Stralsund

Auf der erst seit wenigen Jahren bestehenden Chaussee begeben wir uns jetzt über die Dörfer Kowall, Reinberg und Brandshagen, immer das Meer und die Insel Rügen zu unserer Rechten sehend, nach dem alten berühmten, mit seinen stattlichen Türmen weit über Land und Meer hinausragenden

Stralsund


Wer im Volk wüsst’ nicht zu sagen,
Wo mein altes Stralsund liegt?
Seine stolzen Türme ragen,
Wo der kühle Belt sich wiegt;

Wo die schöne Jungfrau Rügen
Sich zum starken Pommern sehnt;
Sich an seine Brust zu schmiegen
Ihre weißen Arme dehnt,

Wo das Meer, das dunkelblaue,
Drum so ruhig zieht vorbei,
Dass sich Stralsund drin besehen:
Und erkenn’: wie schön es sei.

Stralsund’s Türme sind Gedanken,
Einfach, aber hoch und kühn;
Wie Gebet hinauf sie ranken
Und das Herz zum Himmel zieh’n.

Durch das Frankentor, in welchem Carolus XII. nach seinem Ritt von Bender in einer jetzt nicht mehr sichtbaren Mauernische mit geschwollenen Beinen so lange rasten musste, bis seine Ankunft ordnungsgemäß dem regierenden aufs höchste überraschten Bürgermeister gemeldet worden war, - denn dieser und nicht etwa der Militär-Kommandant bewahrt noch heutiges Tages während der Nacht die Schlüssel der Festung, - gelangen wir in die Stadt, welche fast jeder Fremde mit großen Erwartungen betritt und mit geringer Meinung verlässt. Unter allen Städten der Ostsee hat Stralsund bis auf die neueste Zeit, nur mit Lübeck und Danzig hierin wetteifernd, die glänzendste Vergangenheit, die hochherzigste, tapferste Gesinnung und die hierdurch sich errungene beneidenswerteste Selbstständigkeit aufzuweisen. Gegenwärtig aber ist sie kaum noch ein Schatten von ehedem; von ihrer Selbstständigkeit hat sie wohl oder übel das Wesen geopfert und den Schein behalten. Die Schlüssel der Festungstore werden noch jeden Abend um 9 Uhr durch einen Unteroffizier und zwei Mann Wache vom Kommandanten dem regierenden Bürgermeister übersendet, aber die Zoll- und Münzfreiheit, das Recht der Selbsterhebung der Accise und andere, reellen Nutzen bringende, Privilegien sind dahin.

