Abschnitt 2

Herrlich ist der Thüringerwald, wenn im Sonnenkuss eines heitern Sommermorgens die hohen Berghäupter erglühen, ...


Diese Erzählung leitete das Gespräch wieder auf Volkssagen im Allgemeinen, auf Thüringens grossen Reichthum an solchen, und dass es wohl nicht ganz unverdienstlich, sie zu sammeln und in schlichter Einfachheit aufzubewahren. „Was wir in dieser Weise jetzt aus dem Volksmunde noch gewinnen, ehe es zu spät wird“, sprach sich Otto darüber aus, „ist vielleicht spätern Generationen nicht unwillkommen, denen die natürliche Quelle, aus der uns noch zu schöpfen vergönnt ist, versiegt sein dürfte. Aus der Sagenpoesie, wie sie sich in den Völkern verschieden ausprägte, ist auf deren Charakter zu schliessen, wie auf ihren höhern oder tiefern geistigen Culturzustand. Es scheint die Zeit zwar noch fern zu liegen, in welcher man diese Sagenpoesie als eine zu pflegende Wissenschaft wird betrachtet wissen wollen, doch sind die Elemente zu einer solchen reichlich in ihr enthalten. Das scheinbar Harmlose, Unnütze sogar, das Fabelhafte, Haltlose, an Ammenmährchen und Weibergeschwätz bisweilen Streifende muss ihr freilich Gegner erwecken in einer Zeit, wo Alles dem Reellen zustrebt, wo eine Vergangenheit nur anerkannt wird, wenn sie auf festen Säulen unumstösslicher geschichtlicher Wahrheit ruht, und ächte Männlichkeit den achtungswerthen Grundzug alles wissenschaftlichen und literarischen Strebens, als erfreulichstes Zeichen der Zeit, zu bilden beginnt. Dennoch aber, meine ich, wird diese Richtung nicht ohne Nutzen für Wissenschaft und bildende Kunst ruhig und ernst zu verfolgen und höherer Entwickelung entgegen zu führen sein, und hie und da begegnender Tadel muss nur dazu anspornen, sie mit rechtem Ernst und am rechten Flecke zu erfassen. Ihr Nutzen, wenn man von der Blüthe Nutzen, wie von einer Frucht verlangt, ist zum Theil schon in der Stofffülle bewährt und probehaltig, die sie dem Dichter, dem Maler, dem Bildner zu tausendfachen Kunstschöpfungen darbietet, wenn die früher mehr gekannten und beliebten Stoife anfangen, sich zu erschöpfen.“


„Wenn dieses Letztere auch nicht der Fall werden wird“, sprach Wagner, „da die Antike, die Geschichte und selbst die Legende, welche zwischen Mythe und Volkssage in der Mitte steht, unerschöpflichen Stoff den Künstlern für ihre Darstellungen bietet, so wirkt schon der Reiz des Neuen anziehend und anregend. Die Düsseldorfer Malerschule hat uns mit mehrern erfreulichen Stücken solcher Art beschenkt. Wäre Historienmalerei mein Fach, so würde ich Dich bald mit einem Bild überraschen, das eine Deiner heimathlichen Sagen zum Vorwurf hätte.“

„Es ist ja bereits solche künstlerische Auffassung der Volkspoesie, namentlich durch die Malerei, nichts Neues mehr“, warf Lenz ein. „Wie mancher Balladenstoff, dem Sagenmunde des Volkes entnommen, wurde durch Bilder dargestellt! Denkt doch an Erlkönig, Lenore, denkt an Früheres, an Faust, an Frühestes, die Nibelungen!“
„Du hast in Bezug auf die Ballade Recht“, gab Otto zu; „allein vom epischen Stoffe, von der Nationalepopöe rede ich nicht, wenn ich von der einfachen Sagenpoesie des Volkes spreche, sonst erweitert sich der Kreis in das Unendliche und wird unübersehlich.“ –

Mitten im grünen Thalgrunde hoben sich jetzt vor den Augen der Reisenden zwei altergraue Thürme über rothen Ziegeldächern. Auf dem Berge zur Linken stand hoch über einem anmuthig auf die Höhe hingebauten Dörfchen die einsame Ruine einer Kapelle, zur Rechten schnitt eine schroffe Bergwand mit nacktem Felsgeklüft zwischen buschigem Laubwald die Aussicht ab.

