Elbing

Ein wahres Labyrinth von sieben bis acht Stockwerk hohen mächtigen Kornspeichern umgab uns als die imponierendste Vorstadt, die irgend eine See- und Handelsstadt aufzuweisen vermag, und ich fürchte nicht zu übertreiben, wenn ich die Zahl dieser Gebäude auf hundert schätze. Sie haben fast alle Namen, und allerlei oft recht ergötzliche Bilder und Schildereien versinnlichen ihre Benennung. Bedenkt man aber, wie seit geraumer Zeit der Handel Elbings und, mit Ausnahme Stettins, fast aller Preußischen Ostseestädte gegen sonst darniederliegt, und wie erst seit drei Jahren sich eine Belebung gezeigt hat, die sehr wahrscheinlich als eine kurze, keine glückliche zu nennen sein wird, weil sie überall den Spekulationsgeist zu großem Kapitalaufwande für Schiffsbauten verleitet hat, so ergreift den patriotischen Wanderer schon in der Vorstadt ein gerechtes Bangen für die Zukunft Elbings. Und es steigert sich dies Bangen, wenn der Wanderer über die Brücke in die Stadt selbst gelangt, die breiten aber leeren Straßen und die großen stattlichen Häuser sieht, die er fast geschenkt bekommen kann, wenn er die Lasten und Abgaben davon bezahlen will. Es ist hier nicht der Ort und Raum zu politischen Betrachtungen, aber als eine ausgemachte traurige Wahrheit kann nicht oft genug gesagt werden, dass auf der einen Seite Russland mit seiner Sperre, auf der anderen Dänemark mit seinem himmelschreiend drückenden und ungerechten Sundzoll die Mörder des Wohlstandes der einst so blühenden Ostseestädte sind. Schweden ist mit gutem Beispiel vorangegangen, um den Sundzoll zu bekämpfen und wegzuräumen. Preußen ist, erst spät die Wichtigkeit der Sache erkennend, nachgefolgt; Russland aber, das allein hier durchgreifen könnte, hat bis jetzt seine Mitwirkung versagt.

In der „Stadt Berlin“, am schönen großstädtischen Friedrich Wilhelms-Platze, fanden wir gutes Quartier. Die Gebäude, die diesen großen von Linden umgebenen und mit Rasen und Blumen geschmückten Platz einschließen, sind hübsch, modern und dem Auge wohltuend, jedoch ohne architektonische Bedeutung, wie denn überhaupt Elbing wohl den Namen einer interessanten, sehr hübschen und klaräugigen, minder aber den einer historisch oder architektonisch merkwürdigen Stadt verdient. Unter den öffentlichen Gebäuden ist keines einer besonderen Erwähnung wert, und auch unter den sieben fast turmlosen Kirchen ist keine von hervorragender Bedeutung. Von der Kirche „zum Leichnam Jesu“ geht die Sage, dass sie ihre Erbauung folgendem Wunder verdanke. Im 15. Jahrhundert brannte die Kirche zu St. Georgen in Elbing ab. Als man den Schutt hinwegräumte, fand man das Büchslein unversehrt, in welchem das heilige Altarssakrament verwahrt wurde, und zum Gedächtnis dieser wunderbaren Erhaltung baute, wie die Chroniken berichten, Hellwig Schwang diese neue Kirche zur Ehre des heiligen Leichnams Jesu. Diese Sage, welche andrer Orten schon Jahrhunderte früher hundertfältig vorkommt, mag als Beleg meiner in der Einleitung ausgesprochenen Behauptung dienen, dass fast alle hier vorkommenden Sagen matter und nachgebildeter Art sind.


