Zum Tatzelwurm

„Heut' geht's auf d' Alm!“ wonniger, freudeverkündender Ausruf, der alle belasteten Seelen ermuntert, seien sie nun in der Stadt erdrückt worden und in der Kanzleiluft halb erstickt oder unten im engen Tale an der bäuerlichen Langweile erlahmt. Die Hoffnung, in der freien Bergluft die Sorgen der Niederung abzuschütteln und ein anderer Mensch zu werden, erquickt jedes Alter und jedes Geschlecht, das Kind am Gängelbande so gut wie den Greis am Wanderstabe, die schüchterne Feiertagsschülerin so gut wie den siegessichern Jägerburschen.

Diesmal war aber ein ganz besonderes Ziel und seltene Aufgabe vorgesetzt, und da selbe von einem allein nicht erreicht und gelöst werden konnten, so hatte sich gleich ein ansehnliches Häuflein liebwerter Gefährten zusammengetan. Ihr Stelldichein war zu Audorf beim Hofwirt, die Tageszeit der frühe Morgen, am fünfzehnten August vergangenen Jahres. Dem Aussehen nach schienen sie aus der Stadt zu kommen, aber in den Augen aller leuchtete das Vergnügen, sie verlassen zu haben. Die Tracht wies ungefähr auf die gebildeten Stände, doch hatte fast jeder der Almenfahrer sich irgend ein kleidsames Stück aus dem Jäger- oder Hirtenleben beigelegt, ein Steyrerhütchen oder einen Waidmannsranzen, eine Kochlerjoppe oder einen Ulmenstock, alles nur um anzudeuten, dass man heute auf ein völliges „Aufgehen in der Natur“ hinarbeite.


Audorf aber, der Standort, wo wir uns versammelten, ist schon früher notdürftig beschrieben worden, so dass wir jetzt nichts weiter darüber zu sagen brauchen, vielmehr es eilig verlassen, um unserer Tagesaufgabe näher zu kommen.

Zuvörderst ging es durch die Wiesen rasch dahin, ohne viel Umsehen, denn dem Tale wollte man so schnell als möglich entfliehen. Eigentlich war auch noch nicht viel zu betrachten, da die Gegend, die dem mächtigen Inn entlang liegt, in einen weißen sonnigen Nebel gehüllt war, aus dem sich auch die Berge erst mit Mühe losrangen. Nach einer starken halben Stunde begrüßten wir den Auerbach, der, aus dem Gebirge hervorströmend, hier eine rauschende Mühle treibt, und an seiner Linken begannen wir nun emporzusteigen. Zuerst nahm uns ein schattiger Hohlweg auf, der noch die angenehme Kühle des Morgens bot, bald jedoch auseinander wich, um die volle Schönheit des Audorfer Berges sehen zu lassen. „Audorfer Berg“ nennt man aber die ganze Alpengegend, die sich von jenem Dorfe aufsteigend gegen Bayrisch-Zell hinzieht, mit mancherlei Ansiedelungen besetzt und wegen ihres landschaftlichen Reizes fast berühmt ist. Und in der Tat war keiner unter diesen Reisegenossen, der sich an dem labenden Anblick nicht gefreut hätte, bis tief ins Herz hinein. Wie glänzten die Auen so schön in der Morgensonne, wie standen die Wälder so stattlich in ihrer dunklen Schlachtordnung? Unten tief in der Schlucht, zu welcher smaragdgrüne Halden hinabführten, hier mit fruchtbaren Haselstauden, dort mit wilden Rosenbüschen besetzt, unten schoß der Bach dahin, nur selten durch fernes Geräusch an sein verborgenes Dasein mahnend. Auf unserer Seite war mehr Anbau und mehr Volk, schöne Höfe folgten sich in kurzen Entfernungen, zwei oder drei beisammen stehend, reichlich beschattet von schwer beladenen Apfelbäumen, gut bewässert von kleinen Rieselbächen, welche dem tiefen Talbach eilig zutrachteten. Vor dem Hause sprudelt ein frischer Brunnen, auf der Altane wiegen sich in hölzernen Kästchen Rosen und Gelbveigelein. Über der Tür steht ein friedlicher Spruch, der den Leser auf die Ewigkeit vorbereitet oder ihm die Roth des irdischen Jammertales wegzudisputieren sucht. Dass die Dächer sanft geneigt, mit Schindeln belegt und diese mit Steinen beschwert sind, ist ohnedem bekannt. Vor dem Hause spielen die Kinder, etwas schmutzig zwar, doch keineswegs in dem Maße, dass die roten Backen nicht mehr durchscheinen könnten. Auch Hühner, Tauben, Katzen, Ferkeln finden sich da, die trauten Gespielen der ländlichen Jugend.

