Abschnitt. 2 - Dies ist denn nun, die romantische Burg Gleichen ...

„Dies ist denn nun,“ sprach Otto: „die romantische Burg Gleichen, hier lebte und hier liebte jener sagenhafte ritterliche Held, dessen Abenteuer und Erlebniss Dichter begeisterte, Kritiker entzweite, Forscher anregte, und dieser alten Veste Berühmtheit bis zum fernen Auslande verlieh, ja über sie und die Sage selbst eine so bändereiche Literatur hervorrief, wie wohl wenige deutsche Burgen sich zu erfreuen haben.“

„Fürwahr,“ unterbrach Lenz: „es wird sich die bekannte Sage recht gut noch einmal vernehmen lassen hier auf der sommerluftigen Höhe, am Schauplatze der Historie. Ich sehe dort über der Thüre wahrhaftig noch den gelöw’ten Leoparden aus dem Wappenschilde seine Pranken gegen uns ausstrecken, und uns mit vollem Gesicht anfletschen, dessen Musäus in seiner beliebten Darstellung der Sage erwähnt. Hätte mir, dem damals das Mährchen Verschlingenden, nie träumen lassen, in spätern gesetzten Jahren da zu lagern, wo Melechsala wandelte.“


„Immer am liebsten lasse ich mir,“ erwiederte ihm Otto: „an der Stelle, wo Erzähltes sich zutrug, das Geschehene berichten, Traditionen zumal; solche Orte umweht mit stets jungem Flügelschlag die Poesie.“ Dann ergriffen von der Vergangenheit, sie als Gegenwart denkend, gleichsam rhapsodisch, halb in sich gekehrt, halb den Blick über die Mauertrümmer hinweg, dem blauen Himmel zugewandt, fuhr er fort zu sprechen, wahrend in der Thaltiefe, bald sanft, bald lauter, volltönender, harmonischer Gesang, ordentlich wie begleitend, in kurzen Pausen, sich vernehmen liess.

„Herolde durchziehen und kaiserliche Boten das deutsche Land. Zum Kreuzeszug gen Palästina! schallt das Gebot, welches den Heerbann zur Folge aufruft. Die Thore der Burgen, der Städte thun sich auf, die Fähnlein wehen, die Eisenharnische rasseln. Zum Thüringer Landgrafenlöwen gesellt sich der Gleichische Leopard. Aus liebend umstrickenden Armen der treuen Hausfrau reisst sich männlich und stark der edle Graf. Zur Wartburg dort drüben wallt der glänzende Zug; dort weint in des Gatten Armen Elisabeth, die Heilige, Thränen des Trennungsschmerzes. Lebe wohl, Vaterland! Deutsches Land! Europa – lebe wohl! Im fernen Süd-Osten wandelt, unter Afrika’s glühender Sonne, das Kreuzfahrerheer. Da geht der Lebensstern des Thüringer Landgrafen unter; der fromme Ludwig stirbt in Brundus. Im Lande Aegypten beginnen die Kämpfe mit den tapfern Sarazenenhorden. Graf Ernst von Gleichen, eines Tages allzuweit aus dem gesicherten Lager sich entfernend, wird von einer streifenden Rotte nach tapferer Gegenwehr gefangen, und büsst in harten Fesseln zu Alkair den allzuvenvegnen Muth. Den schönen Gefangenen erblickt mit Gärtnerarbeit beschäftigt, die Sultanstochter, und ihr Herz neigt sich mit zärtlicher Liebe ihm zu. Theilnehmender Annäherung folgt ein süsses Bekenntniss, und schmerzlichen im Christenthum bedingten Weigerungsgründen seinerseits die unbefangene Unbedenklichkeit der Bekennerin des Islam. Liebe weiss nichts von Dogmen – will nichts von solchen wissen, und Liebe braucht ihre siegreichen Ueberredungskünste; Hoffnung hilft bitten, Freiheit winkt dem, der sehnsüchtig ihrer harrte. Die Liebenden fliehen; ein Schiff trägt sie treuer, als jenes, das Hüon mit Rezia trug, nach Europa’s Küste, und williger, als der Papst Urban dem armen Tanhäuser verzieh, verzeiht Gregor der Grosse die Bigamie, denn es gilt, eine Seele dem Christenglauben zu gewinnen. Die Sarazenin nimmt ihn willig an. Um Alles dieses wird die Gräfin, die daheim den Gatten schmerzlich beweint und sich Wittwe glaubt, freilich nicht gefragt; aber als sie nun von des Gatten Rückkehr hört, den Lauf der Geschicke vernimmt, fügt sie sich beruhigten Herzens in das Unvermeidliche, geht freudig der Befreierin des geliebten Gatten entgegen und umarmt sie als Schwester. Von diesem schmerzlichen Freudengange trägt noch heute jenes Haus am Bergesfuss den Namen Freudenthal; der Weg, den wir aufwärts gewandelt sind, heisst noch heute der Türkenweg, und im Dome zu Erfurt sahen wir bereits den alten Stein, der die Gebeine der innig Verbundenen deckte, ein stummer und doch beredter Sagenzeuge. Lange Jahre hindurch ward auch in der sogenannten Junkerkammer, einem Zimmer dieses öden, verfallenden, doch noch bedachten Baues, das dreischläfrige Bett gezeigt, das eine so seltne Liebe weihte; doch ward diese Reliquie, deren Splitter man als Antidot der Eifersucht pries, im Laufe der Zeit aufgerieben, anderer bewahrheitender Dokumente nicht zu gedenken!“ –

