Abschnitt. 2 - Buchenwald. - Lustschlösschen Amalienruh. - Sophienlust. - Hospital Grimmenthal. - Ellingshausen. - Suhl und Mehlis. - Hennebergisches Grafenwappen. - Baumgiganten. - Carl Gottlob Cramer. - Herzog Georg. - Ernst Wagner.

Durch die grüne Nacht eines herrlichen Buchenwaldes, durch dessen Laub hin und wieder goldene Sonnenstrahlen brachen, stiegen die Wanderer jetzt bergab, und wurden, als sie aus dem Gehölz traten, von einem herrlichen Landschaftbilde überrascht, dessen Hintergrund ein majestätischer Berg, die Geba, bildete. Dann erreichten sie das tief in die Thalbucht versteckte herzogliche Lustschlösschen Amalienruh, das auf alten Landkarten Sophienlust bezeichnet ist, und besahen in diesem ehemals fürstlichen Wittwensitz manches interessante allfränkische Geräth, manch hübsches Bild, zu welchem allen der ortskundige Otto Schlüssel und Kommentar gab. Dort erwartete der Wagen die Reisenden, sie fuhren nun rasch im fröhlichen Gespräch von dannen, bogen aber da, wo die Hochstrasse sich theilte, nicht zur Linken nach Meiningen ein, sondern fuhren thalaufwärts und über eine Anhöhe, wo sich in der Beleuchtung der späten Nachmittagssonne eine reizende Aussicht in das Werrathal aufthat; fünf Dörfer und das, wie ein Schlösschen prangende Hospital Grimmenthal lagen malerisch in den Gründen zerstreut, und über Ellingshausen grüsste ein Stück blauer Bergwald herüber, ein Theil der Thüringer-Waldkette in der Gegend von Suhl und Mehlis. „Wir fahren dorthin nach Grimmenthal, der Stätte einer einst berühmten Wallfahrt,“ begann Otto, indem er auf den genannten Ort hinwiess: Jetzt ist dort ein reich dotirtes Hospilal für zwölf Pfründner, aus dem Aerar der Wallfahrtskirche fundirt.“

„Du fährst uns in den Spittel?“ fragte Lenz mit leisem Spott. „Nicht hinein,“ entgegnete Otto: „ihr sollt nur dort im Hofe des Hospitals etwas sehen, dessen Gleichen wir auf unsrer Fahrt durch ganz Thüringen nicht wohl zum zweitenmale erblicken werden.“ Als das heitre Haus Grimmenthal erreicht war, über dessen Thor ein wohlerhaltnes Hennebergisches Grafenwappen sich zeigte, wie neben an eine alte eingemauerte Inschrift, beide aus den Trümmern der einst so berühmten und schönen Wallfahrtskirche gerettet, bedurfte das zu Schauende keines besondern Hinweises. Die Fremden staunten. Ein kolossaler Lindenbaum, um welchen einige Gartenkanapees standen, hob seine Blälter und Blüthenfülle empor. „Welch herrlicher Baum!“ riefen Wagner und Lenz aus, indem der erste ihn mit dem Blick des Malers, der andere ihn mit dem Auge des Naturkundigen beschaute. Zwei riesige Aeste stiegen von dem nicht hohen, aber umfangreichen Stamm hoch empor, jugeudlich kräftig grünend und blühend, oben aber gesichert durch Balken verbunden, denn der uralte Stamm, welcher schon einen, und zwar den grössten seiner riesigen Aeste verlor, ist hohl und marklos. Während Wagner eine Skizze von der ehrwürdigen Wahlfahrtlinde nahm, umklafterte sie Lenz, und brachte nach sorgfältiger Messung ein Umfangresultat von sechsunddreissig Fuss heraus. „Wie alt hältst Du den Baum?“ fragte Otto, „Achthundert Jahre und darüber zählt er gewiss,“ gab Lenz zur Antwort. Unter dem grünen, duftenden, bienendurchsummlen Laubdach des uralten Baumgiganten sassen bei einem frugalen Abendbrod, das der Speiser des Hospitals auftrug, die drei Freunde. Die Sonne küssle noch den Wipfel und die Berghöhen, von den nahen Dörfern klang Abendglockengeläute herüber. Ein freundlicher Greis, der älteste Pfründner, lustwandelte im Hof, und Otto erzählte den Freunden die Geschichte des Wahlfahrtortes. „Jener alte Mann, und dieser Baumgreis,“ begann er: „wecken in mir stets die gleiche Empfindung einer gewissen Wehmuth, die ihren Duftschleier über den Ort breitet. Dieser liegt mitten in der Gegenwart, wie ein Stück alte Zeit, wie ein Chronikblatt, darauf viel von Meteoren, Wundern und Abenteuern zu lesen ist. Die Wallfahrt entstand, als ein erkrankter Ritter vor einem alten Muttergottesbilde unter dieser Linde kniete, um Genesung flehte, und wie durch ein Wunder genas. Das Wunder „des Glaubens liebstes Kind“ flog von Mund zu Mund, erst kamen Hunderte, dann Tausende, gleichen Glückes theilhaftig zu werden; Glaube half, Dankbarkeit opferte, bald hob sich ein prächtiger Tempel hier, und es wuchs noch der Ruf des wundertätigen Gnadenbildes, während schon hoch am Himmel die Sonne Luthers stand. Das Land Henneberg war hinter dem Schritt der Zeit zurück geblieben, da warf diese einen Blick zurück in das grüne Thal, und hauchte den Nebelschleier, der es noch deckte an, dass er zerrann. Luthers Zorn donnerte gegen Grimmenthal, sein Wort flog wie ein siegreicher Königsaar über das Gebirge herüber, die Henne erschrak, die Madonna stand einsam.“ – „Und die Kirche?“ fragte Wagner. „Die schöne Kirche ward Ruine; diese wäre eine Zier der Gegend geblieben, aber sie ward, wie so manche andere im lieben deutschen Vaterland, ökonomischen Zwecken geopfert, nur die Linde hier, die uns mit fallenden Blüthen überträufelt, steht als Zeugin jener romantischen Vergangenheit noch da.“
„ Almae naturae!“ rief Lenz den Becher emporhebend gegen das duftige Gelaub. „Leben und Gegenwart! Lange noch schirme den Baum die Hamadryade! Mit diesem Wunsche lasst uns vom Grimmenthal scheiden!“ – Die Freunde brachen auf, rasch trug sie der leichte Wagen durch die Thalebene, und die im letzten Abendschein friedlich liegenden Dörfer. Grau und ernst lag die ehemalige Veste Massfeld mit ihren starken Mauerthürmen da, und Otto erzählte noch von diesem alten Grafenschloss, von der Belagerung, die es im dreissigjährigen Krieg erlitten, von der reichen Waffensammlung, die es in seinem Zeughaus einst bewahrt, wie von dem jetzigen Gebrauch des alten Baues, als Zucht- und Besserungsanstalt – als die Freunde bereits in der schönen, eine Stunde langen Allee fuhren, die sie bis an das Thor von Meiningen brachte. Aus öffentlichen Berggärten schimmerte Lichtglanz sternenhell durch die beginnende Sommernacht, um die lebendigen Zäune flogen Leuchtkäfer, und lustwandelnde Gestalten belebten alle Wege. Der Wagen hielt an Ottos Haus, noch einmal rief er den Freunden zu, sie umarmend: „Willkommen!“ –


