Parchim, 19. August 1915. Alexanderplatz, Dünenerhebungen, Kiefernwälder, Sandboden, Heidekraut, Parchim, Schiffswerft, Bäcker, Markt, Kirchen.

Gern verließ ich morgens die Gastwirtschaft und Materialienhandlung (es war die einzige schlechte Unterkunft auf dieser Wanderung). Während Flöße an der Schleuse den Weg versperrten, pflückte ich mir für das Heckloch hellmagentarote Wiesensalbei und weiße Schafgarbe, dann kam auch ich an die Reihe. Als der Schleusenmeister mich zwischen den beiden Wassertoren fest eingekeilt hatte, fragte er freundlich aber bestimmt nach meinen ,,Papieren“. (so hatte es sich doch gelohnt, daß ich im fernen Alexanderplatz, qualvoll unter all den Wartenden stehend, mir einen Paß geholt hatte.) Da noch niemals eine einzelne Dame die mecklenburgischen Gewässer befahren hat, kam ihm diese Kriegsneuheit unheimlich vor, vielleicht entsprach ich auch seiner Vorstellung einer englischen Spionin. Er setzte die Brille auf, verglich mich genau mit der Beschreibung und mit dem Bild, es war nichts zu machen, was er auch im Herzen denken mochte, der Paß war einwandfrei.
Die üppigen Wiesen- und Feldblumen hatten aufgehört, es erstreckten sich sandige Dünenerhebungen und Kiefernwälder. Zwar floß die Elde zwischen Schilf und gelegentlichen Weiden dahin, aber zwischendurch erschien Sandboden mit Heidekraut und rankendem Brombeergesträuch. Unter der dunkeln Luft bildeten sich wundervolle Töne; tiefgrünblau war das Schilf, hatte flatternde braunpurpurne Fähnchenrispen, lilarötlich das Heidekraut auf grauem Boden, im Walddunkel verschlang sich rostbraunes Geäst zwischen graugrünen Nadeln.
O Wunderwelt der angeblich ,,langweiligen Gegend“.
Ein langes Floß kam auf mich zu, drängte mich in das Schilfufer, ich lernte es, mit dem Bootshaken mich an den Kiefernstämmen der Flöße entlangzuziehen. Ein Mann trendelte am Leinpfad, ein zweiker stakte. In der Mitte der langen Kiefernstammschlange war die niedrige Behausung errichtet, ein länglicher Kasten, der mattenbedeckte Deckel war an einer Seite etwas erhoben, unter diesem Schutz befand sich das Strohlager mit Vorräten, Kissen und Kleidern. Daneben der Herd, vorweltlich einfach hing von gekreuzten Stöcken ein Kessel über flackerndem Reisig.
Es kam ein Dorf, es kamen einzelne Gehöfte, Heuwiesen, Erntefelder mit herrlichen, sich in stolzer Unabhängigkeit entwickelnden Bäumen. Am Schilfufer stand ein Angler, ich fragte ihn, ob jene ferne bräunliche Turmspitze die von Parchim sei. ,,stimmt, . . . dürfte ich mitfahren, ich will auch gern rudern?“ Natürlich war ich einverstanden und räumte ihm meinen Platz. Er trug die Eisenbahnmütze, war Lokomotivführer, hatte nachmittags Dienst. Wir kamen noch an verschiedenen angelnden Eisenbahnern vorüber, sie lachten über sein primitives, ungestümes Rudern (ihn störten die ungewohnten Ausleger), mahnten zur Ruhe. Nun erschienen zwei stattliche alte Kirchtürme, überaus malerisch muß ehedem das Städtchen an der Elde gelegen haben, hier und da war jetzt das Bild durch Fabriken beeinträchtigt. In Kriegszeiten darf man sich nicht darüber beklagen, es stände schlimm um uns, zerschnitten nicht Schlote und Schuppen an so vielen Orten die Lieblichkeit von Feld und Flur. Vor der Schleuse hielt ich an, und dankend entfernte sich der Fahrgast. Der Schleusenmeister teilte meine Ansicht, daß so viel in der ,,Formosa“ angesammeltes Walser auf ein Leck hinweisen müsse. (Wie mühsam und gründlich hatte ich nicht frühmorgens geschöpft!) Allerdings wäre der Meister der hiesigen Schiffswerft eingezogen, den Gehilfen hätte er aber irgendwo heute gefehen und wollte ihn fuchen.
