Abschnitt. 4 - Forstakademie Dreissigacker, die berühmte Schöpfung Herzog Georgs. - Villa Jerusalem und den ruinengekrönten Landsberg.

Meiningen hat, obgleich durch seine Lage in einem Thal etwas beschränkt, sehr freundliche Umgebungen und den Promenirenden hemmen in den herrschaftlichen Anlagen weder abweisende Wachtposten, noch drängen sich auf jedem Tritt Warnungstafeln in den Weg, noch auch wandeln spähende Aufseher mit müssiger Behaglichkeit umher. Das kleinliche und peinliche pedantische Zopfwesen, das sonst kleinere und grössere Residenzen namentlich auch in dieser Beziehung charakterisirte, ist verschwunden. Otto führte seine Freunde durch die Schattenallee des Bleichgrabens, machte sie im Vorübergehen auf das schöngebaute und zweckmässig eingerichtete Georgenkrankenhaus, wie auf das stattliche Gebäude der Bernhardschen Erziehungsanstalt für junge Engländer aufmerksam, welches Letztere sich eines höchst vortheilhaften Rufes erfreut und zahlreich besucht ist, und gelangte so mit ihnen zu dem Thore, durch das sie gestern einpassirten. Von dieser Seite nimmt sich die Stadt nicht eben vortheilhaft aus. Die Brücke überwandelnd sahen die Fremden auf einem Berge in halbstündiger Entfernung ein hohes Haus emporragen und fragten den Geleiter danach. „Es ist die Forstakademie Dreissigacker“ antwortete Otto: „die berühmte Schöpfung Herzog Georgs, zu deren Gründer und Lenker der Naturforscher Bechstein berufen ward. In einer Zeit, wo die Forst- und Jagdkunde als Wissenschaft noch in der Wiege lag, erhob sich dort auf jenem Berge ein Institut, das bald in ganz Deutschland, ja im fernsten Ausland mit Ruhm genannt wurde, und wesentlichen Antheil an den Fortschritten hatte, die seitdem die Forstwissenschaft machte. Das wetteifernde Aufblühen anderer Akademien, und das in einigen Ländern erfolgte Verbot des Besuchs ausländischer Anstalten hemmte erst später einigermassen die Frequenz; der empfindlichste Schlag traf aber die Forstakademie durch den Tod Bechsteins, obgleich dort immer noch Tüchtiges geleistet und gelernt wird. Des Naturforschers Name war die Aegide von Dreissigacker. Immer noch kann man ältere und jüngere Forstmänner mit Enthusiasmus von ihm reden hören, er war allgeschätzt als Gelehrter, eifrig als Lehrer, thätig als Staatsdiener, hülfreich als Menschenfreund, und der heiterste Gesellschafter, ein Mann im vollen Sinne des Wortes. Vielen hat er wohlgethan, vielen mit Rath und That geholfen, leicht sei ihm die Erde des stillen Friedhofs dort oben!“
Otto schwieg gerührt und unterdrückte, um sich nicht wehmüthig zu stimmen, das Beste, was er noch hätte sagen können.

Durch die schönen Anlagen des Herrnbergs schritten die Lustwandler und übersahen von dessen massiger Höhe die Stadt und das heitre Thal. Otto machte die Freunde darauf aufmerksam, wie von hier aus die alte Harfenform der Stadt noch am besten bemerkbar sei, die freilich durch die neue Vorstadt merklich verändert wurde. Das Residenzschloss zeigt sich hier in seiner ganzen Grösse, die imponiren könnte, läge es nicht ungünstig und versteckt, und fehlte ihm nicht äusserlich alle architectonische Zier. Freundlich blickt, dicht neben der unten am Fuss des Bilsteins vorbei fliessenden Werra, welche der Landschaft hier wahrhaft malerischen Reiz verleiht, das Naturalienkabinet aus dem schattigen Laubdach der hohen Ulmen und Kastanien des Schlossgartens. An mehren öffentlichen Gesellschaftsgärten vorüber gelangten die Spaziergänger, nachdem sie den lachenden Thalgrund nach Süden hinauf, nach Norden hinab überschaut, der heitern Villa Jerusalem und den ruinengekrönten Landsberg, auf welchem ein fürstlicher Neubau im gothischen Styl sich jetzt erheben soll, verweilenden Blick gegönnt, auf den Schützenhof, wo die gesellige Freude ihren Festsitz aufgeschlagen hatte, und die vortreffliche Blechmusik des herzoglichen Jägerkorps für eine bunte Menge willkommenen Ohrenschmaus bereitete. – Der Abend sank nieder, als Otto seine Gäste am schönen Theater und dem geräumigen Bazar vorbei und durch die sanftgewundenen Wege des Parks führte, in dessen Nähe sich eine neue gothische Kirchhofkapelle erhebt. Hinter dieser stieg voll und gross der Mond über die nahen Berge, und milder Abendfriede sank mit seinem magischen Licht auf die Welt.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch Thüringen