Einen Tag nur hatten die Gefährten zur Rast bestimmt; Otto, selbst schon zur Weiterfahrt gerüstet, suchte diesen so gut als möglich dazu zu benutzen, jenen das wenige Sehenswerthe in rascher Uebersicht vorüberzuführen, das eine kleine Residenz von nur 570 Häusern und 5600 Einwohnern darbieten kann, selbst wenn sie, wie Meiningen, unter der Aegide eines kunstsinnigen und alles Schöne und Gute eifrig fördernden Fürsten immer wachsender Verschönerung entgegenblüht.

Ueber den regelmässigen und sehr geräumigen Marktplatz, auf welchem die oft erneute, aber schon im Jahr 1003 erbaute Stadtkirche mit ihren zwei Thürmen steht, führte Otto seine Freunde durch die untere Marktstrasse, zeigte ihnen im Vorübergehen das Haus, in welchem Jean Paul gewohnt und liess dabei nicht unbemerkt, dass das gestern von ihnen besehene Grimmenthal dessen Lieblingsspaziergang und Aufenthalt gewesen; bezeichnete dann ein anderes Haus als Wohnung von Schillers Schwester, und ein drittes als das, welches einst der fruchtbare Romanschriftsteller Carl Gottlob Cramer besessen, bevor er als Lehrer an der nahen Forstakademie, dreissig Acker andern Wohnsitz und endlich dort auch ein Grab gefunden. „Meiningen sah“ sprach Otto im Weitergehen erzählend zu den Freunden: „zu Ende des vorigen und im Anfang des jetzigen Jahrhunderts unter Herzog Georg manche erfreuliche Bestrebung in literarischer und artistischer Beziehung. Der Herzog selbst voll Geist und überall anregend, hätte gern nach dem Beispiel Weimars einen Kreis von ruhmvoll genannten Literaten und Künstlern an seinem Hofe versammelt, allein es lag nicht in den Verhältnissen, diesen Wunsch in würdigster Ausdehnung erfüllt zu sehen, und manchen schönen Plan zerriss des edlen Herzogs allzufrüher Tod. Als ausgezeichneter geistlicher Liederdichter lebte damals Pfranger hier, bekannt durch sein Gegenstück zu Lessings Nathan: Der Mönch von Libanon; der Bibliothekar Reinwald, Schillers Freund und Schwager, zeichnete sich durch witzige Epigramme aus; auf dem herzoglichen Liebhabertheater wurden, mit Verdrängung des damals noch herrschenden französischen Geschmacks, gediegene Stücke aufgeführt, wie Lady Johanna Gray, von Wieland; Julius von Tarent, von Leisewilz und Andern. Leisewitz schrieb damals selbst an Reinwald und sprach sich über die Idee des Stücks gegen diesen aus. So lebte auch der berühmte Maler Reinhard in Rom eine Zeillang als Gast bei dem Herzog, und hinterliess hier manches Bild, manche Zeichnung und Skizze. Später während Cramers überfruchtbare Muse den Romanenheishunger der gewöhnlichen Lesewelt lange Zeit hindurch befriedigen half, streute hier Ernst Wagner die edleren Blüthen seines am Guten und Schönen erwärmten und durchbildeten Geistes aus, welche die wohlverdiente Anerkennung fanden.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch Thüringen