Malchow, Dührings Gasthof, den 24. August.

Heute morgen setzte ich mit der freundlichen Beihilfe des Gastwirtes mein Segel und segelte hocherfreut davon. Sieben Tage hatte ich zweimal täglich zwecklos Mast und Segel geschleppt und verstaut, heute konnte ich sie gebrauchen. So sehr rasch ging die Fahrt ja nicht, aber es war wundervoll, inmitten der Wiesen und Wälder dahinzugleiten. Manchmal bekam ich auch guten Wind, hörte Plätschern und Glucksen am Kiel, es strammte sich dann in meiner Hand der Schoten, es blähte sich ausbuchtend das Segel.
Eine perlgraue Luft, viele spitzschnäbelige, zierliche Taucherenten, leuchtend grünblau schwirrte ein Eisvogel vorüber. Etwas kläglich riefen Wasservögel im Schilf, gern hätte ich hier die Rohrdommel, Dörchläuchtings Rodomp, gehört, das wurde mir jedoch nicht zuteil. Den See durchquerend, erblickte ich darauf die Türme von Malchow, sowohl die der Stadt, als auch die neuen spillerig-spitzen des alten, baumumgebenen Fräuleinstiftes. Dann Fabriken, Häuschen und Gärten, ich legte das Segel, fuhr unter der Brücke hindurch, landete am Obst- und Gemüsegarten von Bührings Gasthof. Ein vortrefflicher Typ, das behäbige Fachwerkhaus, hell gestrichen, ein wuchtiges Dach, innen behaglich, tadellos sauber und eine berühmte Küche. Ja, auch in Berlin hatte ich von dieser gehört. Im übrigen bot Malchow wenig, noch vor zwei Generationen war es, in malerischer Gliederung baumeingebettet, zwischen Zwei Seen liegend, gewiß ungewöhnlich anziehend. Aber das ist vorbei. Sehr einfach - gewiß den Stadtvätern ein Anstoß - aber gut war das Rathaus, die eine Schmalseite mit Ziegeln bekleidet, anständige Fenster und Türen, ein gebrochenes Dach. Auch kamen nette klassizistische Bürgeraustypen mit zurückliegenden Säulchen, breiten Stufen und Figurenreliefs. Ansprechend und malerisch war ehemals zweifellos das berühmte Fräuleinftift, jetzt sind fast nur die mächtigen Bäume schön und alt. Ein friedlicher Ruheort für einsame Frauen, aber immer waren die beiden Stiste, das von Malchow wie das von Dobbertin, ein Zankapfel, erregten erbitterten Streit.
Der Adel beanspruchte das ausschließliche Recht, seine Töchter dort zu versorgen, die Herzöge und die Städte wollten diese Auslegung nicht anerkennen. Einige Bürgerliche wurden gelegentlich zugelassen, sehr wohl haben sie sich schwerlich gefühlt.
Die Züge paßten, ich fuhr nach Neubrandenburg. An einem unbedeutenden Bahnhof lag ein Bahnwärtergarten. Er war klein und bescheiden, aber Sonnenblumen, Skolzien, Phlox, Klerkia, Kalendula, Stockrosen, Reseden und Astern wurden liebevoll dort gezogen, gaben eine üp pige beglückende Augenweide, schmückten die Welt. Hingegen war der Garten, waren die Anlagen der Stiftsdamen von Malchow recht dürftig. Die Damen besolden natürlich einen Gärtner, sie haben Muße, eigentlich sollte man Blumenfreude bei ihnen voraussetzen können, und von diesem Bahnwärter lassen sie sich beschämen!