Stralsund, von dessen einst so berühmten Festungswerken jetzt wenig oder gar nichts mehr zu sehen, ist zunächst durch seine Lage fest, indem es von der einen Seite durch die Meerenge Gellen und von der anderen durch drei große Teiche, den Knieper-, Franken- und Triebseerteich, eingeschlossen wird, und somit eigentlich nur vermittelst dreier Zugbrücken mit dem Festlande zusammenhängt. Erst in ganz neuester Zeit sind am Triebseertor ernstliche Anstalten zur Wiederherstellung der Festung getroffen, und Viele wollen hierin Vorsichtsmaßregeln gegen den möglicherweise plötzlich erwachenden Länderheißhunger des jetzt mit Preußen so eng befreundeten Russlands erblicken. Stralsund wurde im Jahr 1209 durch Jaromar I., Fürsten von Rügen, unter Dänischer Hoheit gegründet und zwar zunächst, um durch diese Festung seine Besitzungen diesseits der Meerenge besser gegen die Pommerschen Herzoge schützen zu können. Die Stadt wurde gleich anfangs mit deutschen Kolonisten bevölkert und ihren Namen trägt sie von der Meerenge Sund, an der sie liegt, und von der nahe gelegenen Insel Strale, die heutiges Tages Dänholm heißt. Stralsund hatte von seinem ersten Beginn an viele Gefahren zu bestehen. Schon im Jahre 1212 brannten die Pommerschen Herzoge sie bis auf eine einzige Kirche nieder, in welche Jaromar sich mit den Bürgern zurückgezogen hatte, die sich von hier aus mutig und erfolgreich verteidigten. Nach dem Wiederaufbau der Stadt, der erst 1230 als beendet anzusehen, erhielt Stralsund eine deutsche Stadtverfassung und wurde 1234 von Witzlav I. mit Lübischem Rechte und mancherlei Freiheiten gewidmet. Bald gedieh die Stadt durch Handel und Verkehr zur See zu solchem Flor, dass sie den Neid aller übrigen Ostsee-Städte und sogar Lübecks erregte, so dass die Lübecker sie 1238 bei Nacht überfielen, fast ganz zerstörten und die angesehensten Bürger gefangen wegführten. Die Lübecker wurden jedoch durch Fürst Witzlav gezwungen, die Gefangenen loszugeben und den Schaden zu ersetzen, und der Fürst beschenkte die Stadt noch mit neuen Vorrechten und Besitzungen. 1277 ward Stralsund abermals durch die Lübecker erobert und niedergebrannt; indessen die Bürger bauten ihre Häuser mit von den niederländischen Städten geliehenem Gelde wieder auf, und vergrößerten die Stadt um ein Bedeutendes. 1284 vereinigte sich Stralsund mit Lübeck, Rostock, Wismar, Greifswald, Riga und Wisby zu der nachmals so berühmten und mächtigen Hansa und bildete mit den vier zuerst genannten Städten den sogenannten Wendischen Bund, in welchem Stralsund eine sehr hervorragende Rolle spielte. Stralsunds Macht und Bedeutung stieg jetzt so rasch empor, dass, als es etwa ums Jahr 1316 mit seinem eigenen Herrn, dem Rügischen Fürsten Witzlav IV., in Zwist geriet, es sich mit Hilfe der Pommersehen Herzöge seiner und der mit ihm verbündeten nordischen Könige auf das Ruhmvollste erwehrte. Nach Entsetzung der Stadt griffen die Stralsunder den Fürsten selbst an, eroberten und zerstörten seine Burg Rugigard (jetzt Rugard) und machten ihn fast ganz von sich abhängig. Als im Jahre 1325 mit Witzlav IV. das Geschlecht der Fürsten von Rügen ausstarb, brachte es Stralsund aus Dankbarkeit für den geleisteten Beistand dahin, dass die Stadt samt dem ganzen Fürstentum Rügen den Herzog von Pommern zum Landesherrn erwählte und dadurch dem deutschen Reiche einverleibt wurde. Der jetzt folgende Zeitraum von 1325 bis 1522 war der der höchsten Blüte und Macht Stralsunds. Fast nur dem Namen nach, sagt Fabricius in seiner Verfassung und Verwaltung der Stadt Stralsund S. 3 sq. , war die Stadt dem Herzoge unterworfen. Vom Zolle und der Landfolge hatte sie sich zu befreien gewusst, so dass sie Steuern, Ehrengeschenke und Soldaten nur bittweise zuweilen gab; das Münzregale besaß und übte sie im vollsten Umfange; und als sie gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts auch die Gerichts-Vogtei (niedere und hohe Gerichtsbarkeit in bürgerlichen und peinlichen Rechtssachen) über die Stadt und alle der Kommune oder einzelnen Bürgern gehörige Landgüter, erst pfandweise, sodann aber durch Erbkauf, erworben hatte, wo nächst sogar die Appellationen nicht an den Herzog, sondern an den Rat zu Lübeck und von da an den Kaiser gingen, war alles Recht des Herzogs auf die Orbare*), den Huldigungseid und das Patronat über die oberste Pfarrherrnstelle beschränkt. Selbst das Recht des Krieges und Friedens, Bündnisse mit auswärtigen Mächten zu schließen, und sich, im Falle der Herzog ihre Privilegien kränke, einen andern Schutzherrn zu wählen, stand der Stadt zu, und nur unter ihrem Geleite konnten der Landesherr und andere Reichsfürsten in Stralsund einreiten. Außerdem genoss sie auch vieler Vorrechte im ganzen Herzogtume; in der Landschaft hatte sie den ersten Rang vor allen übrigen Städten, die Insel Rügen durfte alle Landeserzeugnisse nur nach Stralsund zum Verkauf bringen; vom Seehandel und bürgerlichen Gewerbe war das platte Land ausgeschlossen; Missetäter und selbst adelige Straßenräuber durfte die Stadt auch außerhalb ihres Gebietes (Böre) verfolgen und bekämpfen, und die Bürger genossen im ganzen Lande Freiheit von allen herzoglichen Zöllen. Als mächtiges Mitglied der Hansa endlich, nahm die Stadt an allen Privilegien und Monopolen des Bundes in den nordischen Reichen und England, namentlich auch an der Freiheit vom Sundzolle Anteil, und auch selbstständig waren ihr besonders in Dänemark und Schweden bedeutende Vorrechte eingeräumt.

