waldes, der von hier aus in gerader Richtung nach Süden nur wenige Stunden breit ist. Dort zeigt sich eine an die fromme Wohlthäterin Elisabeth erinnernde Grotte, die Armenruhe; ein kolossales M in jene feuchte Felswand gehauen, deutet den Namen der hohen Fürstin an, welcher zu Ehren man diese reizende Partie Marienthal nannte. Weiter hinaufwärts gelangen wir zum Landgrafenloch, einer schattigen Felsenschlucht, darin nach der Sage Friedrich der Gebissene sich barg, als er die Wartburg zu stürmen dachte; eine andre Höhlung, gegenüber auf steiler Höhe, trägt den Namen das verfluchte Jungfernloch, und es ist an sie die oft wiederholende Sage einer verwünschten, bisweilen erscheinenden und niesenden Jungfrau geknüpft. Steiler hebt sich nun am gehauenen Stein die Strasse empor, wir aber schlagen einen schattigen, für Fussgänger sanft geebneten Waldpfad ein.“

Nach anderthalbstündiger Wanderung war das Forsthaus, die hohe Sonne, erreicht; noch einen Rückblick der Wartburg, die sich von dieser Seite aus mit ihrem Thurme ganz einsam und wie verfallen zu erheben scheint, dann thalhinab auf trefflicher, zum Theil ganz dem Fels abgerungener, an tiefen Abgründen vorbeiziehender Hochstrasse. Dort überraschte auf grauer Marmorrafel ein Denkspruch als Chronodistichon:


Des Wohlthätigen Herrschers kräftiges Wort gab
Den Wanderern hier sichre Strasse aus Wüsten Gebürgen,

und bald wurde das äusserst freundliche, in die waldumgebene Thalbreite hineingebaute Grossherzogl. Lustschloss Wilhelmsthal mit seinem schönen Naturparke, seinen spiegelnden Teichen und mannichfaltiger Benutzung dienenden Nebengebäuden erblickt, einer der beliebtesten und besuchtesten Vergnügungsorte der ganzen Umgegend. Diese Anlage athmet rings heitern Frieden, und entzückte die Wanderer, die sie, vom hellen Morgenlicht übergossen, malerisch beleuchtet erschauen durften und auch ihre Einzelschönheiten besuchten und besahen.

Das Gasthaus hatte den Ruhenden seine Labe gespendet, wenn auch die prosaisch plumpe Aufschrift der Trinkgläser: Gestohlen in Wilhelmsthal, ihre überraschende Wirkung nicht verfehlte, mindestens auffallen musste in der Nähe einer Hofhaltung, wie beim Besuche gesitteter und gebildeter Gäste – und Otto führte seine Lieben zu fernerer Wanderung wieder dem Walde zu. Ueber eine Thalbucht, wo Hirsche sich friedlich äseten, durch schattigen Buchenhochwald, ward wie in einem schönen Garten emporgewandelt, einer senkrechten, moosüberkleideten Felswand vorbei, einer Grotte, darin die zarten Goldblüthen des Chrysosplenium leuchteten, und unvermerkt sahen sich die Fremden, und überrascht, wieder auf der Hohensonne anlangen, während sie in dem Wahne gestanden, weitab in Waldestiefen sich zu verlieren.

Otto lächelte bei ihrer Verwunderung, und entschuldigte sich: „Ich konnte nicht umhin, euch den zurückgelegten, äusserst reizvollen Fusspfad bis wieder hier herauf zu führen, da wir von hier aus unsern fernen Weg verfolgen. Wir betreten den Rennsteig, der hier die Eisenacher Hochstrasse durchschneidet, erfreuen uns weiter Aussicht vom Gipfel des nahen Hirschsteins, und verfolgen dann südostwärts den einsamen Waldpfad.“

