Abschnitt. 2 - Weiter nach Süden sehe ich den Fernblick erschwert ...

„Weiter nach Süden sehe ich den Fernblick erschwert durch aufsteigende Dünste und durch die Strahlen der ihrer Mittagshöhe scheinbar zueilenden Sonne. In jener Richtung haben wir am Horizont die Gleichberge bei Römhild zu suchen, und finden das langgestreckte Plateau der linken Seite des Werrathales, darauf Dreissigacker mit einer Allee recht gut erkennbar ist. Die Geba streckt sich hoch empor, und ein Stück in das Werrathal hereinblickeud sind die drei Breitungen, die Todtenwart, Schwallungen und die Warte der Maienluft über Wasungen zu erkennen. Am Horizont zieht die bläuliche Kette der Rhön mit dem Kreutzberg und dem Gangolf hin, die Region der Basaltkegel beginnt, unter denen die Milzeburg durch besondre Schroffheit sich kennbar macht. Unten am Bergesfuss der freundliche und stattliche Flecken ist Brotterode, den wir hernach bergabwandelnd begrüssen, da die Equipage dort der Eigentümerinnen harrt.“ –

Der weiblich ängstlichen Frage, ob der Hinabweg beschwerlich? begegnete Otto tröstlich verneinend, und fuhr weiter in seiner Demonstration der aus Vogelperspektive überschauten Gegend fort.


„Im Westen sehen wir Salzungen in offner Thalbreite des Werraflusses liegen, mit dem gastlichen Seeberg, und nahe dabei zur Rechten den Krainberg mit malerischer Ruine; nun streift der Blick wieder über unendliche Waldungen des sich überall zum Werra- und Hörseelthal absenkenden Gebirges. In blauer Ferne verschwimmen die Höhenzüge Westphalens, das Vogelgebirge; in dieser Richtung erkennen gute Augen den Herkules der Wilhelmshöhe. Der Meissner streckt seinen Sargrücken in der Gegend zwischen Kassel und Göttingen aus, und aus einer Gegend, die uns nur wenige Orte zeigt, rückkehrend, senkt sich der Blick gern auf die Wartburg nieder, welche hier zwischen dem West- und Nordpunkt malerisch nahe steht; auch die Ruine Scharfenberg und die groteske Felswand des Meissenstein bringen sich noch einmal in unsre Erinnerung. Der Wartberg, der nahe ein Riese scheint, liegt mit seinen Felstrümmern bescheiden zu unsern Füssen. Ihn überragend zeigt sein Nachbar, der Hörseelberg, den kahlgestreckten Rücken, und setzt einen Fuss nach Schönau, den andern nach Sättelstedt. Er beschliesst unsern Rundgang; wir langen wieder auf dem Punkt unsers Ausganges im Norden an.“ –

Es war auch Zeit, dass dies geschah; die Umstehenden hörten plötzlich einen Donnerschlag, tief unter sich, und erblickten, dem Hause zueilend, eine im Süden stehende graue Nebelwand, die von meteorischer Flamme durchzuckt wurde. Kalter Wind begann zu wehen, entsetzt schrieen die Damen auf, als rasch hintereinander die Schlangen der Blitze wie blaue und feuerrothe Leuchtkugeln emporfuhren – und eilten in das Haus, sich erinnernd, wiederholt gelesen zu haben, dass es durchaus gefährlich sei, auf hohen Berggipfeln dem Spiele der tödtlichen elektrischen Funken zuzusehen. Dieses Schauspiel kann leicht tragisch enden. Der Donner rollte fast endlos in der Niederung fort, das Gewitter hob sich auf Sturmwindflügeln, das Haus stand von Flammen umlodert, und selbst die Herzen der Männer pochten ängstlich; man stand in der Hand des Höchsten und fühlte die eigne Ohnmacht. Doch der Engel des Herrn, der im Wetter erschien, zog mit dem flakkernden Blitzesschwerte sausend vorüber, waldeinwärts ballte und rollte sich das leuchtende Gewölk, und gewährte nun, ferner gerückt, die majestätischste Naturscene, die reichlich für die Entbehrung eines, wiewohl zuweilen äusserst prachtvollen, Sonnenauf- oder Unterganges auf dieser Höhe entschädigte. „Ich war einmal, hier oben weilend, so glücklich,“ erzählte Otto: „die Sonne sinken zu sehen; es war schon Herbstnähe und der Abendschein hüllte Himmel und Land in lichtes krokosfarbiges Gold. Eine Stunde später entbrannte dunkelglühend die Kugel des Vollmondes; dann folgte eine schlaflose Nacht auf elender Streu, welche Nacht von trunkenen, jauchzenden und sich prügelnden Insassen des nächst unten liegenden Ortes durchtobt wurde; ihr ein kalter, unerquicklicher Morgen, aber ein wunderbarer Sonnenaufgang, denn wie zuvor der Mond, so erschien auch die Sonne durch den Nebel der Frühe wie geschmolzenes rothglühendes Metall.“