Schon mit dem Anfange des 16ten Jahrhunderts begann Stralsund, dessen Einwohnerzahl damals auf wenigstens 40 bis 50 Tausend sich belaufen mochte, von dieser Höhe herabzusteigen. Die veränderten Wege des Welthandels, das erobernde Vorschreiten der Russen, wodurch das Comptoir in Nowogrod und der Handel in den Orient verloren ging, und die beständigen Zwiste zwischen Dänemark und Schweden wirkten höchst nachteilig auf den Verkehr der Hansa. Ein Krieg gegen König Johann, durch des Letzteren tyrannische Eingriffe in ihre Rechte veranlasst, brachte dem ganzen Bunde wie den einzelnen Städten unersetzlichen Schaden und stürzte sie in Schulden. Dazu kam, dass in Pommern gerade ein kraftvoller Fürst herrschte, Bogislav X., der das ganze Herzogtum allein besaß, und seine Gewalt eifrig und mit Erfolg zu vermehren bemüht war. Dies Alles, mit der bald darauf beginnenden Reformation zusammenwirkend, führte Unruhen und Umwälzungen im Innern Stralsunds herbei, welche mit längerer oder kürzerer Unterbrechung ein Jahrhundert fortdauerten und dadurch eben den folgenden Zeitraum, bis zum Erlöschen des einheimischen Fürstengeschlechtes, als den für die Ausbildung der Stadtverfassung besonders wichtigen uns bezeichnen.

*) Eine Art Schutz- oder Grundgeld, als Anerkennung der Landesherrlichkeit.