So geschah es; von erfrischender Kühle umflossen, ging es eine gute Strecke auf dem Waldkamme fort, in tiefer, menschenleerer Einsamkeit. Die Grenzsteine des Rennsteigs bezeichneten immer die Richtung, bis dieser verlassen und ein Seitenweg zur Linken nach Ruhla hinab eingeschlagen werden musste. Es ging sich gar herrlich und wohlgemuth in diesen weitausgedehnten Waldungen, die mit ihrer ganzen vollen Herrlichkeit und Frische die Wandrer umfingen. Dabei wurde in das schaurichtiefe Thal des Moosbachs hinabgeblickt, zur furchtbaren Klippenburg des Hangesteins, und mit Verwunderung an der kolossalen Felsgruppe des Wachtsteins verweilt, die mit Zacken und Steinthürmen der Ruine eines düstergrauen Waldschlosses gleicht, und nur 1/4 Stunde seitab des Weges liegt. Bald gesellte sich auch ein rollendes Bergwasser den Pilgern zu, und geleitete sie nach der merkwürdigen, in ein durchaus enges Thal mit 526 Häusern eingeklemmten, gewerbthätigen Ruhl, wie der Stadtflecken Ruhla vom Volk allgemein genannt wird. Der Ort war erreicht, wo der Waldschmiedt den Thüringer Landgrafen eisenhart schmiedete, wo Waffenfabriken blühten und verfielen, wo aber aus Messermachern und Pfeifenkopffabrikanten, und was sonst zu letztern gehört, fast die ganze männliche Einwohnerschaft besteht. Mit Vergnügen wurde diese lebhafte Gewerbsthätigkeit, nicht minder vor Augen tretende Vorliebe für Blumistik und Singvögel, die fast jedes Fenster beurkundete, wahrgenommen, und der eigenthümlichen schnarrenden Sprachweise des örtlichen Dialekts gelauscht. Die Fremden bemühten sich vergebens, Otto die schnell vorgesprochenen Worte im Ruhlaer Dialekte: „Guller, Giller, Galler, Krischscher, Quiker, Tropser,“ nachzusprechen, die allzumal einen Weinenden bezeichnen. Nicht minder erfreute den Maler die Nationaltracht geputzter Mädchen, die sich freilich immer mehr mit städtischen Moden verschmilzt.

Lenz erfreute sich im Weiterwandern an der Formation der Glimmerschieferberge, welche Ruhla umgeben; dem rauschenden Thalwasser entlang wurde eines der lieblichsten Thäler durchwandert; da grüsste der einsame Rest des Klosters Weissenborn, bald darauf ein besuchtes Gasthaus, der Heiligenstein, endlich trat die Ruine Scharfenberg malerisch über dem Dörfchen Thal hervor. Otto kürzte den Weg mit Erzählungen. „Hier ist der Schauplatz von Ludwig Storch’s beliebter Novelle: Förberts Henns,“ sprach er: „und dort am Ende des Dorfes zeige ich euch das kleine Haus, das der prophetisch begabte Wundermann bewohnte.“ Dann wusste er zahllose Sagen von dem hohen Wartberg, der sich den Wanderern zur Linken aufthürmte, zu berichten, von dessen Höhle und von goldsuchenden Venetianern, von Wunderblumen und spukhaften Erscheinungen. „Kaum weiss ich noch eine Gegend so sagenreich wie diese; hier hat der Hauch der deutschen Sagenpoesie Bach und Berg, Hain und Höhle belebt.“ Willig und gern hörten zu und folgten dem Sprecher die Freunde durch die grünen Waldlabyrinthe, die idyllisch einsamen Thäler, und standen nach ziemlichem Marsche staunend unter der schroffen, 200 Fuss hoch senkrecht aufragenden Felswand des Meissensteins, der aus porphyrartigem Gesteine besteht. Die Sage lässt in ihn ein Schloss verzaubert sein. Von dieser pittoresken Partie aus wurde nach Winterstein hinabgewandert, wo es wieder eine malerische Burgruine zu besehen gab. Hier ward nun für eine kurze Zeit der Wald verlassen; auf guten Feldwegen, in aussichtreicher Gegend, ging man durch die nahe beisammen liegenden Dörfer Fischbach, Cabarz und Klein-Tabarz, welche letztere von Bergleuten angelegt worden sein sollen, die vom Harze kamen und diese Gegend zuerst bebauten, und hatte nun schon den Tenneberg im Gesichte. Noch eine Anhöhe empor, durch die Pforte eines Wildzaunes, durch trauliche Waldung, und unversehens war, aus dieser heraustretend, die heitre Waldstadt Waltershausen mit fast 500 Häusern und über 3000 Einwohnern noch bei guter Zeit erreicht.

Waltershausen und das darüber liegende Schloss Tenneberg gewähren sich dem Auge von allen Seiten durchaus malerisch, und Wagner säumte nicht, noch einen Spaziergang um die, von freundlichen Gärten umgebene Stadt vorzuschlagen, obgleich die heutige Wanderung in etwas die Freunde ermüdet hatte – um einen Punkt zu zeichnen, von dem aus vorzüglich das Schloss sich pittoresk darstellen, und der friedliche Charakter der Stadt, die von Linden und Weiden umgrünt ist, angedeutet werden sollte. Als Otto gesprächsweise der hier betriebenen bedeutenden Wurstfabrikation erwähnte, trug Wagner scherzend eine Heerde Schweine auf seine Skizze über, die eben des Weges getrieben wurde.

