Groß-Parchow, 20. August 1915.

Als ich das Anziehen und Packen beendet hatte und hinunterkam, wurde bei aufgestapelten Stühlen gescheuert, es war halb sieben, die Zeit, zu der ich geweckt werden wollte. Auf meine Beschwerde stellte es sich heraus, daß mein Zimmernachbar um halb sechs geweckt worden war, das Klopfen hatte ich auf mich bezogen. So erlebte ich den frühen Morgen der kleinen Stadt, wie seit ihrer Gründung zogen die Kühe durch die Lange Straße, überschritten die Brücke. Ich holte mir Ansichtskarten und Proviant, während die Gymnasiasten in ihren Mützen zur Schule gingen. Genau um diese Zeit wird auch Fritz Reuter jenes Eckhaus verlassen haben, ich wollte dort bei seinem Bäcker die von ihm erwähnten ,,Stuten“ entnehmen, jetzt zur Kriegszeit gab es jedoch nur Brot. Nun ging ich zur Schiffsbauwerft, schön trocken lag die ,,Formosa“ im Wasser, ich wurde durchgeschleust, fuhr an dem anziehenden alten Stadtufer vorbei. Noch war die Stadtmauer erkenntlich, an ihr lag ein Gewirr von kleinen Fachwerkhäuschen und Giebeln, von Goldbällchen und Kapuzinerkresse, von Obstbäumen und Gemüse. Plötzlich gelangte ich in eine zusammengeschwemmte Masse von treibendem abgeschnittenen Schilf, sie versperrte mir den Weg, endlich war ich ganz erschöpft durchdrungen, hoffte, daß das Kraut sich nur an dieser Stromwende angesammelt habe. Es kamen müßig und verödet daliegende Flöße, wohl durch den Krieg außer stand gesetzt, zwischen den Fugen der Stämme sproßten Weidenröschen empor. Dann begann der Parchimer Wald. An einer Schneise lag eine Schwemme, dort grasten junge Pferde, wohl aus einem Gestüt dieses pferdezüchtenden Landes. Neugierig erschrocken sahen sie mich an, standen dort in der Natur im Adel ihrer herzerfreuend schönen Linien. Durch das Walddunkel gleitend kam ich an eine schwarze Balkenbrücke, daneben lag, baumbeschattet, ein helles Wirtshaus. Kaum gelangte ich durch die Brücke, geriet ich wieder in geschnittenes, hergeschwemmtes Schilf, und es bildete eine feste undurchdringliche Insel, die zu beiden Seiten durch Balken eingezwängt wurde. Was tun? Vergeblich mühte ich mich ab. Da sprang auf der Brücke ein vertrauenerweckender, breitschultriger Herr vom Rad und ließ sich die Sachlage erklären. Er besah sich vom Ufer aus die Stelle und entdeckte jenseits der Balkensperre einen schmalen, weniger verkrauteten Durchgang. zwei junge Spaziergängerinnen kamen des Weges, er schlug ihnen vor, gemeinsam mit ihm das Boot vom Ufer aus durchzuschleppen. Ich solle abstoßen und staken. So geschah es. Wir vier arbeiteten hochgerötet, stemmten, schleppten, zerrten und zogen, schließlich gelang es, ich befand mich wieder in klarem Wasser und schied dankerfüllt von den noch lange mir zuwinkenden Helfern in der Not.

Nun ging es glatt weiter, zwischen Wiesen und Bäumen und Wasserlilien. Noch niemals bin ich auf so einem Wasserlilienfluß gefahren. Die Elde ist mit diesen lieblichsten aller Wasserblumen bekränzt, oft erstrahlen sie einzeln, auch zu zweien und dreien, wählerisch abgeschlossen, ihres Wertes sich bewußt, in ihrer blendenden Reinheit ... Es war einsam und friedlich, vor mir glänzte das glattdurchsichtige Wasser, im Heckloch flatterten die purpurbraunen Schilfrispen, bogen sich im Wind, gaben reizvolle Linien. Immerhin war es recht anstrengend, gegen den Strom zu fahren, hielt ich nur einen Augenblick an, um nach der Karte zu sehen oder mich aus fließenden Schilfmassen loszustoßen, trieb sachte die ,,Formosa“ nach Parchim zurück. Es kamen Dörfer mit guten alten backsteinernen Kirchen (Mecklenburg ist von diesen angefüllt), die Bauernhäuser waren gelegentlich erfreulich, am Ufer hingen Fischreusen und Netze. Geringer Flußverkehr, manchmal ein langes, sich im Zickzack fortbewegendes Floß, gelegentlich ein Kahn mit Männern, die das sonst üppig am Flußgrund wachsende Schilf- und Wasserkraut abgeschnitten - daher diese feindlichen treibenden Massen.
Es wurde sechs Uhr, es wurde sieben Uhr, seit acht Uhr saß ich im Boot und war ziemlich ermüdet, als endlich die Burower Schleuse aus der Luftlinie erschien. Der würdige Schleusenmeister band die ,,Formosa“ zwischen den Wassertoren fest, verschloß alle Habseligkeiten in einem Schuppen, riet mir nach Groß-Parchow zu gehen, dort würde ich Unterkunft finden. So zog ich unter den Abendwolken auf nassen Wiesenpfaden - es hatte wieder mal geregnet - nach dem in der Ferne sichtbaren Dorf, auf dem Rücken den Rucksack, in anbetracht der Federbettnot mußte leider die Reisedecke immer aufgeschnallt werden. Der Groß-Parchower Gasthof war ein ansehnlich altmodisches Fachwerkhaus, die saubere, freundliche Wirtin ließ eben Bratkartoffeln in der Pfanne prasseln. Während meine Betten bezogen wurden, ging ich im Garten umher, wie das sein soll, war Obst und Gemüse mit farbenfrohen Blumenrabatten eingesäumt. Ich pflückte mir Reseden, freute mich an den Studentenblumen, an den Georginen. Dann erhielt ich in der guten Stube auf dem Samtsofa, von Bildern und Nippsachen umgeben, ein vorzügliches Abendbrot. Die Wirtin setzte sich zu mir, natürlich sprachen wir vom Krieg, genau richtig wiederholte sie mir den Inhalt des letzten Generalstabsberichtes. Wie fast immer lautete der Schlußreim des Gespräches: es ist eine schwere Zeit, und der Friede ist noch nicht in Sicht. Aber es steht ja gut, und wir müssen eben durchhalten.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch Deutschland