Bisher hatte alle Gewalt fast allein in den Händen des Rates gelegen, nur in seltenen Fällen wurden die erbgesessenen Bürger zusammengerufen und befragt, und die Alterleute des Gewandhauses (der vornehmsten Kaufmannszunft), aus welchen der Rat sich gewöhnlich ergänzte, wurden als die regelmäßigen Vertreter der Bürgerschaft und als Vermittler zwischen ihr und dem Rate angesehen. Einzelne Aufstände in der vorigen Periode waren unterdrückt worden, ohne eine Änderung hierin herbei zu führen. Jetzt, als Handel, Verkehr und Reichtum allmählich abnahmen, der Rat sich unleugbar viele Unrechtlichkeiten zu Schulden kommen ließ, und die neuen Ideen Luthers alle Gemüter mächtig aufzuregen anfingen, benutzte Roloff Moller, der junge, feurige und ehrgeizige Erbe eines vertriebenen Bürgermeistergeschlechtes diese Umstände und die dadurch erzeugte Unzufriedenheit vieler Bürger, um sich emporzuschwingen. In einem Aufstande zwang er den Rat, einen aus der Bürgerschaft gewählten Ausschuss von 48 Männern gleichsam als äußeren Rat*) neben sich anzuerkennen , und diesem wurden die umfassendsten Rechte eingeräumt, so dass der Rat ihm fast untergeordnet war. Anfänglich schafften diese Acht und Vierzig manches Gute, — wie sie denn namentlich sogleich die Kirchenverbesserung einführten, - und auch selbst nach Mollers Sturz, der sich in einem neuen Aufstande 1524 zum Bürgermeister hatte ernennen lassen, aber schon nach zwei Jahren ins Exil wandern musste, blieben sie bei Macht und Ansehen. Allein als die Besten und Einsichtsvollsten unter ihnen nach und nach in den Rat gekommen waren, und in der neu ergänzten Zahl eine immer wildere Demagogie sich geltend machte, brachten sie die Stadt an den Rand des Verderbens. Nach Stralsunds Vorgange hatte sich nämlich in mehreren der Wendischen Städte ein Volksregiment gebildet, das weit willkürlicher schaltete, als der Rat es jemals getan, und so herrschten in Lübeck namentlich Georg Wullenweber und Marx Meyer als unumschränkte Tyrannen. Diese wollten 1533, nach dem Tode des Königs Friedrichs I. von Dänemark und Norwegen, unter dem Scheine, als drängen sie auf Wiedereinsetzung des entthronten Christjern, beide Reiche der Hansa unterwerfen, und veranlassten dadurch den unter dem Namen der Grafenfehde bekannten Krieg. Ein durch Wullenweber und die 48 in Stralsund angezettelter Aufstand zwang den Rat an diesem Kriege Teil zu nehmen, welcher Blut und Geld in reichem Maße kostete und in seinem unglücklichen Verlaufe die Städte bis aufs Äußerste brachte. Der schlimme Ausgang dieses Unternehmens stürzte 1537 die Acht und Vierzig, an deren Meisten der Rat eine nicht edle Rache nahm, und der frühere Zustand der Dinge ward wiederhergestellt; allein die Bürger hatten sich daran gewöhnt, eine Vertretung zu haben, und so berief der Rat selbst, in der durch die großen Kriegsschulden herbeigeführten, immer drückender werdenden Geldverlegenheit, zwischen 1550 und 1560, hundert Männer aus der Bürgerschaft, welche die nötigen Steuern und Auflagen bewilligen sollten. Diese, obwohl vom Rate selbst ausgewählt, waren indessen weit entfernt, nur gehorsam Ja zu sagen; sie deckten vielmehr die Missbräuche in der Verwaltung des städtischen Vermögens schonungslos auf, und forderten, dass sowohl diese Verwaltung, als auch die Wahl der 100 Männer selbst, der Bürgerschaft überantwortet werden solle. Jahrzehnte verflossen in gegenseitigen Demonstrationen und teilweisen Bewilligungen. 1595 (16. Dezember) kam zwar ein Vertrag (Recess) zu Stande; allein eine papierne Verfassungsurkunde, wenn sie auch noch so trefflich gewesen wäre, konnte die versiegten Erwerbsquellen nicht wieder öffnen, konnte die Schulden der Stadt nicht tilgen, konnte nicht Wohlstand und Reichtum in die Häuser der Bürger zurückführen. Dies waren jedoch die Hoffnungen gewesen, womit die Bürgerschaft sich geschmeichelt hatte, und als sie diese nicht erfüllt sah, schob sie, in der vorigen Täuschung verharrend, die ganze Schuld auf den Recess. Es ward von Neuem daran geändert und, wie man dreist sagen darf, gebessert; denn Rat und bürgerschaftliches Kollegium, beide waren durch stete Übung bei der langen Dauer des Kampfes an Einsicht und Umsicht erstarkt, und namentlich im Rate saßen jetzt Männer, die den höchsten Ämtern gewachsen und ihrer würdig gewesen wären. Also nach abermals 16 Jahren ward man endlich über alle Punkte einig, und am 23. Dezember 1611 war der neue Recess nun bis auf die Untersiegelung fertig, als ein schon lange gefürchtetes gewalttätiges Einschreiten von außen her das ersehnte Ziel noch wieder in die Ferne hinausschob. Stralsund war die erste pommersche Stadt, welche die Kirchenverbesserung eingeführt hatte, seit 1522 war hier die reine Lehre gepredigt, und 1525 