Lübz, 21. August 1915.

Nach vorzüglicher Nacht wanderte ich in der Morgenfrühe über die noch immer nassen Wiesen nach der Schleuse zurück, (meine Rechnung, einschließlich des Frühstücks, einschließlich deftiger Schinkenbrote zum Mitnehmen hatte drei Mark betragen!). Für das Heckloch schnitt ich mir Fichtenzweige, Heidekraut und einige vom nahen Feld angesäte, duftende Lupinen. Den ganzen Tag haben diese durchduftet. Wasserlilien, Lupinenduft, Wiesen und Felder, Bäume und Wälder. Gelegentliche Gasthöfe und Dörfer, nur selten ein Mensch zu sehen. Während der Mittagspause umflogen mich Libellen, beachteten mich nicht: das glühte und funkelte, hauchleicht geflügelt, einige waren tief pfauenblau dunkel, mit metallenem Schimmer, andere goldgrün. Unwahrscheinlich glänzend schwebten sie, sonnenbeschienen, am indigoblauen Regenwolkengrund vorüber, sie klammerten sich an die langen Schilfkolbenblätter, schwirrten mit durchsichtigen Flügeln, und wie eingesetzte Karbunkelsteine leuchteten ihre vorstehenden roten Augen. Eine spukhafte Phantastik! Noch sonderbarer war eine hellblaue Art, türkisblau wie die Amulette aus ägyptischen Gräbern, mit blauschillernden Flügeln, flatterdünn, mit feinen, sich krümmenden, sich streckenden Gelenken klammerte sich eine jede dieser hellblauen Libellen auf einem farblos grauen Genossen, das Ende ihres Körpers bohrte sich in deren Nacken. So flogen diese seltsamen Paare umher, trieben erotische Spiele.
Um mich schwoll das klare Wasser. Unter der gläsernen Oberfläche fluteten grüne Algen und Kräuter, gefederte und geblätterte und schilfartige Pflanzen. Lustgärten der Flußnixen, die Libellen werden deren Lieblingsvögel sein, mit ihren nassen, blassen Händen greifen sie aus dem Wasser, liehkosen die schimmernden Spielgefährten. Weiter. Nach vier Stunden sah ich rötliche Türme sich über rötliche Dächer erheben, es war Lübz. Erst kam ein ansteigendes Ufer mit Gartenstreifen, mit Obstbäumen voller Birnen und Äpfel, mit Spätsommerblumen um die kleinen Stege, um die angebundenen Kähne. Hier war die Schleuse. Hilfreich und praktisch nahm sich der Schleusenmeister der ,,Formosa“ an und wies mir den Weg nach der ,,Stadt Hamburg“. Ein gutes Fachwerkhaus mit hohem Dach an der Hauptstraße, dem alten Schloß gegenüber. Heute verlief der Tag besonders harmonisch, morgens das ansprechende Dorfgasthaus, dann die friedlichen Wiesen und Wälder, jetzt dies typische Gasthaus im malerisch kleinen mecklenburgischen Städtchen. Aus dem grünen, ehemals wassergefüllten Burggraben ragte vor mir der Bergfrid, die Brandenburger hatten ihn in diesem bestrittenen, oft be-fehdeten Grenzort errichtet, recht herzlich und nicht grundlos hat man hier die Märker, die ihre Werber ins Land schickenden Preußen gehaßt. Das Schloß ist Witwensitz mehrerer mecklenburgischen Herzoginnen gewesen, so wohnte hier die Witwe des Johann Albrecht, des Fürsten der Mecklenburger Renaissance-Architektur, auch jene Herzogin, welche während der Wallenstein-Herrschaft klug und umsichtig die Interessen des Hauses vertrat. In der kleinen Straße standen altfränkische Häuschen, und hinter den kleinen Glasscheiben leuchteten die schönsten Blumen: Glorinien, Glockenblumen, Amaryllislilien, samtige Pelargonien, Fleißige Lieschen in erlesensten Exemplaren. Erstaunlich, was in diesen dumpfigen Stuben für Blumen gedeihen, unser gelernter Gärtner brachte zu Hause im Glashaus auch nicht annähernd solche Gloxinien, solche Kampanulen hervor. Fensterblumen bilden die Sonderschönheit der kleinen Stadt, allerdings darf auch der sanfte, ständige Geruch einer als schmaldunkler Faden dahinfließenden Gosse erwartet werden. Auch vortreffliche Backware, auch holpriges Pflaster. Dem Schloß gegenüber lag, wie vermutlich seit uralter Zeit, die Mühle, all die Jahrhunderte über werden im August die Leiterwagen, die Planwagen hier gestanden haben, Kornsäcke abliefernd, während aus dem dunklen Tor der Getreideduft wie heute quoll. Dies ist aber kein übliches Korn, dies ist etwas Kostbareres, Heiligereres, unser Kriegsjahrkorn.
Abends saß ich im Gastzimmer (der Kellner hieß Korl), Honoratioren spielten Skat und erzählten sich Geschichten -Läuschen. War das echt! Adolf Wilbrandt sagt: ,,Wie dem Perser und Araber der Vortrag seiner phantastischen Märchen, so ist es des Mecklenburgers tiefstes Urbehagen, drollige Geschichten erzählen zu hören. Sie seien so alt wie sie wollen, jedermann kennt sie, der lebendige, humoristische Vortrag macht sie neu.“ Eine folgte der anderen: ,,Wie hieß das erste Ungeziefer?“ – „Joseph floh aus Ägypten...“ In diesem Stil wurden die Schnurren aus dem Ärmel geschüttelt. Dann erzählte, wenn ich nicht irre, der ,,Herr Doktor“ aus seiner Einsegnungszeit. ,,Dem Herrn Superintendenten haben wir Fledermäuse hinten in die Tasche gesteckt, und einmal schlossen wir ihn drei Stunden mit seinen Konfirmandinnen ein. Vor der öffentlichen Prüfung sagte er den Dorfknaben, sie sollten auf jede der gerichteten Fragen antworten, aber ganz leise. Da wurde das konfuseste Zeug vorgetragen, aber laut und salbungsvoll erwiderte der Herr Superintendent: ,Sehr gut, mein Sohn?, und trug die richtige Antwort mit Erläuterungen vor.“ Fritz Reuter hätte genau, ganz genau, in den Kreis der dort um den Tisch Karten spielenden Männer gepaßt. Allerwahrscheinlichst hat er auch hier in dieser Stube gesessen, er sagt:

  ,,Lübs is en lüttes närrsches Nest
  Un is all immer her so west
  solang ich kann man denken.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch Deutschland