Auf der andern Seite, die uns gegenüber liegt, ist meist Forst und grüner Almengrund. Es funkelte aber alles im Tau des Morgens, Gras und Halm und Laub und die Tannenbäume und die fernen Dächer der Sennhütten und die Felswände, die aus den weichen Triften so rauh emporstiegen. Die Berghänge jenseits des Baches bieten übrigens alle Reize der Wildnis, aber auch manche Spuren der Menschenhand, die sie nutzbar macht. Da erscheint ein Wäldchen, reinlich abgemarkt, wie ein Schachbrettfeld, dann ein Wieslein mit einem Heustadel, dann wieder ein abgetriebener Holzfleck, wo die gefällten Fichten wild übereinander liegen, dann ein Gießbach, der sich blütenweiß durch das dunkle Gestein windet, und ein kleiner Steg darüber, zuweilen auch, doch selten, ein Berghof auf entlegener Höhe. Über den ganzen Berghang schlängeln sich verschiedene Fußpfade, die wie lange braune Zeilen an den Halden hinlaufen, dann im Wald verschwinden, aber hinter ihm sogleich wieder anheben. Oft gehen sie halsbrechend in die Schlucht hinunter, oft eilen sie steil hinauf gegen den Grat und verschwinden oben, um in einem andern Alpenreviere sichtbar zu werden. Auch schönes Laubholz findet sich und erregte damals, je wärmer der Tag wurde, mit seinen ferne aufsteigenden Kronen eine liebliche Sehnsucht nach Schatten und erquickendem Halbdunkel, durch welches der kühle Westwind streicht. Nicht zu vergessen endlich sind die wohlgenährten Rinder, die jene Halden beleben und ihr Herdengeläute melodisch herüberschallen lassen.

Eigentliche Bergesgipfel und ragende Häupter sieht man gleichwohl nicht viel auf diesem Gange, außer wenn man rückwärts schaut gegen den wilden Kaiser hin. Den Wendelstein, der nicht weit abläge, verdecken grüne Höhen und die Bayrisch-Zeller Berge kommen auch nicht hervor; jedoch, damit auch diese Schönheit nicht ganz vermißt werde, erhebt sich zur Linken wenigstens einer und ein ziemlich gewaltiger, der rasch und steil aus den Almen aufsteigt, regelmäßig wie eine Pyramide, der man den Hut abgetragen. Er heißt der Brinnstein und trägt eine Kapelle auf seinem Grate.