eine evangelische Kirchen- und Schulordnung vom Rate und den 48 errichtet worden, wahrscheinlich die früheste in ganz Deutschland. Da die Herzoge damals noch katholisch waren, und die Stadt überdies nicht zum pommerschen Bistume Cammin, sondern zum Schwerinschen Sprengel gehörte, so machte es sich von selbst, dass die bischöfliche Gewalt auf die Stadtgemeine überging, und diese auch im Besitz derselben verblieb, als zehn Jahre darauf (Treptower Landtag 1534) das ganze übrige Herzogtum die Reformation annahm. Diese kirchliche Selbstständigkeit, — Stralsund hatte seine eigenen Superintendenten und sein eignes Konsistorium, — war den Fürsten ein Dorn im Auge, und ebenso verdross es sie, dass der Rat die Appellation an das herzogliche Hofgericht in Wolgast nicht verstattete; beide Punkte waren das ganze 16te Jahrhundert hindurch ein Zankapfel zwischen dem Landesherrn und der Stadt, welche ihrerseits wieder mannigfache Beschwerden über Eingriffe in ihre Handelsprivilegien zu führen hatte. Bei der Gerechtigkeitsliebe der meisten Herzoge war es jedoch zu keiner Gewalttätigkeit gekommen; die Stadt schützte ihren Besitz, und die Prozesse lagen beim Reichskammergerichte. Jetzt aber regierte den Wolgastischen Landesanteil, wozu Stralsund gehörte, der eigenmächtige und ränkesüchtige Philipp Julius, kaum 26 Jahre alt. Ein siebenjähriger Knabe, als sein Vater starb, war er von den Hofschranzen erzogen, dem Trunke ergeben, und ein Werkzeug derer, die seinem Ehrgeize schmeichelten. Nur nach langem Widerstreben hatte Stralsund ihm während seiner Minderjährigkeit gehuldigt, und auch deshalb schon auf die Stadt erbittert, waren ihm die innern Zwistigkeiten derselben höchst willkommen, ja er tat Alles, um sie zu nähren und den Bruch zwischen Rat und Bürgerschaft zu erweitern. Als jetzt dieser Streit seinem erwünschten Ende zu nahen schien, ward der Herzog gewalttätiger, fiel in der Stadt Güter ein, die er plünderte und verbrannte, und wusste zugleich eine Verteidigung mit gewaffneter Hand, so wie die Untersiegelung des schon fertigen Recesses, durch seine Partei unter den Bürgern zu hintertreiben. Der Rat verklagte ihn auf Landfriedensbruch beim Reichskammergericht, allein am 3ten Februar 1612 ritt er selbst in Stralsund ein, wies die zu seiner Bewillkommnung abgeschickte Deputation des Rates ab, und verlangte, dass der Rat, die Alterleute und die Hundertmänner, jedes dieser drei Kollegien einzeln und abgesondert, sich über den von ihm vorgelegten Vergleichsentwurf‚ (worin ihm alle seine Prätensionen eingeräumt, die Beschwerden der Stadt aber niedergeschlagen waren ,) sogleich erklären solle. Die standhafte Weigerung des Rates und der Alterleute reizte ihn noch mehr, — er zuckte sogar das Schwert, — und nun rief er, mit Hintansetzung aller drei Körperschaften, die 4 Quartiere (Stadtviertel) zusammen, setzte jedem derselben einen Worthalter vor, und ließ durch diese seine Propositionen bewilligen. Noch einmal kam er im folgenden Monate wieder, entsetzte die tüchtigsten Ratsmitglieder ihrer Stellen**)‚ nahm den Alterleuten die Wortführung im Hundertkollegium, und verfuhr durchaus als Tyrann, ohne sich im mindesten an die Strafbefehle des Kaisers zu kehren, welche der Rat ausgewirkt hatte und ihm selbst, während seiner Anwesenheit in der Stadt, furchtlos einhändigen ließ. Trotz aller dieser Gewaltschritte richtete Philipp Julius auf die Dauer doch nichts aus, seine Angriffe scheiterten an der felsenfesten Beharrlichkeit des Rates, der erzwungene Vergleich ward für nichtig erklärt, und nach mehrjährigen Unruhen musste der Herzog sich endlich der Entscheidung seiner Streitigkeiten mit der Stadt durch einen Austrag gefallen lassen. Er selbst bemannte 12 Mitglieder der Landschaft (Prälaten, Ritter und Bürgermeister), und aus diesen wählte der Rat 7 Personen ans, welche als Schiedsrichter endlich einen billigen Vergleich vermittelten (den 11. Juli 1615), worin der Stadt fast alle bisher besessene Rechte bestätigt wurden. Dies ist der Erbvertrag. Beinahe zu derselben Zeit wurde nun auch Rat und Bürgerschaft über die Stadtverfassung mit einander einig, und auf die Grundlage des Recesses von 1611 ward ein neuer Vertrag gebaut, der Bürgervertrag, welcher am 8ten Februar 1616 untersiegelt und vom Herzoge bestätigt wurde. So ward denn endlich Friede nach Außen und im Innern hergestellt, auch den Gewandhaus-Alterleuten, welchen der Bürgervertrag ihre alten Rechte hinsichtlich der Wortführung für die Bürgerschaft entzogen hatte, wurden diese großenteils zurückgegeben (16. November 1624), und die Früchte des wiedergekehrten Vertrauens zwischen Obrigkeit und Gemeine bewährten sich bald darauf 1628 in der Verteidigung der Stadt gegen die Scharen des Herzogs von Friedland.