In dem am Wasser gelegenen Gasthof aß ich zu Mittag und untersuchte nachher mit dem Bootsbauer die ,,Formosa“. Richtig, beim Herumstochern fand er einen Spalt, versprach bis zum nächsten Morgen den Schaden zu heben, und in aller Ruhe besah ich mir die Stadt. An der Hauptstraße lag Moltkes Geburtshaus, nur zufällig ist der Ort mit ihm verknüpft, als kleiner Junge verließ er ihn bereits. Ein gutes altes Dach, ein grau angestrichener Fachwerkbau, früher wird auch dieses eine grünbemalte Zopftür gehabt haben, graue Steinstufen werden zu ihr hinaufgeführt haben, solche Häuser waren noch überall zu sehen, auch einige mit Überhängen und Sprüchen an den Balken, mit Winden an der kleinen Giebelfront. Tiefe Eindrücke hat jedoch die Parchimer Zeit auf Fritz Reuter hinterlassen. Hier besuchte er das Gymnasium, dies war, wie er einmal schreibt: ,,der schönste Abschnitt seiner Jugend“. In dieser selben Langen Straße lebte er in einem jetzt altmodischen, damals wohl ziemlich neuen Eckhaus über einem Bäcker, er war achtzehn Jahre alt, hat hier sein erstes beglückendes Liebesleid erfahren. Sie hieß Adelheid und war die Tochter des Bürgermeisters, wo sie wohnte, konnte ich nicht ermitteln, das Rathaus steht am alten Markt, ihm gegenüber erhebt sich mit geschwungenem Staffelgiebel das stattliche Haus der Fürstin von Werle. An dieser mecklenburgischen Nebenlinie bleibt leider die Erinnerung eines Vatermordes hängen, davon durfte in diesem Umkreis nicht gesprochen werden! Linden stehen vor dem Fürstenhaus, und Linden umgeben jene beiden Kirchen, deren Türme ich von ferne sah. Der Backstein ist bei ihnen verwittert, die Türme sind wuchtig und schwer, die braunroten Fächer hoch und steil. Kleine Friese aus verglastem Ton ziehen sich umher, und St. Georg hat ein reich mit Halbsäulen und durchbrochenen Füllungen aus verglastem Ton geschmücktes Portal. Im mächtigen Hallenbau von St. Marie war manches dem Erneuerungsverhängnis entgangen. An seiner alten Stelle erhob sich noch der farbig prangende Schnitzaltar, Lübecker Schule Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, und Maria lächelt mit ihrem Kind auf die protestantische Gemeinde. Lebendig und persönlich waren die männlichen Heiligen, sanft dümmlich die weiblichen, alle waren von vergoldeten Ranken umgeben. Die Bilder der Außenflügel und der Predellen zeigten flandrische Schule, hatten jedoch ausgesprochenen sympathischen deutschen Einschlag. Freundliche schlichte Gesichter, so beim zwölfjährigen Christus im Tempel, so beim ernsten, gütigen Heiland, den die weisen und törichten Jungfrauen umgaben. In dem Turmeingang stand eine prächtige reichgeschnitzte Barockleichenbahre, mit der denkbar nüchternsten würde sich heute auch die reiche Gemeinde einer neuen Prunkkirche begnügen!
Abends war der Gasthofspeiseraum von Offizieren angefüllt, hinter mir hörte ich von Zeit zu Zeit eine helle Kinderstimme, nachher ging hinter einem noch nicht vierzigjährigen Offizier ein feldgrauer, stramm grüßender Knabe, ein lieber Junge, an mir vorüber. Ich befragte den kleinen Kellner. ,,Das ist ein Freiwilliger, fünfzehn Jahre alt!“ Mit welcher Bewunderung er das sagte! Er stand wohl im nämlichen Alter.
Beim Zubettgehen klar leuchtende Sterne, der Drache hauchte die Wega an, blaß, aber doch erkennbar wippte der Schlangenträger, und im Bootes leuchtete der Arkturusstern, den Chinesen den ,,himmlischen Kaiserpalast“ nennen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch Deutschland