Gleich am Neubrandenburger Bahnhof wurden die bedeutungsvollen Töne des ungewöhnlichen Städtchens angeschlagen. Da thronte Fritz Reuter monumental in Erz, verlegen, humoristisch lächelnd, schien diese wohlwollend biedere Spießbürgererscheinung um Entschuldigung zu bitten. Gleich daneben erhoben sich die Prachtbäume des Wallweges, und in ihrem Schatten ging ich an der alten Mauer entlang. Ein einzig gearteter Stadtumgang, ich wüßte keinen ähnlichen zu nennen. Ununterbrochen umschloß die Mauer ihre Stadt. Stattlich aus graubraunen, purpurnen Feldsteinen gefügt, hatte sie mannigfache kleine Weichhäuser, Anbauten, bald aus Fachwerk mit weißbeworfenen Mauern, mit blaubemalten Balken oder aus gelblichgrün verwittertem Sandstein. Die Mauer fiel tief in den grünumwucherten Graben, und auf dem Wall und am Abhang wuchsen die herrlichsten Bäume. Vor allem Eichen, gelegentlich eine Lindenallee, gelegentlich Ulmen und Buchen, wildwachsendes Unterholz, gelbes Schellkraut, flammendrote Ebereschenfrüchte. Nun kam ich auf die Tore, jedes anders, alle aus dem fünfzehnten Jahrhundert, alle aus zeitgetöntem Backstein mit einem durch Mauern verbundenen Außen- und Innentor. Kühn starrte das Haupttor mit spitzzulaufendem Stufengiebel in die Luft, der flach eingelassene Schmuck war reich und edel, Spitzbogen und Giebel und Fialen unterbrachen und gliederten die Massen. Alle Tore waren verschieden, mit solchem Können, mit solchem Prunk, mit solchem Geschmack erbaute sich in jener Zeit eine norddeutsche Stadt von 10.000 Einwohnern ihre Tore. Besonders anziehend war das Stargarder Tor, efeubewachsen, mit verblichenen Tönen. All die Jahrhunderte über zog Jung und Alt zur hellgrünen Pfingstzeit durch seinen Bogen in das Nemerower Holz. So noch heute, so noch in kommender Zeit.
Jetzt durchwanderte ich das Städtchen, vom Bogendunkel eingerahmt hatten mich schon die harmonischen altmodischen Straßen, heute fröhlichbunt mit hinausgesteckten Siegesfahnen, erfreut. Überall waren ansehnliche Häuser zu sehen, hin und wieder war eine ganze Seitenstraße unberührt echt. Natürlich ging ich zuerst nach dem Mittelpunkt, nach dem Marktplatz. Dort erhoh sich freistehend das Rathaus, einfach und stattlich, in der Mitte ein Durchgang mit schweren Säulen, mit einer alten Inschrift, von hier aus gelangte man nach dem Ratskeller. Außerordentlich gut kannte Fritz Reuter diesen altertümlichen Raum, überaus oft ist Bodinus (Aepinus) hier eingekehrt.
Etwas seitwärts dehnte sich Dorchläuchtings Schloß. Vermutlich nennen die meisten diesen einen ,,häßlichen alten Kasten“, es ist ein guter, schlichtvornehmer Bau, groß, wenn auch niedrig, mit gebrochenem Dach, mit Säulenportal, Vorfahrt, über diesem der Altan, von dem die Herrschaften sich huldvoll dem Volle zeigen. Besonders gefielen mir die Seitentüren mit den Rautenfüllungen, mit den goldblaut leuchtenden Messinggriffen, den steinernen Stufen, dem einfach klassizistischen Geländer. Durch die Fenster sah ich breit aufsteigende weiße Treppen, mit der etwas ausgeschweiften weißen Holzbalustrade von ,,Dorchläuchting sin Paleh“. Dorchläuchting ist eine unsterbliche, aber ungeschichtliche Gestalt. Wenn auch in dem Ratskeller dem neugierig lauschenden Fritz Reuter möglicherweise all die kleinen Episoden mehr oder minder genau so erzählt worden sind, hat eben die Überlieferung nachhelfend ausgeschmückt, komisch vergrößert, und vermutlich ersah Fritz Reuter keinen Anlaß, sich an Tatsächliches, an zeitgenössische Schilderungen zu halten. So an Nugents Buch, dieser Engländer wollte das Heimatsland der mit Recht beliebten Königin Charlotte kennenlernen, schilderte es seinen Landsleuten. Seine Bewunderung hat oft einen snobbistischen Nebenklang, ihn erschüttert die Gnade der Herrschaften, aber das Bild des kleinen, jedoch eleganten, gebildeten Hofes ist eingehend und genau. Auch aus dem Tagebuch des zum Absprechen geneigten Grafen Ahasverus Lehndorff, der als Berliner Kammerherr mitleidig auf die kleinen Höfe hinabsah, erkennt man den Ton des Hofes. Dorchläuchtings jugendliche Schwester, die eben erwähnte Königin Charlotte von Großbritannien, empfing ihn mit der vollendetsten Sicherheit und Gewandtheit, als er ihr die Grüße der Königin von Preußen brachte.