*) Antisenatus werden die Acht und Vierzig häufig in lateinischen Schriften genannt.

**) Unter den Abgesetzten waren auch Steinweg und Krauthoff, die sich nachher als Bürgermeister während Wallensteins Belagerung einen geschichtlichen Namen erworben haben.


Die Wallenstein’sche Belagerung bietet den höchsten, aber auch den letzten Glanzpunkt in Stralsunds Geschichte. Der letzte Zeitraum vom Westfälischen Frieden (1648), durch welchen Stralsund und Vorpommern unter Schwedische Herrschaft kam, bis 1815, wo wir unserm jetzigen preußischen Königshause zufielen, zeigt dem Geschichtsforscher wenig Erfreuliches. Die innere Verfassung der Stadt ließen Schwedens Könige ziemlich ungekränkt*), und die Eingriffe einzelner Statthalter und öfters angeordneter Immediat-Kommissionen wurden auf dem Wege Rechtens zurückgewiesen, ja selbst manches Gute wurde in vertragsmäßiger Weise eingeführt; allein in allen andern Beziehungen litt die Stadt ungeheuer. In alle Kriege Schwedens verwickelt, musste Pommern, und namentlich Stralsund fast immer das Bad bezahlen. Nach der Schlacht bei Fährbellin ward die Stadt vom großen Churfürsten 1678 weit über die Hälfte eingeäschert und zur Kapitulation gezwungen; und nach zwei Jahren (1680), als der Wiederaufbau noch nicht vollendet war, wirkte eine zufällig ausgebrochene Feuersbrunst fast noch verheerender, wie das Brandenburgische Bombardement. Zum Lohne für die gegen Schweden bewiesene Anhänglichkeit, — die Stadt hatte sogar das ihr vor der Einnahme gemachte Anerbieten, sie zur Reichsstadt zu erheben, zurückgewiesen, — nahm der König, als er nach dem Frieden von St. Germain wieder in Stralsunds Besitz kam, der Stadt ihr Befestigungsrecht, ihr Zeughaus und gegen eine geringe Summe Geldes auch ihre gesamte Artillerie. Im nordischen Kriege erfolgte 1715 wieder Bombardement und Eroberung, und wenn im siebenjährigen Kriege auch die Stadt selbst nicht in feindliche Hände fiel, so litt sie doch bedeutend an ihren Gütern. Das letzte Viertel des vorigen und der Anfang des jetzigen Jahrhunderts bilden einen verhältnismäßig glücklicheren Zeitabschnitt; Handel und Gewerbe hoben sich, die bis unter 10.000 herabgesunkene Einwohnerzahl wuchs wieder und Wohlstand und Reichtum kehrten zurück; allein die Schrecknisse und Leiden der französischen Besetzungen von 1807 bis 1813 zerstörten fast Alles wieder. —

*) Eine Ausnahme macht freilich, dass Gustav IV. Adolph der Stadt die Jurisdiktion über ihre Güter und den zu ihr gehörenden Landbezirk (Stralsundisches Kommissariat) eigenmächtig entriss. Auch das Schwedische Recht sollte eingeführt werden, aber die Vollziehung dieses Befehls wurde durch den Einbruch der Franzosen verhindert.