Der Abend war allzuschön, um ihn nicht noch zu einem Ausfluge zu benutzen, nachdem man sich einigermaassen ausgeruht. Da bot denn der Sehnsucht nach Naturgenuss Tenneberg das würdigste, schönste Ziel. Otto führte die Freunde über den schöngebauten Markt und durch einige Strassen, darin die, kleinen Städten noch häufig eigne, alterthümliche Holzconstruction an den Gebäuden von Wagner für höchst malerisch erklärt wurde, dem Burgberge zu, und liess nicht unerwähnt, als man bei einem, dicht am Fusse desselben liegenden ritterlichen Freigute, die Kemnote genannt, vorbeikam, dass in ihm zuerst der Naturforscher Bechstein sein Forstinstitut begründet, bevor dasselbe nach Dreissigacker verlegt wurde, was einen natürlichen Grund abgab, dieses alte steinerne Haus mit mehr als gewöhnlichem Antheile zu betrachten.

„Nicht um in einem halbverödeten Bergschlosse, dessen weitläuftige Räume zum Theil noch als Amtslokal, Amtsvogtei und Beamtenwohnung dienen, uns herumführen zu lassen,“ sprach Otto, als die Freunde durch schattende Waldung emporstiegen: „geleite ich euch hier herauf und lasse die obern Zimmer öffnen, sondern einen reizenden Aussichtgenuss euch darzubieten.“

Daher wurde auch dem alten Mobiliar, den gedrechselten Stühlen mit Rohrlehnen, mit Sammt- und Ledersitzen, den Schreinen und Truhen von eingelegter Arbeit, obgleich darunter manches antiquarisch Kostbare, eben so wenige Aufmerksamkeit geschenkt, als den Jagdgemälden und Portraits, von denen zumal Letztere auf alten Schlössern so unheimlich anstarrend, befremdend blickend erscheinen, und nur mit halbem Ohre dem zuhgeört, was nebenbei Sagenhaftes von der weissen Frau, dem Burggespenst und einer historisch denkwürdigen Pseudokönigin aus England, die hier als erstere umgeht, der Schliesser erzählte. Otto leitete seine Gefährten einem Fenster zu und liess sie hinausschauen, während er selbst sich an ein anderes stellte, um momentan mit einer ihn süss und schmerzlich zugleich überwallenden Empfindung allein zu sein und einen Gedankenkuss in die weite Ferne zu senden.

Freundlich umlagerte die Stadt den Bergesfuss; zur Linken thürmten sich malerisch Berge über Berge der Waldkette; geradeaus hob sich der nackte Riese des Hörseelberges, ein schräges Horn emporstreckend, wie eine Alpenzinke, und auch fast so rosig, wie eine solche, vom späten Abendschein überglüht. In duftiger Ferne liess der göttlich heitere Abend den Brocken erblicken, und das zu Näherem zurückkehrende Auge eine unendlich ausgedehnte, wellenförmig gehügelte Flur überfliegen, deren reizenden Mittelpunkt ein Theil von Gotha mit dem weithin glänzenden Schlosse Friedenstein bildete, und deren Ende von diesem Standpunkt aus der Flötzgebirgszug, welchen die Seeberge bilden, begrenzt.

„In der That, himmlisch schön! Höchst reizend!“ riefen die Fremden, und zollten gern und aufrichtig der Natur dieses mit Wald und ergiebigen Fluren gesegneten Landstriches ihre volle Bewunderung. „Wie oft, und wie gestern, so auch heute wieder, weisst Du,“ sprach Wagner zu Otto: „zum Finale die melodischsten Farbentonwellen aufzusparen und erklingen zu lassen. Es ist eine geistige Musik in diesen Landschaften, die dauernd auf die Seele wirkt und aus dem Chaos von Wäldern und Felsmassen, Bergbächen, Kaskadellen und Thaltiefen immer wieder zum friedlich hingebreiteten offenen Gefilde leitet.“

Als die Freunde sich erquickt hatten am Reize mannichfacher Aussicht, lustwandelten sie noch auf dem Rücken des Tenneberges hinter dem Schloss, und während Otto berichtete, dass dessen Alter so hoch hinaufreiche, dass man den Erbauer nicht zu nennen wisse, äusserte sich Lenz auf das Höchste erfreut, denn er fand sich nicht nur von einer Fülle nicht häufig vorkommender Blumen und Buschhölzer überrascht, sondern auch im Muschelkalke des Berges und dessen aufgelagerten Mergelschichten Enkriniten und Trochiten, Ostraziten und Ammonshörner. Otto brach eine hier wildwachsende Feuerlilie, die durch die einbrechende Dämmerung leuchtete, und sprach: „Diesen Salamander im Reiche Flora’s lasst uns als Glücksblume vom Tenneberge hinwegtragen; vielleicht öffnet er den Zaubergarten der Liebe; mir ist, als hörte ich aus ihm ein endämonisches Flüstern: Wahrlich, ich sage euch, morgen werdet ihr mit mir im Paradiese sein!„ –

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch Thüringen