Auf dem von Fritz Reuter so oft beschrittenen Weg erreichte ich sein nahes Wohnhaus. Noch immer ist es das nämliche behagliche Heim mit zurückgehendem bräunlichen Dach, Rosen und wilder Wein umwachsen die hellen Wände, davor steht eine Bank. Die einfachen Fensterkreuze haben er und Lowising geöffnet, um den Lindenduft einzuatmen, ihr Blick fiel auf den hinter den Linden mächtig aufsteigenden Turm der Marienkirche. Unweit davon liegt seine zweite Wohnung, sie hatte eine alte Durchfahrt in den Hof, ist jedoch etwas erneut und verputzt, unberührt blieben jedoch die guten altfränkischen Nachbarhäuser, blieb der Straßenabschluß, das Stargarder Tor mit seinen seltsamen, starren Engelgestalten. Im ersten Haus lebte Reuter von 1856 bis 1859, im zweiten bis 1863. Hier in ,,nigen Bramborg“ kam dem Vierzigjährigen, dem bisher eigentlich alles mißraten war, der Erfolg. Hier sind ,,Ut de Franzosentid“, ,,Ut mine Festungstid“, die Anfangsteile der ,,Stromtid“ erstanden. Vor wenigen Jahren hatte er, um sein Dasein zu fristen, Unterricht für zwei Silbergroschen die Stunde gegeben, jetzt bezog er große Einkünfte, ganz Deutschland kannte seinen Namen. Aber selbst im Aufstiegglanz bildet dieser harmlose, spießbürgerlich schmunzelnde Humorist die vielleicht tragischste Gestalt unserer Literatur! Durch politische Unvorsichtigkeit hat er sieben ganze Jahre im Gefängnis verbracht, hinzu kam die zweite Katastrophe, die Trinkerkrankheit. Als solche erkennt man sie heute, damals erschien sie der ganzen Welt, seinen Freunden, seiner Gattin, ihm selber ein schmachvolles Laster. Vielleicht ist das Leben keines unserer großen Dichter hingegen so rein verlaufen wie das seine. Er war gütig, bescheiden und rechtlich, kein Asket, aber ein schlichter, frommer Mensch - und wurde doch als Verkommener von allen verachtet. Das breite, biedere, bebrillte Gesicht verhüllte ein erschütterndes Los.
Erst Mitte der vierziger Jahre hatte er daran denken können, eine Frau zu ernähren. Luising, Pastorstochter und Erzieherin, anmutig, seelengut, wurde der Engel seines Lebens, hat hier ihn versorgt, hat sich um ihn gebangt.
Noch in anderen Neubrandenburger Häusern haben bemerkenswerte Menschen gelebt, stimmungsvoll liegt, nicht weit der Marienkirche, das Häuschen des ,,Konrektor Aepinus“, noch unangetastet, altfränkisch, mit grauverwittertem Dach, mit der alten Schwelle, der nägelbeschlagenen Tür, der blankgeputzten Messingklinke, wird es von spätblühenden Slyzinien und tiefdunklem Efeu umwoben. Wer kann die Schilderung der griechischen Stunden des Aepinus vergessen?
Ob die Methode eine richtige oder eine falsche - der Rektor Bodinus, der in diesem altfränkischen Haus jahrzehntelang aus und einging, hat die Fackel hochgehalten. In dieser altmodischen Hofapotheke hatte Johann Heinrich Voß als Gymnasiast einen Freitisch. Ehrgeizig, fleißig und arm, war ihm diese Beihilfe überaus erwünscht, der Apotheker interessierte sich für ihn, stiftete der von Johann Heinrich gegründeten griechischen Schülergesellschaft ein dankbar begrüßtes griechisches Wörterbuch. Auch die Tochter, Dorothea, war freundlich, und der Gymnasiast brachte ihr huldigende Verehrung entgegen. Seiner Befähigung bewußt, wurmte ihn auf der Schule die Bevorzugung der Edelleute, nachher hatte er noch das Unglück, als Informator bei einer roh gesinnten Junkerfamilie der Nachbarschaft beständigen Kränkungen ausgesetzt zu werden, aber bereits hier in Neubrandenburg wurde der Keim zu seinem Adelshaß eingepflanzt.