Wir haben uns bei der Geschichte und Verfassung der Stadt Stralsund fast länger aufgehalten, als es der Raum gestattete. Es ist dies aber geflissentlich geschehen, weil einesteils die Geschichte der Stadt als eine der interessantesten und originellsten der Ostseestädte und anderenteils die Verfassung derselben als verwandt und maßgebend zu betrachten ist für die Städte Rostock, Wismar und Lübeck, die wir jetzt noch zu besuchen haben. Stralsund ist von enger, winkeliger Bauart, hat fast durchgängig nur schmale, hohe Giebelhäuser, die, ähnlich aber weniger prächtig als in Danzig, mit allerlei Bollwerken und Kellerhälsen verschanzt sind, und die sich zum Verdruss der Fuhrleute und Fußgänger sehr arrogant und naseweis in die Straßen hineinerstrecken. Zu allem Überfluss fließt auch noch der Rinnstein in der Mitte, und im Winter sind manche Straßen nur mit Lebensgefahr zu passieren; und werden deshalb Beinbrüche nicht zu den Stadtneuigkeiten gerechnet. — Begeben wir uns jetzt die Frankenstraße hinauf auf den neuen Markt, so haben wir hier die St. Marienkirche, als eine der merkwürdigsten pommerschen Kirchen, deren Bauart dem 15ten Jahrhundert angehört, in Augenschein zu nehmen. Manche sind zwar der Meinung, dass dieses herrliche Gebäude zum großen Teil bereits im 14ten Jahrhundert entstanden sei. Eine Vergleichung der verschiedenen Nachrichten, die uns Chronikenschreiber von den vielfältigen Einstürzen und Beschädigungen des Gebäudes hinterlassen haben, zeigt jedoch deutlich, dass von der im 14ten Jahrhundert erbauten Kirche durchaus nichts mehr vorhanden sein kann. Kugler, in seiner pommerschen Kunstgeschichte, ist ganz derselben Ansicht und weiset das Nähere nach. Der neue Markt war in Verbindung mit der hier angrenzenden Haakstraße der Schauplatz des Beginns jener blutigen Katastrophe, welche durch Schills Überrumpelung der französischen Besatzung im Mai 1809 herbeigeführt wurde. Schill, der den Oberst Candras bereits bei Dammgarten völlig geschlagen hatte, sprengte mit wenig Reitern in die Stadt, nahm hier auf dem Markte dem Kommandanten den Degen und zugleich das Wort ab, dass er keine Feindseligkeiten mehr gegen Schill und seine ihm auf dem Fuße folgende Schar begehen wolle. Schill sprengte wieder zum Tore hinaus; ließ seine Truppen mit Hurrah an sich vorüber defilieren und als er wieder auf den Markt zurückkehrte, fand er verräterischer Weise sämtliche Straßenecken mit Kanonen besetzt; die Dächer der Häuser abgedeckt und von hier und aus allen Fenstern waren Hunderte von Büchsen und Flinten auf seine Schar gerichtet. Der fürchterlichste Kampf begann, und ward nur dadurch für Schill siegreich beendet, dass ihn ein ehemaliger schwedischer Artillerie-Lieutenant, mit Namen Peterson, vom sogenannten Catharinenberg aus durch das jetzige Gymnasium den Weg in den Rücken des Feindes führte, was zur Folge hatte, dass sämtliche Franzosen an den Kanonen niedergehauen oder gefangen genommen wurden. Nehmen wir nun noch den alten Markt und hier zunächst die schöne Nicolaikirche und das sehr bedeutende, mit sieben Türmen gotisch verzierte Rathaus in Augenschein, welches letztere im Innern, außer einem sehr bedeutenden Saal, worin die sogenannte Löwen’sche, nicht eben sehenswerte, Kunstkammer befindlich; und einem sehr schönen prächtig gewölbten Weinkeller, wenig Merkwürdigkeiten enthält, so bleibt uns nur noch das Kniepertor, wo Schill den General Carteret vom Pferde hieb; die Fährstraße, wo Schill am 27. Mai 1809 fiel; und das Bohnstädt’sche Haus in der Badenstraße, in welchem die Anekdote von Carl XII. und der Bombe gespielt haben soll, als historisch merkwürdig; und das Ressourcen-Gebäude, als für das hiesige soziale Leben maßgebend‚ zu besuchen übrig. In diesem Ressourcen-Gebäude, welches für eine Stadt, wie Stralsund, sehr bedeutend ist, befindet sich ein kleiner Saal, in welchem in recht guten Wandgemälden die Bildnisse von 13 verschiedenen schwedischen Regenten der näheren Betrachtung wert sind. Auffallend jedoch ist im Vergleich zu den hier vorhandenen zahlreichen Spieltischen die kleine Anzahl von Zeitungen und Blättern, die diese Gesellschaft zu ihrer Belehrung und Unterhaltung für nötig erachtet, und nicht leicht möchte noch in Deutschland eine zweite Stadt von 16.000 Einwohnern gefunden werden, in der z. B. „die allgemeine Augsburger Zeitung“ nur dem Namen nach bekannt ist. Äußerst freundliche Gärten, Spaziergänge und sehr bequeme Seebäder besitzt Stralsund unmittelbar vor dem Kniepertore. Ein Spaziergang zu diesem Thore hinaus, führt uns gleich links in den recht hübsch am Knieperteich gelegenen Casinogarten, der den Sommer hindurch von den Mitgliedern der Ressource und von den durch diese einzuführenden Fremden fleißig besucht wird. Als höchst charakteristisch für die deutschen Ostseestädte tritt aber auch hier das tagtägliche Kartenspiel hervor. Während die Frauen und Mädchen sich im Freien nach Möglichkeit am Teetisch und Strickstrumpf Unterhaltung zu verschaffen suchen, sitzen die Männer unter Dach und Fach, gegen jeden Sonnenstrahl wohl gesichert, im dicksten Tabaksdampf, und spielen, heut wie gestern, Whist und Boston. Selten nur werden weitere Spaziergänge von Mann und Weib und Kind gemeinschaftlich unternommen, und eine, gar nicht fern, recht hübsch am Meere gelegene Plantage, der sogenannte Brunnen, ist wenig besucht. Wir setzen aber unsern Spaziergang dorthin fort und begeben uns auf den Knieperkirchhof, um hier den einfachen Grabhügel Schills in Augenschein zu nehmen. Länger als ein Vierteljahrhundert haben die Gebeine dieses kühnen, unglücklichen Helden, während sein Kopf schmählicher weise in der Bibliothek eines Arztes zu Leyden in Spiritus zur Schau stand, hier durchaus unbeachtet mitten im Fahrwege des Kirchhofes gelegen, und nur bei Nacht war es dem bessern Gefühl einiger deutschdenkender Männer vergönnt, diesen Skandal zu beseitigen und den jetzt vorhandenen, etwas rechts vom Wege verlegten, Grabhügel zu errichten. Derselbe trägt auf einer Platte von Gusseisen mit goldenen Buchstaben die Inschrift:

Magna. Voluisae. Magnum.
Occubuit. Fata. Jacet. Ingens. Litore.
Truncus.
Avelsumque. Caput. Tamen. Haud. Sine.
Nomine. Corpus.

