Abschnitt 1

Wer jemals in einer der heitern Thüringerwald-Städte süssruhend vom Kuss des Morgens geweckt wurde ...


Wer jemals in einer der heitern Thüringerwald-Städte süssruhend vom Kuss des Morgens geweckt wurde, ohne mit dem Bewusstsein zu erwachen, du musst aufbrechen und weiter wandern – wer dann gemächlich sich erhob und behaglich zum Fenster hinausschauend die Frische des Morgens wohlgemuth in sich trank, links und rechts und gegenüber Nachbarhäuser und Nachbarfenster musterte, und über ein und das andere Haus hinweg gleich hinaus sah auf Wald und Berge, der hat gefühlt, was die Reisenden empfanden, die in Ilmenau einen jungen Tag begrüssten, dessen Erwachen so erquickende Kühle fächelte und dessen Himmel so rein und saphirblau sich über dem dunkelgrünen Gebirge wölbte. Das Hirtenhorn durchschallte den noch stillen Ort, und in einem endlos langen Zuge wandelte die Heerde der Stadt mit ihren harmonisch gestimmten Glocken dem Thore zu.


Lenz und Wagner hatten von den holden Jungfrauen geträumt, die ihnen am gestrigen Tage auf dem Oberhof erschienen, und waren an ihrer Seite über elysische Gefilde gewandelt, während Otto, in frühe Zeiten vom Zauberer Hypnos zurückgeführt, im wunderlichen Traumleben halb schwelgte, halb litt. Jenen beiden war es Genuss, von der freundlichen Erscheinung zu sprechen, die, wie es schien, ihre Herzen dauernd beschäftigte und beglückte, und der Freund kannte viel zu sehr aus eigener Erfahrung die holde Schwärmerei jugendlicher Liebesphantasieen, um nicht theilnehmend den Mittheilungen, Wünschen und Hoffnungen seiner Begleiter sich hinzugeben. Er fühlte lebhaft, dass es nicht wohlgethan sei, auf dem Verfolg der Reise stets nur den Docenten hervorblicken zu lassen, sondern wo möglich selbst auch Lernender zu sein, wäre es auch nur in der schweren Kunst der Herzenskündigung.

Endlich entstand nach dem Frühstück doch die Frage: wohin zuerst? Sollte die Porzellanfabrik, oder die Papiermachéefabrik zuerst besehen, oder zuerst ein Ausflug in die Umgegend gemacht, ein Bergwerk befahren und Mineralien gesehen und gesammelt werden? Es war an Otto, die Eintheilung des Tages, den die Reisenden zum Verweilen in Ilmenau ersehen hatten, zweckmässig zu bestimmen. Er schlug vor Allem eine Morgenspazierfahrt vor, die ohne Verzug ausgeführt wurde. Rasch durchfuhren die Freunde das Städtchen, zum obern Thore hinaus, an der Porzellanfabrik, den Halden des Johannesschachtes und seinem Zechenhause vorüber und den Martinröder Berg hinan. Auf der Höhe wurde an einem reinlichen geebneten Platze Halt gemacht, und den Aussteigenden stellte sich ein einfaches Werk der Kunst und ein bewundernswerthes der Natur dar; das erste ein Denkmal in Form eines Altars aus dem rothen Sandstein des Berges, mit der Inschrift auf der einen Seite:

Marienstrasse
Ihr Name unser Stolz
Ihr Zweck gemeinsamer Nutzen.
auf der andern Seite:
Die Communen des Amtes Ilmenau
1809 – 1811.

und Otto erläuterte, dass die Strasse ihren Namen zu Ehren der Grossherzogin Maria Paulowna von Weimar erhalten habe. Die Fremden umstanden aber bald anstaunend die grosse Eiche, einen riesigen, wohl mehr als tausendjährigen Baumstamm, der gerade nicht hoch, aber weitschirmend die greisen Aeste breitet. Derselbe übertrifft zwar nicht die Grimmenthaler Wallfahrtslinde an Umfang, steht ihr aber nur wenig nach. Lenz umklafterte den Stamm und fand, dass derselbe über dreissig Fuss im Umfang hielt. Eine reizende Fernsicht bot sich von der Höhe des Martinröder Berges den Reisenden, die vom jungen Morgen verklärt ward. Durch die Waldung ist ein Blick frei auf die aus dem Wiesengrund aufragende Elgersburg, hinter welcher die Arlesberger Forste mit dem Rumpertsberg, dem Schmidstein, dem Lindenberg und andern einen dunkeln Hintergrund bilden; die schmale Thalrinne des Martinröder Wassers gewährt einen Hinabblick auf das Städtchen Plaue, einen der ältesten Orte Thüringens, über welchem malerisch die Ruine der Ehrenburg thront, und die weisse, hochgelegene Kirche weithin leuchtet. Hoch und kahl, mit wilder Felsklippenzerklüftung, hebt sich mehr rechts die Höhe der Reinsburg über ihre Nachbarberge; ein Stück Gemäuer, das auf ihrem Scheitel steht, bezeichnet die Stätte einer bis auf den Namen ganz verklungenen Veste. Weitere Aussicht deckt die Tannenholzung; aber äusserst lieblich gewährte sich den Rückfahrenden die Ansicht von Ilmenau mit seinen 417 Häusern, das am Fusse der Sturmhaide, zum Theil noch mit an ihrem Abhang freundlich und nett nach wiederholtem Brandunglück hingebaut ist. Breite Wiesenstrecken rahmten eine Menge kleiner Teiche ein, und einer derselben blitzte gross und weit, wie ein spiegelnder See, das Gold der Morgensonne zurück.