In der Nähe steht noch das Haus, das sich der halbverrückte ,,Theatergraf“ Hahn erbaute. Hier sah man um das Jahr 1820 die junge Gräfin Ida Hahn aus- und eingehen, mattblond, mit durchsichtiger Haut, mit bewundernswürdigen Händen und Füßen, einem statuengleichen Hals, war sie nicht schön, aber vornehm und anziehend, dabei willenskräftig. Mit den Neubrandenburgern wird sie wenig verkehrt haben, war schwerlich beliebt, sie hielt sich für hochbedeutend und interessant. Letzteres war gewiß der Fall, wer liest heute auch nur eine Zeile jener von ihr mit Begeisterung geschriebenen, von den andern mit Begeisterung gelesenen Romane? Ihr Leben ist jedoch ein fesselndes gewesen.
Die gefällige Feder verschaffte ihr Unabhängigkeit und Ruhm, die Möglichkeit zu den schönsten Reisen, ihr Wesen, ihre Persönlichkeit wirkten stark. Doktor Mundt, der ,,Deutsche Arzt am Russischen Hof“ schildert sie als ,,unbeschreiblich fesselnd“. In dem merkwürdigen Frauenbriefwechsel des Fürsten Pückler-Muskau, mit ihr, der Bettina und der Marlitt, schneidet sie am besten ab. Bedeutende Männer, so zeitweise Heinrich Simon, gerieten in ihren Bann, die hingebendste Lebensliebe eines edlen, hochgebildeten Mannes, des baltischen Barons Bystram, wurde ihr zuteil. Schwärmerisch bewunderte er sie, behauptete, ihre Werke würden die von Goethe und Schiller überdauern; man kann sich denken, wie angenehm und glaubwürdig solche Worte ihr klangen. Als der Treueste aller Treuen starb (wahrscheinlich bestand eine heimliche Ehe), war sie zerrissen, konnte sich nicht mehr mit der Welt verständigen, sie wurde katholisch und zog sich in ein Kloster zurück. Friedlich, von den Armen betrauert, ist sie als Greisin gestorben.
Als blutjunges Mädchen hat sie im weißen Kleid mit Bänderhut und Atlasschühchen auf den weißen Bänken unter den Eichen am Wallweg gesessen, verspann sich in phanlaslischen Träumen.
Noch eine andere reizvolle Mädchengestalt hat auf den allen Bänken des Neubrandenburger Walles gesessen. Ihr Los erweckte wahrscheinlich in noch höherem Maße angenehm gruselndes Interesse. Friedrike Hähnel ist hier als Uhrmacherstochter geboren, sie hatte nahe Beziehungen zum Kardinal Flesch, schließlich auch zum Staatskanzler Fürsten Hardenberg, den sie als Baronin Kinsky ausplünderte und beherrschte. Zeitweise tauchte sie in ihrer allen Heimatsstadtauf, sie muß klug und verführerisch gewesen sein, aus den mil Sppionenspiegeln versehenen Fenstern dieser Bürgerhäuser hat man mit verhaltenem Atem der eleganten Erscheinung nachgesehen, beschäftigte sich ergiebig mil ihrem Lebenswandel. Befriedigt fuhr ich zurück. Mitreisende Frauen erregten dich über die Schlächter und ihre Umtriebe, eine war ,,hellsch resolut“, wollte bis zum Bürgermeister vordringen und ihm ihren Standpunkt vortragen. Erst um zehn Uhr vierzig stieg ich in Malchow aus, nur noch ein Fahrgast war in dem kleinen Lokalzug verblieben, der Fiskus hat bei meiner Beförderung zusetzen müssen. Lautlos lagen die Gassen im dunkeln, nur ab und zu war ein einzelnes Fenster noch erhellt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch Deutschland