Unter den Privathäusern Elbings sind allerdings manche, die, was den bunten gotisch sein sollenden, oft sehr barocken Zuschnitt der hohen schmalen Giebel betrifft, denen von Danzig und Lübeck sich an die Seite stellen können. Auch hier findet man jene Vorsprünge und umgitterten Balustraden, die fast jedem Hause das Ansehen einer kleinen Festung geben und die in den verschiedenen Städten verschiedene Namen führen. Im Allgemeinen aber sieht man dem heitern Elbing an, dass es zu jenen Ostseestädten gehört, die, zwar früh gegründet, erst in späteren Jahrhunderten zur Entwickelung und Blüte gelangten. Eine feste Burg, Namens Elbing, ward zwar schon im Jahr 1235 hart am Haff vom Markgrafen Heinrich von Meißen erbaut, jedoch gleich darauf von den erbitterten heidnischen Preußen wieder zerstört. Im Jahr 1237 ward dann mit Hilfe Lübecker Kaufleute entfernter vom Haff die Stadt Elbing da, wo sie jetzt steht, gegründet, und mit Lübischem Stadtrechte bewidmet, während in Culm und fast in allen übrigen Städten Preußens das Magdeburger Stadtrecht galt, oder als Muster diente. Elbings Name wird als Hansastadt schon im Jahr 1295 in den Urkunden der Hansa genannt, jedoch die Stadt tat sich nie besonders hervor und erscheint überall nur als Bundesmitglied letzten Ranges. Reich, wie fast alle die Ostseestädte, an milden Stiftungen und unantastbaren Kapitalien begann die höchste Glanz-Periode Elbings erst spät nach dem Erlöschen der Hansa, und hauptsächlich erst, als Friedrich der Große, eifersüchtig auf den Handel Danzigs, das damals noch unter Polnischer Oberhoheit stand, Elbing so außerordentlich begünstigte. So ward von ihm z. B. der Weichselzoll bei Fordon angelegt, welcher von den nach Danzig fahrenden Schiffen sechsfach höher, als von den nach Elbing segelnden bezahlt werden musste, und bei Neufahrwasser lies er von allen Danziger Schiffen abermals einen bedeutenden Seezoll erheben. Auch der Binnen- und Landhandel Danzigs ward durch Friedrich den Großen zu Gunsten Elbings auf jegliche Weise beschränkt. Strombauten wurden in der Weichsel vorgenommen, um 2/3 ihres Wassers nach Elbing und nur 1/3 nach Danzig zu leiten, und endlich wurde durch Ausgrabung des Kraffohl-Kanals, der die Nogat mit dem Elbingflusse vereinigt, dem Handel Elbings solcher Vorschub geleistet, dass Danzig fast auf die Hälfte seiner früheren Bedeutung herabsank und sich nicht eher wieder hob, als bis es 1793 der Preußischen Monarchie einverleibt wurde. Aus dieser bedeutenden, leider kurzen Periode schreibt sich hauptsächlich der Wohlstand und die Mehrzahl der nun meistens leer stehenden großen Speicher und stattlichen Kaufhäuser Elbings her.

