Sonntag, 22. August 1815. Plau.

Dies war ein recht anstrengender Tag, aufrichtig freue ich mich, die Bergfahrt beendet zu haben, so bald will ich nicht wieder einem Strom entgegenrudern, im übrigen war es sehr genußreich. Wahrheitsgemäß sagte am Morgen der Schleusenmeister von Lübz: jetzt werde es erst recht schön.
Bald gelangte ich in einen Wald, er ging in einen Park über. Zwischen Linden lag ein einfaches Landhaus, etwa in der Art des Friedrichsmoorer Jagdschlosses, weiße Fachwerkmauern, ein hohes verwittertes Dach, weiße Vorhänge hinter grünen Fensterkreuzen. Rosenbeete, spielende Kinder, in ihrer Mitte eine hellgekleidete junge Frau. Stand der Besitzer draußen im Feld? Dachte er an diesem Sonntagmorgen an den Frieden seiner Eldeheimat? Am Ufer schlang sich ein schleierhaftes Geranke von wildem Hopfen, von weißen Winden, und zwischendurch brannten rote Ebereschenbeeren. Etwas weiter hinaus band ich mich an eine Erle und nahm den mitgebrachten Proviant vor. Wilde Himbeerbüsche beugten sich über das Boot, fast ohne mich aufzurichten, pflückte ich mir die reifen, süßen Früchte.
Sonderbar, wie oft der Blumenschmuck nach dem Schleusenabschnitt sich ändert, keine einzige weiße Wasserrose war zu sehen, nur die Schar ihrer anspruchslosen Gefährten, so die Blüten des Pfeilkrautes, des Froschlöffels und des Froschbisses, dann in eigenartigen Kügelchen das Laichkraut und die stattliche Igelkolbe. Dazu kam rosa sich aufrichtender Wasserknöterich und der weiße Wasserhahnenfuß mit seinem zarten Gefieder. Erfreulicherweise hatte das treibende Kraut aufgehört, neue erschwerende Momente machten sich jedoch geltend. Bei so einer Flußfahrt kommen täglich, unweigerlich, vollständig unerwartete Hindernisse, die auf irgendeine Art ,,genommen“ werden müssen.
Die durchsichtige Klarheit der Elde schien den unter dem Wasser lebenden Pflanzen zu behagen. Es entwuchsen der dunkelbraungrünen Tiefe langhin flutende Gebilde, oft mit urzeitlichem Charakter an die Fremdartigkeit der Kohlenzeitwälder erinnernd. Dem Wasservolk, den Kobolden und Nixen stehen sie näher als uns. Sonst eine ungetrübte Freude, war diese Pflanzenwelt heute überaus störend, in einem fort fingen sich die Riemen, und dazu kam die zunehmende Schnelligkeit der Elde, hörte ich auch nur einen Augenblick mit dem Rudern auf, glitt die ,,Formosa“ rasch zurück oder sauste in das Schilf Noch etwas kam immer häufiger hinzu, ihre Enge, streng genommen, genügte ihr Raum, mit einem gewissenhaften, niemals zerstreuten Steuermann wäre ich immer glatt durchgekommen. Es war wie in der Paris-Lyon-Méditerrané, wenn man sich wegen der Überfülle beschwerte, dazu führe man doch nicht erster Klasse, worauf der Schaffner erstaunt meinte: ,,Madame, je ne vous comprenda pas, il y a dix places et dix places et dix personnes. Cela ne suffut-il pas?“ Es wäre ja gegangen, aber beständig fuhr ich in das Schilf hinein, verhedderte mich mit den langen Riemen. An diesem Tage hätte ein Mann unzählig oft geflucht, uns mangelt diese gewiß wohltätige Entladung. Überaus langsam kam ich trotz redlicher Arbeit vom Fleck.
