Den 18. August 1915. Kapuzinerkresse, Schleusenmeister, Jagdschloß-Fiedrichsmoor, Herzog Friedrich, Ludwigslust, Rotröcke, Leibjäger, Wärterhaus, Perlenkette, Glockenbau, Spitzenblusenmädchen.

Morgens schien hellblaue Luft durch weißen Dunst. Die Wirtin schnitt mir einen Strauß pupurner und zitronengelber Dahlien für das Heckloch. Von ihr wie von allen anderen bekam ich das bekannte, sich Tag für Tag wiederholende, mitleidsvolle Erstaunen zu hören: ,,Was kann Ihnen nicht alles Zustoßen! ... und so allein macht es doch unmöglich Vergnügen!“ Lächelnd ruderte ich davon, die Stör hinunter. Sie gefiel mir außerordentlich gut, mit ihrem durchsichtigen Wasser schlängelte sie sich durch das grüne, vom Tiefdunkel der Wälder begrenzte Tal, Wiesenblumen spiegelten sich, gelber Wasserdost, weiße Dorfchrysanthemen, magentarote Kukkucksblumen und himmelblaues Vergißmeinnicht. Dann folgten höhere Ufer, Getreidefelder, auf der Luftlinie stand ein Bauer mit schwarz-weißen Ochsen, im Begriff, den Pflug zu wenden, er sah mich regungslos an, das gab einen prachtvollen Umriß. Öfters kamen Brücken, und die der hiesigen Gegend sind recht niedrig, da hieß es, jedesmal sich zeitig flach hinlegen, während die dunklen Balken dicht über den Augen vorbeiglitten.
In einem größeren Dorf kam die erste Schleuse, ich band die ,,Formosa“ fest, kletterte an das Ufer, fand ein nettes Häuschen mit Kapuzinerkresse, Teerosen und Ringelblumen in buchsgefaßten Beeten. Im sauberen Zimmer bat ich um den Schein, und nun versetzte der Schleusenmeister mir einen Stoß: ,,Ja, wissen sie denn nicht, daß die Schiffahrt auf der Stör-Elde seit vier Tagen auf sechs Wochen unterbrochen ist? Da hängt die Bekanntmachung, lesen sie selber.“ Ich las erschüttert mit eigenen Augen, daß wegen Schadhaftigkeit des Dükers Ausbesserungen vorgenommen würden, meinte aber, äußerlich wenigstens zuversichtlich, irgendwie würde ich mein Boot schon hinüberbringen. ,,Na, ich will es Ihnen wünschen“, und gutmütig schleuste er mich durch. Eigentlich soll man das nämlich selber vornehmen, immerhin war das Herumwirtschaften mit Eisenbarren und Hebeln etwas verwickelt, und ich ließ mir gern helfen. Am Ende des herrlichen großherzoglichen Forstes sollte die schadhafte Stelle liegen. Auf jeden Fall wollte ich diese Fahrt durch den Wald genießen. Schilf und Rohr und gelbe Mummeln, tiefgrüner Laubwaldgrund, der eigenartige Adlerfarnduft.
Halbwegs kreuzte ein kleiner Wasserlauf, hier landete ich und wanderte durch den Wald nach dem Friedrichsmoor-Jagdschloß. Am Wasserlauf ging ich an leuchtend grünen Wiesen vorbei, immer im schatten der Eichen, Pilze und Farne, Schmetterlinge am Weg, weit und breit kein Mensch zu sehen. Dann schimmerte am Ende des Eichenganges etwas Helles, ich kam an ein wie verzaubert daliegendes Schlößchen. Das einfache weiße Fachwerkhaus mit seinen Flügeln, seinem gebrochenen rötlich-braunen Dach lag im bläulichen schatten, die Türen, die Fensterläden waren grünlich, das grüne Hauptportal schmückten springende grüne Hirsche und ein Jagdhorn, grausteinerne Stufen führten hinauf. Keine Pracht, aber ein vornehmer guter Bau. Sonnenbeschienene Gräser und Maßliebchen wuchsen im Hof, üher den Rasen der breiten, in dieWaldtiefe führenden Eschenreihen fielen die grünen Schatten der Stämme. Auf den vorgekrallten Wurzeln einer gewalligen Esche rastete ich und sah die Vergangenheit vor mir. Herzog Friedrich, der fast die ganze zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts gewissenhaft und sorgsam sein Land regierte, hat sich dies Jagdschloß erbaut. Vielfach wird ihm das Beiwort ,,der Fromme“ angehängt, das gibt ihn ungenügend wieder, er war gütig, er war edel, er war hochgebildet, beschäftigte sich ernstlich mit wissenschaftlichen Fragen, lernte im späteren Alter noch Hebräisch. Unter ihm gedieh der Pietismus mehr als gut war, doch zeigte er selber keine engherzige Ader, das Gebet um die ,,Segnung des Strandes“, also um ergiebige Schiffbrüche, schaffte er ab, förderte die Volksschulen, das allgemeine Wohl, die öffentliche Gesundheit. Im besten rationalistischen Stil jener Zeit war auch ihm ,,höchste Glückseligkeit, sein Volk glücklich zu wissen“. Er sammelte ungewöhnlich gute Kunstwerke, hegte und pflegte Blumen. In Ludwigslust wurde der schickliche Aufwand des Herrschers geboten, hier in Friedrichsmoor trat die Einfachheit, die ihm um der Volkslasten willen am Herzen lag, zutage. Die damaligen Menschen gaben jedoch lustige Farbentöne, hier drängten sich die Diener in ihren Rotröcken, die grünen Leibjäger mit der Meute. Seine aus Württemberg stammende Herzogin (ihre Mutter war eine Brandenburg-Schwedt) liebte die Jagd, ritt täglich mit ihren Damen aus, trug den kleidsamen Jagdrock mit den Ausschlägen und Tressen, den dreieckigen Hut auf dem gepuderten Haar. So ist sie mit ihren Damen unendlich oft unter diesen Eschen einhergesprengt.