Das Wetter hatte auf der Höhe nur wenig feuchte Spuren zurückgelassen; der Hinabweg konnte ohne Beschwerde angetreten werden. Freundlich wurde den Damen der Arm geboten, und die kleine Karavane brach auf, eben als eine andre, zahlreichere, etwas übel zugerichtete, anlangte, die einem starken Schlagregen unter dem halb und halb schützenden Gewölbe des Thorsteins mit Mühe entgangen war, und welche die Absicht kund that, auf dem Berge zu übernachten. Man wünschte ihr viel Vergnügen, und wandelte bergein. In anmuthigen Windungen zieht sich der Pfad; ein Botaniker kann sich auf ihm viel für sein Herbarium sammeln. Den Bergscheitel umkriechen nur krüppelhafte Fichten, doch wenig niedriger beginnt üppige mannichfaltige Vegetation. Lenz hatte diesesmal kein Auge für die Seltenheiten der Flora, er hielt Engelbertha’s Arm fest in den seinen geschlungen, er schien die Wunder- und Glücksblume der Liebe gefunden zu haben. Die beiden jungen Paare wandelten voran, beobachtet von dem scharfspähenden Auge der Mutter, und diese wusste mit Feinheit von Otto so viel umständliche und nähere Nachricht über alle Verhältnisse seiner begleiteten Freunde auszuholen, als ihm zu geben möglich und ihr zu fernem Entschliessungen erspriesslich war. Sie sah, wie ihre Töchter mit schuldlosester Unbefangenheit den jungen Männern sich harmlos anschmiegten, wollte nicht das kindliche Vertrauen stören, wünschte es aber auch nicht gemissbraucht und geknickt, und Hess sich daher von Otto gern in Bezug auf jede Befürchtung beruhigen. So mochten wohl alle Betheiligten mehr in die Zukunft, wie in die Gegenwart ihre Blicke richten, als die Gesellschaft nach dem Marsch einer Stunde in Brotterode ankam, das mit 340 Häusern in einer malerischen Weitung des Gebirges am Fusse des Inselberges liegt. Schon von weitem wurde Musik vernommen, vom Kirchthurm sah man eine grosse Fahne wehen. Es war Kirchweihe in dem langgebauten Flecken; man sah viele stattlich und eigenthümlich geputzte Landleute, darunter das Vorwalten eines städtischen Luxus. Otto erklärte diesen aus dem lebhaften Verkehr hier wohnender wohlhabender Handelsleute en gros, welche hier gefertigt werdende Metall- und Holzwaaren weit versenden. Auch ist Tabaksfabrikation ein bedeutender Nahrungszweig der Einwohner. „Junge Bursche und Männer in unsern Kleinstädten und Dörfern,“ sprach Otto bei dieser Gelegenheit: „tragen fast allgemein modische Westen, kurze Jacken von dunkelm Tuch, ebensolche Mützen mit einem Lederschild, seidne Tücher, lange Beinkleider und Stiefeln. Die Pelzpardel, eine Mützenart, welche die alte gemeine deutsche Spielkarte am Unter und Ober zeigt, die bäuerisch zugeschnittnen Jacken, die kurzen Beinkleider von gelbem Leder oder Sammtmanchester, die wollenen Zwickelstrümpfe und derben Nägelschuhe, der ganze ehemalige Staat, schwinden in diesem Theile Thüringens mehr und mehr.“

Das grosse und gutgebaute Wirthshaus war durchwühlt, durchsummt, durchklungen von jungem und altem Volk und der Tanzmusik, dass es schlitterte; die Reisegesellschaft sah, während der Kutscher anschirrte, dem fröhlichen, jauchzendlauten Volkstreiben zu; die Kirmsenbursche prangten mit grossen Sträussern, buntseidnen auf die Achsel befestigten Tüchern, und während eine Parthie hier jubelte und tanzte, zog eine zweite Musik heran, Paar an Paar vorüber, einem andern Hause zu. Es gab mannichfaltige Abwechselung des Putzes, und schöne, freudeglühende Mädchengesichter zu betrachten.

Aus diesem lebensfrohen Getümmel eines dem Volke wohl zu gönnenden nationellen Festes fuhr die Gesellschaft, (Otto hatte wieder einen Rosinante aufgetrieben und sass mit Lenz in einem ländlichen Cabriolet, Wagner als Glückskind bei den Damen) in das ?usserst romantische Drusenthal ein, durch welches ein Bergfluss, die Lauter, mit lautem Ungestüm abwärts eilt, und in tollen Sprüngen über Granit- und Porphyrblöcke stürzt, vergrössert durch immerwährend einfallende Rinnbächlein vortrefflich bewässerter und darum herrlich grünender Wiesen. Otto machte seinen Begleiter auf die mannichfaltigen Arten vorkommenden Gesteins aufmerksam. Granit, Syenit, Gneiss, Feldspath, Quarz, Amethyst, Glimmer und Hornblende finden sich oft neben einander, auch Gabbro, Saussurit und Bronzit kommen vor.

Auf gut chaussirtem Fahrwege ging es, zunächst einem Zainhammer, dann einer Schleifmühle vorüber, nun thalein. Massen von Felsblöcken liegen umhergestreut und im Bette des Baches; weiter abwärts ragt mitten aus grüner Waldung thurmähnlich ein Felsobelisk: der Hauptstein, empor. In sanften Windungen folgt die Strasse dem Thale, bis ihr fernerer Lauf dem vorausspähenden Auge sich entzieht, und von einer Felswand verschlungen oder aufgehalten zu werden scheint, die, je näher der Reisende kommt, immer imposanter, immer pittoresker sich darstellt.

Ein Granitberg zerborst und überstreute mit gewaltigen Trümmermassen das hier enge Thal. Den Einsturz drohend, steht noch mit überhängenden zerklüfteten Klippen die rechte, von Blumen und Buschwerk reizend bekleidete Felswand. Der Bergfluss sucht tosend durch das mühsam gewühlte Bette die Bahn, und stürzt in schäumenden Wasserfällen weiter. Dort in der grotesken, aber anmuthig beleuchteten, entzückenden Wildniss rasteten die Reisenden lange, und gaben sich betrachtend, zeichnend, mittheilend, und wild mit einander kämpfende Elementarkräfte sich vergegenwärtigend, den mächtigen Eindrücken hin, welche die vorzüglichste Parthie des oft besuchten Drusenthales erregt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch Thüringen