Nun durchfuhr ich Hochwald, und in seiner Mitte fand ich eine schleuse, wie ich noch niemals eine poetischere sah. Rings umher Laubwaldgrund, dunkelwuchtiges Balkengefüge, auf blumigen Wiesenufern führten Holzstufen zum Obstgarten, zur friedlichen alten Försterei. Ich mußte mich hinsetzen, erzählen. Das Ehepaar hat Gastbetrieb, in Friedenszeiten übernachteten dort viele Ruderer. Die freundliche Försterin zeigte mir Bilder, Aufnahmen von frischen jungen Leuten im weißen Hemd. ,,Die waren hier so heiter und vergnügt und stehen alle nun draußen. Wie ist es ihnen ergangen, leben sie noch? Haben sie schon wen verloren?“ Und ich erzählte von meinem einen Vetter, der, ein hoher Vierziger, eigentlich unabkömmlich war, der aber darauf bestand, mit hinauszuziehen. ,,Ich bin nur im Nebenamt im Hofdienst gewesen, ich bin Soldat, und da bleibe ich nicht zurück.“ Am Abschiedstag sagte er: ,,Auf der Schulbank lernten wir: Dulce et decorum est pro atria mori . . . etwas Schöneres weiß ich auch heute nicht.“ sein Bataillon anführend fiel Reinhold, durch einen Bajonettstich getroffen, beim ersten Sturm. Der zweite war ein schmächtiger Leutnant, im letzten Brief erwähnte er die empfangenen, aber noch nicht eröffneten Weihnachtspakete ... er freue sich so außerordentlich, mit seinen Leuten im Schützengraben das Fest zu feiern. Auch mein kleines Paket war dabei, ich erhielt es mit einem Kreuz zurück. Thilo war, als er sich nach dem Gefecht um einige seiner verwundeten Soldaten kümmerte, von einer verspäteten Granate getroffen worden.
Dann ging es weiter, noch immer durch Waldespracht bis zur nächsten Schleuse. Der Schleusenmeister frug mich, wie ich über den Plauer See zu kommen gedächte (die Förstersleute hatten mir inständigst geraten, ,,recht vorsichtig“ zu sein) - da läge der kleine Regierungsdampfer, er würde morgen über den See fahren, und wenn ich den Kapitän bäte, dürfte ich gewiß die ,,Formosa“ anhinden. Der Kapitän angelte und meinte, jawohl, so um Mittag solle ich mich in Plau nur einfinden. Der Gedanke an einen Ausruhtag hatte viel für sich, es war bereits vier Uhr. Seit halb neun war ich unterwegs und hatte anscheinend noch nicht die Hälfte des Weges vollbracht. stramm, aber notgedrungen sehr behutsam ruderte ich weiter, noch eine dritte Erschwerung kam hinzu, seichte Stellen, und wäre ich ausgelaufen, hätte ich ins Wasser gemußt, um flott zu werden, jedesmal hätte das einen halbstündigen Aufenthalt gekostet.
Der Wald hörte auf, es kamen einzelne großmächtige Eichen, bald hart am Wiefenufer, bald landeinwärts, dehnten sie sich, schattenspendend, in knorriger Pracht. Schwarzweiße Kühe grasten auf den Wiesen. Dann ein großes Dorf und dann sonntäglich stillvergnügte Angler, sie hatten Barse und Plötze gefangen.
Heiß brannte die tiefstehende Sonne mir ins Gesicht, sie sank unaufhaltsam, strahlte leidenschaftliche Flammengebilde bis hoch in den Himmel hinaus. Der Nebel entstieg der Elde, lag auf den Wiesen, geisterhaft hell stand der Vollmond in der blaßblauen Luft. Endlich, endlich, kamen die ersten Brücken, gelangte ich zu der von Obstgärten mit Sonnenbällen und purpurnem Phlox umsäumten Schleuse. Als ich hier die ,,Formosa“ anband, schlug es acht Uhr vom alten Turm, neun Stunden hatte ich gebraucht, um etwa fünfzehn Kilometer zuweg zu bringen. Eine schmähliche Leistung.
An schlichten, oft weinberankten Häuschen vorbeigehend, fand ich in der Nähe des Marktes einen Gasthof, bestellte mir zu essen, lehnte mich dankbar an die harte Wand des Gastzimmers zurück. Nach der Mahlzeit war mir wieder wohl zumute, ich schlenderte draußen im Mondenschein durch die stillen Gassen, in denen undeutliche Gestalten plaudernd auf den Bänken vor der Haustür saßen. Nach anheimelnder mecklenburgischer Sitte kamen Kinder mit ihren brennenden bunten Stocklaternen vorbei, sangen ihr altes Lied: Sonne, Mond und Sterne, ich geh mit der Laterne. Im Häuserschattendunkel, über die schlohweißen Mondlichtplätze zogen die leuchtenden Farbenflecke und verschwanden in der Nacht, die Kinderstimmen verklangen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch Deutschland