Lenz hatte die Becher gefüllt, und mit den Freunden anklingend rief er: „Den hoffentlich noch vereinten Schatten dieser Drei!“

Gern hätte Otto noch gegen die Gefährten jetzt Erwähnung gethan der Geschichte der Burg, ihres hohen Alters, des weitverzweigten, reichen und angesehenen Geschlechts der Grafen von Gleichen, der Kriegshändel um die Burg, und ihres Verfalles; allein kaum damit begonnen habend, gewahrte er, dass der Hof sich mit lauten Lustwandlern füllte, mehr und mehr kamen der Waller jeden Geschlechtes und Alters fröhlich zu dem alten Burgthore hereingewimmelt, verbreiteten sich über den geräumigen Rasenteppich des Burghofes, überkletterten die Gemäuer, die deutlich ältesten Bau verkünden, krochen spähend betrachtend in die zahlreichen Keller hinab, lagerten sich am alten viereckigen Wartthurme, wagten sich über morsches Treppengebälk in die obern Stocke des überdachten neuern Hauses, deren Estrich an manchen Stellen bereits durchgebrochen, und begrüssten zutraulich die Fremdlinge. Jetzt schallte näher und näher vollstimmigcr Männergesang im lebendigen Marschtakt, und singend zogen, begleitet von Hunderten, die nicht sangen, gegen 500 Männer und Jünglinge in den Burghof.

Den überraschten Freunden löste Otto das Räthsel. Neun Liedertafeln der Umgegend waren es, die zu einer grossen Liederfahrt vereinigt, sich im Freudenthal zusammengefunden, dort einzelne Productionen aufgeführt, und nun vereinigt mit gemeinsamer Sangeslust die Burg begrüssten. Von Gotha, von Erfurt, von Arnstadt, von Ohrdruf, von Georgenthal und andern Orten waren sie gekommen, und es war eine Lust, die kunstgeübten Männerchorgesänge zu hören, das bunte Gewimmel erfreuter Hörer und Hörerinnen zu sehen, die den alten Bau so jugendfrisch und lebendig schmückten. Die Gegenwart hing ihren schönsten Kranz an den Grabstein der Vergangenheit auf, und mehr als dreitausend Menschen freuten sich hier in Eintracht und Liebe, geistig emporgehoben auf den Schwanenfittigen der allveredelnden Gesangeskunst.

Otto konnte der Befreundeten viele unter den Gekommenen begrüssen, in deren Kreise seine Freunde sich alsbald mit der den Thüringern eignen Herzlichkeit aufgenommen sahen, und Jene fanden hohen Genuss an diesem Wahrnehmen eines edelgemüthlichen Volkslebens, für dessen langedauerndes Fortblühen sie die besten Wünsche aussprachen.

Erst als die Sonne sinkend noch die Schwesterburgen und die liebliche Gegend mit flammendem Gold übergoss, verlor sich die frohe Menge, sagten sich die nach allen vier Winden Ziehenden Lebewohl, mit dem Versprechen baldigen Wiederbegegnens, und die Freunde fuhren nun rasch im Geleite der Liedertafel von Gotha, umschwärmt von lustigen Reitern, und unter die spätere Dämmerung noch melodisch durchschallenden Gesängen nach Gotha zu. Auf steilem und sterilem Kalkberge zur Linken thronte einsam die Sternwarte Seeberg; sie konnte nicht besucht werden, aber es glühten im Herzen Manches der Fahrenden die Dioskuren der Freundschaft und Liebe, und machten ihren innern Himmel in der äussern Sternennacht sonnenhell.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch Thüringen