Am andern Morgen war Markttag, an welchem die kleinste der Städte Leben und Farbe zu gewinnen pflegt. Wir gingen durch die freundlichen Straßen an das Bollwerk. Bald hier, bald dort zog uns ein Haus zu näherer Betrachtung an. Hier schmückten die in Stein gehauenen Bildnisse sämtlicher römischer Kaiser den Hausgiebel eines reichen Tuchhändlers, dort waren es Rosetten und Giebel-Verzierungen von buntglasierten Backsteinen, die unser Auge beschäftigten. Am Bollwerk, am Fisch- und Töpfermarkt war viel Gewühl und Geschnatter reinlich geschürzter, rundarmiger Mädchen, die ihr meist volles schönes Haar nur halb unter einem weißen Mützchen verborgen trugen. Die Mundart aber dieser freundlichen Mädchen oder Marjellen, wie sie hier und in ganz Ost- und Westpreußen genannt werden, ist keineswegs liebenswürdig. Reich an Gurgellauten, sprechen sie meist E wie A aus, und sagen Allbing statt Elbing. Auch die sonderbaren Partizipialbildungen, gekiefer für gekauft, geforben für gefärbt, geschumpfen für geschimpft u.s.w., hören sich hier höchst eigentümlich an. Wir stiegen nun, weil’s Frühstückszeit, und weil wir die Stadt gründlich und somit auch ihrem unterirdischen Werte nach kennen lernen wollten, in etliche Weinkeller hinab, allwo man uns mit Rheinwein zweifelhaft, mit altem veritablen Portwein aber trefflich bediente. Keinem zu Liebe und Keinem zu Leide! Aber dieser im bescheidenen Dunkel des Kellers lebende Portwein schien mir einer der bedeutendsten und interessantesten Geister Elbings zu sein. Ein junger Mann, der ganz so aussah, als ob er die Welt gesehen, setzte sich zu uns. „Sie werden mit meiner Vaterstadt nicht zufrieden sein,“ begann er. „Ich bin es auch nicht. Es ist mir hier zu tot. Heute vor acht Tagen ging ich noch in London an der Themse spazieren. Das Dampfschiff, das Sie vielleicht schon gesehen haben, das erste und einzige, welches Elbing je besaß, war just in London fertig geworden und lag zur Abfahrt bereit. Plötzlich erwachte Sehnsucht nach der Heimat, überwog alle Rücksichten. Wie Sie auch hier sehen, ohne weiteres Hab’ und Gut, ohne einem Menschen ein Wort zu sagen, bin ich auf den Flügeln der „Schwalbe“, so heißt das Dampfschiff, in die Arme meiner Eltern geflogen. Und nun, da ich hier bin, da ich alle meine Lieben gesund weiß, nun möcht’ ich wieder fort. Wissen Sie was? König Friedrich Wilhelm IV. wird sich in diesen Tagen in Königsberg huldigen lassen. Da wird’s Leben geben. Die Schwalbe macht morgen ihre Probefahrt dahin. Die Gesellschaft wird zahlreich und mannigfaltig sein. Sie, meine Herren, kommen mir aber auch nicht als Freunde der Traurigkeit vor. Lassen Sie uns zusammen nach Königsberg fahren, und Sie sollen mich einen Narren nennen, wenn Sie sich langweilen. Öffentliches, Kunst- und wissenschaftliches Leben ist hier in Elbing, so zu sagen, erst im Werden begriffen. Außer dem „Elbinger Anzeiger,“ der unter den obwaltenden Verhältnissen Lob und Anerkennung verdient, existiert kein Organ der Öffentlichkeit. Berühmte oder auch nur merkwürdige Talente haben wir nicht. Ebenso wenig historische Merkwürdigkeiten von Bedeutung, wenn man nicht etwa der am 6. März 1521 durch den deutschen Ordenshauptmann Moritz Knöbe versuchten Überrumpelung der Stadt und der wackeren Verteidigung der Bürger anerkennend gedenken will, die den schon ins Tor gedrungenen Feind durch Zertrümmerung des Torgewölbes erschlagen. Mit dem Feinde ging auch das sonst merkwürdig gewordene Tor zu Grunde. Das Theater, wie auch die höchst rühmenswert versuchte Kunstausstellung werden heute geschlossen, und die schönste Tochter Elbings, meine blondgelockte Jugendgespielin, ist verreist; also was wollen Sie und was soll ich noch hier? Sie erlauben mir wohl, dass ich Sie heute noch mit den wenigen, aber recht hübschen Vergnügungsorten Elbings bekannt machen darf, und morgen früh dampffahrten wir zusammen nach Königsberg.“

Diese Art der Anrede erschien uns so originell, dass wir auf den Vorschlag eingingen. Die Umgebungen Elbings, in die uns unser neuer Freund nun führte, bieten, obgleich im Allgemeinen wiesenreich, fruchtbaren, niederländischen Charakters, manche recht hübsche ruhig groteske Wald- und Strandpartien, zumal in der Gegend von Tolkemit, Sukase und Cadienen dar, die wir hier nur zum Besuch empfehlen, nicht aber beschreiben wollen. Nachdem wir Abends im Theater noch Gelegenheit gehabt, die Flora Elbingensis, auch ohne Botaniker zu sein, würdigen und schätzen zu lernen, und nachdem wir abermals bestätigt gefunden, welch ein dankbares Publikum mittelmäßige Schauspieler immer in Städten mittlerer Größe finden, waren wir den Abend bei Sang und Klang noch recht vergnügt, und begaben uns am andern Morgen schon sehr früh auf das bereits ungeduldig schnaubende und brausende Dampfschiff.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderungen an der Nord- und Ostsee