Nun zurück und weiter auf dem stillen Waldwasserweg. Etwas beklommen, wie würde die Stromsperrenfrage sich lösend und als ich aus dem Baumdunkel hinausruderte, sah ich in der Ferne einen quergelegten Damm mit arbeitenden Menschen. Bald unterschied ich russische Gefangene, Wachen und einen Aufseher, an diesen wandte ich mich und bat, ob am Ende einige seiner Leute freundlichst das Boot hinübertragen würden? ,,Jawohl, machen wir.“ Ich kletterte auf den Damm, ein Dutzend der breitschultrigen, kräftigen Gestalten faßten die ,,Formosa“, und ehe ich es mich versah, glitt sie auf der andern Seite des Hindernisses ins Wasser. Dankerfüllt drückte ich dem Aufseher ein Zweimarkstück in die Hand, anscheinend war es mehr als er erwartet hatte, denn sichtlich beeindruckt meinte er, nun solle ich mir aber noch bei seiner Frau nebenan im Wärterhaus von ihrer schönen Milch geben lassen. Ich wollte mich jedoch nicht länger aufhalten, fand auch meine Gegengabe für den geleisteten dienst recht gering.
Es kamen Fluren und Felder, bald strahlend besonnt, bald mit tiefsatten Gewitterwolkentönen, bald im grauverschwommenen Regen. Aus der weiten Ebene verfolgte ich die Luftkämpfe, in der Ferne schwebte eine gewaltige lange, unübersehbare Wolkenmasse über das Land, an drei verschiedenen Stellen gingen Regenschleier nieder. Langsam nahten sie sich, der purpurschwarze Lindwurm verschlang die Himmelsbläue, ergoß sich über mein Haupt.
Dann war ich in der Elde, ruderte zu Berg, gewiß war es kein reißender Strom, aber doch ein merklicher Widerstand, eine spürbare Steigerung des Kräfteverbrauches. Bald verzichtete ich darauf, heute noch Parchim zu erreichen, so hielt ich nach über sechsstündiger Ruderzeit an einem Dorf, band die Enden an einen Pfahl und sah mich nach einer Unterkunft um. Nur eine anscheinend recht mäßige Gastwirtschaft und Materialhandlung war zu ermitteln, sie lag nicht mal sehr nahe, und mühsam schleppte ich in vier Absätzen meine Bündel, Maststange, Segel und die zwei Paar Riemen heran. Dorfkinder sahen offenmündig zu, kamen nicht darauf, anzufassen und sich ein Geschenk zu verdienen. Bei dem schlampigen Mädchen (spitzenbedeckte Bluse, Perlenkette um den entblößten Hals) bestellte ich Abendbrot und besah mir das Dorf. Anziehend war die alte Kirche aus grauverwittertem Backstein, den unregelmäßige Feldsteinblöcke durchsetzten, gotische Fenster, kleine Portale, ein Chorausbau, ein hohes, spitzes Dach. Daneben stand der hölzerne Glockenbau, in seiner stillen, selbstverständlichen Balkenkonstruktion merkwürdig an solche in Japan erinnernd. Ringsumher erstreckte sich der Kirchhof mit einigen guten alten Kreuzen, alles umwucherte gelbes Johanniskraut, und auf den neueren, gepflegten Gräbern blühten Feuerlilien, weiße Phloxe und Verbenen. Mächtige Kiefern reckten hagere Glieder, unter der breitschattigen alten Linde standen verwitterte Bänke, auf denen viele Geschlechter von Leidtragenden mit roten Augen ein frisches Grab angestarrt hatten.
Aus der Kirchhofsschönheit zurück in die Häßlichkeit der Nachtunterkunft. Eine verräucherte, städtisch-proletarierhafte Wirtsstube, wo mir, gerecht will ich sein, reichlich und gut Bratfische vorgesetzt wurden. Die Wirtin sah ich nicht, aus der Küche wurde das Spitzenblusenmädchen ,,Fräulein“ gerufen, die dreijährige, krummbeinige, ungewaschene Tochter des Hauses hieß Erika. Dann ging es, von einem kleinen Lichtstummel erleuchtet, durch den schmuddligen Tanzsaal auf einer Hühnerstiege durch schmutzigen Hängeboden in eine fast leere Kammer. Mit meiner Reisedecke richtete ich mich auf den gewürfelten Federbetten ein und schlief gut. Darauf kam es im Grunde hauptsächlich an.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen durch Deutschland