„Dort liegt die einst reiche und stattliche Prämonstratenser-Abtei Vessra“, begann Otto, „jetzt eine Königl. Preussische Domaine, mit einem Gestüt von 170 Stück Pferdebestand, die grösstentheils im Sommer auf die Waldweide im Gebirge geführt werden. Wir wollen am alten Klosterthore, das noch ein steinernes Grafenwappen ziert, absteigen, und ich will Euch zu der Stelle führen, welche jetzt ein Stall ist und Winters von Stampfen und Gewieher durchschallt wird, in welcher jedoch einst die fromme Hymne, das Sanctus und Gloria und das Schellen der Messglocken erklang. Die gothischen Verzierungen der Fenster, die ragenden Thürme, das durch einen neuen Anbau halb versteckte, herrliche Portal im reinsten byzantinischen Style verkünden noch den ehemaligen prachtvollen Tempel. Ich wünschte, es wäre weniger von Kloster Vessra erhalten worden, dann stände das alte Tempelhaus mit seinen Riesenpfeilern vielleicht als einsame malerische Trümmer in diesem freundlichen Thale; so – ohne den Nutzen eines Gestüts und den Vortheil, den in räumlicher Beziehung eine zum Pferdestall umgewandelte Kirche gewährt, im Mindesten verkennen zu wollen – regt sich in mir, so oft ich hier weile, immer eine gewisse Indignation. Uebrigens wurde das Kloster, das unter seinen Mönchen einen der ältesten Hennebergischen Annalisten, als Monachus Vesserensis den Historikern bekannt, aufzuweisen hatte, im Bauernkriege angezündet und geplündert, und dort bereits im Jahre 1677 durch Herzog Moritz zu Sachsen das Gestüt errichtet.“

Die Freunde stiegen bald wieder ein und gelangten in das Werrathal und zu der Stelle, wo die Schleuse in die Werra fällt, und nach allen Seiten hin freundliche Landschaftsbilder sich dem Auge darbieten. Zunächst einige neue Ansiedelungen nahe der Brücke, wo sich die Flüsse vereinigen, die später vielleicht zu einem Dörfchen wachsen, das nicht unpassend Schleusemünde genannt werden dürfte; dann, nach dem Walde zu, der eben verlassene alte Klosterbau. Nach Westen zeigt sich das Städtchen Themar, eng von seiner Ringmauer umschlossen, und in geringer Entfernung dahinter der Engpass: das Nadelöhr, darüber die Warte eines hennebergischen Vasallensitzes, der Osterburg, welche der Bauernsturm ebenfalls brach.

Als die Reisenden mehr und mehr die Höhe des Berges gewonnen, wurde der Blick auf den Dolmar und die Geba im Westen, und im Süden auf die jetzt sich düster in der Nähe erhebenden Gleichberge frei, wie auf den Thüringer Wald. Auf dem kleinen Gleichberg konnte man deutlich die Basaltringe erkennen, die ihn wie Trümmer einer Teufelsmauer oder eines Riesenwalles umlagern, und Otto konnte die Tradition nicht unerwähnt lassen, dass dort ein Ritter einen Bund mit dem Bösen gemacht, ihm eine unüberwindliche Veste in einer Nacht und vor dem Hahnenschrei aufzuthürmen. Eine Legion Teufel rührte sich ämsig, schon stand der Bau, mit dem letzten Steine flog Herr Urian durch die Lüfte, da krähte der Hahn, vor Schreck liess der Böse den Stein auf den Feldberg bei Themar fallen und zerstörte wüthend den Bau. „Der Stein, den er fallen liess,“ fuhr Otto fort, „ist eine sehenswerthe Masse theils senkrecht stehenden, theils waagerecht liegenden Säulenbasaltes, mit starken Nestern von Olivin, um so interessanter für unsere Gegend, da alle Basalthöhen umher, Gleichberge, Geba, Dolmar, Hutsberg, Disburg, Heldburg, Straufhain und andere, so weit wir sie kennen, fast gar keine Säulen, sondern blos Trümmerbasalt liefern. Uebrigens fahren wir auf Trümmern jenes Teufelssteines, und dort müht sich eben ein Chausseesteinklopfer im Schweisse seines Angesichts, ein sechsseitiges Säulenfragment zu zerkleinen.“

„Wahrhaftig!“ rief Lenz und sprang aus dem Wagen, sich das Gestein näher zu besehen und einige hübsche Stücke mitzunehmen, die mit anderm Gesammelten von Zeit zu Zeit eingepackt und in die Heimath gesandt wurden.

Auf einem freundlich wechselnden Wege, der jedoch keine besondere Merkwürdigkeiten darbot, gelangten die Reisenden nach Hildburghausen, verweilten aber in dieser schöngebauten ehemaligen Herzogsresidenz von 362 Häusern und 3,500 Einwohnern nur kurze Zeit, um noch vor Abend den Ort zu erreichen, der Otto bewogen hatte, von Ilmenau aus die Tour über Schleusingen zu machen. Doch unterliess dieser nicht, einen kundigen Freund, der sich vom Anbeginn des Hessberger Fundes für diesen lebhaft interessirt hatte, zu ersuchen, mitzufahren, und dessen Vorliebe für die höchst interessante Naturmerkwürdigkeit liess keine Fehlbitte zu.

Zuvor aber führte Jener die Besuchenden zum Hause des Maurermeisters Winzer, wo sie mit Erstaunen wieder solche mächtige Steinplatten sahen, auf denen sich deutlich eine Menge Reliefs tatzenähnlicher Gebilde und pflanzenähnlicher Gewinde zeigten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch Thüringen