„Hinter dem Ehrenberg, der sich über jenem grossen Teich erhebt“, nahm Otto das Wort, „liegt ein Marktflecken, in welchem ein genialer deutscher Schriftsteller das Licht der Welt erblickte. Langewiesen ist des Fleckens, Heinse des Schriftstellers Name. Aus dem rauhen Klima des Thüringer-Waldes trat diess feurige Herz und legte sich erglühend an den warmen, üppigen Busen Italiens. Der Süden beugte sich über ihn, sah ihn tief und lange an mit den schwarzen, flammenden Augensternen, und als er ihn fragte: wie heissest du? antwortete der Süd mit einem Seufzer: Fiormona! Laidion! Heinse trat wie ein wunderbarer Stern an den Dichtersternenhimmel seiner Zeit, und verschwand wie ein solcher. An seinen Strahlen entzündete Mancher der Romantiker seine Gluth, und der Einfluss seines Ardinghello auf mehre Werke dieser Schule ist unverkennbar. Dieser Dichter kam mit seinen phantastisch-üppigen, sinnlich-flammenden Phantasiegebilden und Künstlernovellen um dreissig Jahre zu früh. In seiner stillen, einförmigen Heimath litt es ihn nicht, er musste wandern, schwärmen, glühen, anbeten, und ist fern von Thüringen gestorben.“

Die Freunde hatten Ilmenau wieder erreicht und der Führer rieth zu einem Excurs nach Manebach, um dort das Bergwerk zu besehen und das sehr freundliche Thal nicht unbesucht zu lassen. Zuvor führte er aber die Gefährten bei einem seiner Ilmenauer Freunde ein, der den Bekannten wie die Fremden mit gewohnter herzlicher Gastlichkeit willkommen hiess, obschon ihm bereits das Vogelschiessen das Haus mit Gästen gefüllt hatte. Alles war in heiterer, seelenvergnügter Stimmung, wie ein Volksfest sie erfordert, und reichlich flossen schon am Vormittag die Gaben des Dionysos. Ja es hielt sogar schwer, sich wieder loszureissen aus dem frohen Männerkreise und der Unterhaltung, welche ihn belebte. Während Otto mit alten lieben Bekannten Fragen und Antworten tauschte, erzählte der Herr des Hauses dem naturkundigen Lenz, an welchem er einen aufmerksamen Hörer fand, die Geschichte des Ilmenauer Bergbaues, zeigte ihm aus dem Fenster seines der Sturmhaide ganz nahe gelegenen Hauses diesen Berg und berichtete, dass auf ihm in den ältesten Zeiten eine Raubburg gelegen, die vom Kaiser Rudolph mit 65 andern zerstört worden sei, dass schon im dreizehnten Jahrhundert der Bergbau, doch mit mancher Unterbrechung, geblüht habe, vornehmlich auf Kupfer und Silber betrieben, letzteres mit einer Ausbeute von 16,398 Mark innerhalb 10 Jahren. Der Berichterstatter nahm aus einem Büreauschranke die ganze reichhaltige Serie der in Ilmenau geprägten sächsisch-hennebergischen Silbermünzen und zeigte sie vor, meldete dann, wie durch Teichdurchbrüche und überwältigende Grubenwasser die Werke zum Erliegen gekommen, wie durch den Grossherzog Carl August unter der thätigsten Mitwirkung Göthe's und des Bergraths Voigt, des bekannten Mineralogen, 1784 abermals eine neue Gewerkschaft gebildet und eine Zeitlang nicht ohne Erfolg der Bau im Flötzgebirge der Sturmhaide auf erzhaltigem, bituminösem Mergelschiefer betriehen worden sei. „Doch ein Stollenbruch“, fuhr der Erzähler fort, „welcher sich im Martinröder Stollen 1796 ereignete, ersäufte den Kunstschacht – und die Gewerke, die ohne rechten Erfolg 16,000 Thaler in dem neuen Johannesschacht bei Roda verbaut hatten, wurden muthlos. Das Beste, auf was wir jetzt noch hauen, ist Eisen und Braunstein.“

Unterdess hatte einer der anwesenden Bewohner Ilmenau's ein Gespräch mit Wagner angeknüpft und diesen von den Tagen unterhalten, welche Carl August, Göthe und Knebel dort in heiter waltender Gemüthlichkeit, allen Zwanges baar, den die Etikette in Weimar den verwandten Geistern vor Zeugen anlegte, oft übersprudelnd froh verlebt. Da ward jenes noch stehende Berghäuschen auf dem aussichtreichen Gipfel des Gückelhahns erwähnt, an dessen Wand Göthe mit Bleifeder einen sinnigen Vers schrieb, und Anekdote an Anekdote gereiht. Auch noch vorhandene Briefe Göthe's in den damaligen Bergbau-Angelegenheiten wurden erwähnt und vorgezeigt, sie trugen aber alle den gleichen Typus des formellen Geschäftsstyls, den der grosse Dichter sich angeeignet hatte, so dass nichts Erfreuliches aus ihrer Lectüre gewonnen wurde.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch Thüringen