Seit der edle Mohnike das Zeitliche gesegnet, ist Stralsund der größten Zierde seiner literarischen Notabilitäten beraubt. In der Nähe Stralsunds, in der Hütte zu Pütte, lebt still und glücklich, mit Gott und aller Welt in Frieden, der als Mensch, ‘als Lehrer und Dichter gleich achtungswerte, wenn auch in der Heimat wenig beachtete Liedersänger Carl Lappe, der Verfasser des herrlichen „Nord oder Süd“. Als historisch merkwürdig und für die patriotische Gesinnung der Stralsunder ehrenvoll, ist noch der Art und Weise zu gedenken, in welcher hier die Erinnerung an die ruhmreiche Befreiung von der Wallenstein’schen Belagerung alljährlich gefeiert wird. Am Morgen des Jahrestages werden die Bürger durch feierliche Posaunentöne, die von allen Türmen erschallen, geweckt, und an die Bedeutung des Tages erinnert. In allen Kirchen ist Gottesdienst und die Großtaten der Väter werden zur Lehre und Nacheiferung der Nachkommen von den Kanzeln verkündet. Alle Straßen sind festlich mit Blumen und Fahnen geschmückt, und Nachmittags beginnt, wenn Wind und Wetter es anders zulassen, eine Segelfahrt um die nahe gelegene Insel Dänholm, von wo die Stadt hauptsächlich von den Feinden bedroht war. Oft nehmen viele hundert Fahrzeuge Teil an dieser Fahrt. Auch das hier noch alljährlich, splendider und ausgedehnter als sonst irgendwo, stattfindende Vogelschießen, ist eigentlich nur ein Erinnerungsfest an die berühmte und ruhmreiche Wallenstein’sche Katastrophe, und gewissermaßen eine fortgesetzte Schießübung der von jeher als tüchtige Schützen bekannten Stralsunder Bürger. Wie großes Gewicht seit alten Zeiten auf die Wehr- und Waffenfähigkeit jedes einzelnen Bürgers gelegt wurde, geht daraus hervor, dass noch jetzt nach dem Gesetz Niemand Stralsundischer Bürger werden kann, der nicht ein Schieß- und Seitengewehr sein nennt und in diesem Waffenschmuck in die Hand des Bürgermeisters den Bürgereid ableistet.

O Stralsund! alte Burg im Norden,
Du, einst der Ostsee Stolz und Zier!
Was warst Du, und was bist Du worden?
Was wird in Zukunft noch aus Dir? *)

*) Siehe: Schill und seine Schaar von W. Cornelius, welches so eben die Presse verlässt.

Weitere Vergleichungen zwischen sonst und jetzt, zwischen Stralsunds früherem und jetzigem Wohlstande, wollen wir aus mancherlei Gründen hier nicht anstellen und uns heiteren Sinnes und mit guter deutscher, langmütiger Hoffnung aufs Besserwerden zu freundlicheren Anschauungen nach Rügen wenden. Zum Abschied aber noch ein Liedchen:

Stralsundischer Lakonismus.

„Ei! so schlag’ der Teufel drein!
„Ihr Stralsunder wollt mir trutzen?
„Was? Ihr nehmt kein Kriegsvolk ein?
„Wart’! will Euch den Hals schon stutzen!
„Besinnt Euch! morgen, heut noch
„Bestürm’ ich Euer Ratzenloch!“

Also dräuet zornentbrannt
Friedland Stralsunds Senatoren,
Die, die Bürgerschaft gesandt;
Doch, er dräuet tauben Ohren;
Denn Stralsunds Consul ruhig spricht:
„Herr Wallenstein! wir tun das nicht!“

„Nun, so zahlt!“ brüllt Wallenstein,
„Zahlt mir hundert Tausend Thaler,
„Muss für Euch ein Bettel sein,
„Seid ja sonst so große Prahler.“
Doch Stralsunds Bürgermeister Spricht:
„Herr Wallenstein, wir zahlen nicht!‘“

„Nun, so sollt Ihr Ochsen dann,“
Kreischet Friedland, „all verderben, an
„Dass aus Euern Fellen kann
„Meine Schaar sich Stiefel gerben.“
Doch Bürgermeister Steinweg spricht:
„Herr Wallenstein, wir glauben’s nicht!“*)

*) Aus den Liedern v. W. Cornelius.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen an der Nord- und Ostsee