Ist man auf der Alm schon in der Woche fromm und gottergeben, sodass sich keine Hütte findet, in der nicht ein leidender Christus, von frischen Blumen stets umduftet, in der fürnehmsten Ecke hinge, auf dass die einsamen Schäferinnen ihr Morgen- und Abendgebet vor ihm verrichten können, so ist es sehr begreiflich, dass an Sonn- und Feiertagen diese werktägliche Hausandacht keinerlei Genügen geben kann, und dass die Mädchen nach einer kräftigeren Gottesverehrung streben. Sie putzen sich dann mit dem glänzenden Mieder und dem weißen Fürtuch, setzen das grüne Hütchen auf, stecken einen Buschen vor die Brust und gehen in ein rechtes und wahrhaftes Gotteshaus. Sie wandern dann nicht ungern ins Tal, wo sie Eltern, Geschwister, sowie Freunde und Freundinnen wieder sehen und die Sonntagspredigt des Herrn Pfarrers einschlürfen können; fast noch lieber aber wallfahrten sie zu irgend einer Bergkapelle, wo die Mutter Gottes oder ein alter Heiliger mit grimmigem Barte verehrt wird und wo die Gebete einen viel kürzeren Weg zum Himmel haben. Oft kommen da mehrere Jungfrauen zusammen, vielleicht auch einmal ein nicht ganz absichtsloser Jüngling und wenn man inbrünstig gebetet, setzt man sich gern ins Grüne und fängt zu singen an, schalkhafte Liebeslieder, d. h. Schnaderhüpfeln und wer dann unten vorbeigeht, der meint leicht, da oben sitzen die Sirenen bei einander und möchte vergehen vor lauter Sehnsucht.

Also, schlendernd kamen wir auch an manchen Älplern beiderlei Geschlechts vorbei, welche in ihrem besten Sonntagsstaate talwärts gingen. Es ist ein gutgenährter, wohlaussehender Schlag; die Männer mitunter von sehr stattlicher Gestalt, auch die Weiberleute von gediegener Statur, die jedoch selten bis zur vollen Schönheit ausschlägt.

In dieser Gegend liegt auch Watschöd, der schöne Hof, den die Maler eigens abzuzeichnen pflegen. An diesem Hof wäre viel zu studieren, wie alter Alpenbau gewesen und ausgesehen, denn er scheint schon geraume Zeit so zu stehen, wie jetzt, da doch die alten Bauernhäuser immer seltener werden, sei es, weil der steigende Wohlstand die frühere enge Heimat gern durch neue Häuser von Stein ersetzt, sei es, weil manch altes und ehrwürdiges Gebäude durch Feuersnot zu Grunde gegangen. Der watschöder Hof ist groß und geräumig, schwer und stark in seiner Anlage. Das Holzwerk ist derber und verlässiger, als es heutzutage hergestellt wird. Das Haus hat mancherlei Zier von oben bis unten — zwei grün angestrichene Galerien, welche die Vorderseite schmücken, eine Uhr mit weithin hallendem Schlage, eine Glocke im Türmchen auf dem Grat des Daches, welche das Gesinde, wenn es auf den Wiesen arbeitet, zu den Mahlzeiten ruft und über dem First zwei große Löwen, welche ein Kruzifix beschützen. Auf den Wänden sind mehrere Heilige angebracht, von denen, die die Bauern am liebsten haben, ja an der Haustüre stehen ein Grenadier und ein Füsilier, welche auf lange Bretter gemalt sind und in übermenschlicher Größe den Wohnsitz bewachen. Im Innern hat's mir gleichwohl nicht recht gefallen. Die braunen Mauern zerbröckeln, der steinerne Flurboden ist zersprungen und das Getäfel in der Wohnstube ganz schwarz geworden unter der Last der Jahre. Die Landleute schauen dem schleichenden Verfall ihrer Behausungen durch Menschenalter hindurch in Ruhe zu, bis einmal ein Hauptbau geführt und der ganze Wohnsitz renoviert wird, vom Gipfel bis zu den Wurzeln. — Ein neues Geschlecht fühlt sich auch behaglicher in neuen Wohnungen. Man hat schon manchen Herrn von Stand beobachtet, der sich eine Ritterburg restaurieren ließ, und dem es dann selbst bald unheimlich wurde in den finstern hallenden Gängen und in den halbdunkeln, kalten Stuben, die keine Sonne hell und kein Ofen warm macht. Mir wäre auch eine Sommerfrische lieber bei Miesbach in einem neuen reinlichen Bauernhäuslein mit den glänzenden Fenstern und den lichten Gemächern und dem frischen neuen Holzwerk, als in dem alten Hofe zu Watschöd.

Von diesem an wandelten wir aber noch ein hübsches Stündlein fort, immer die Halde entlang, die sich bald einwärts, bald auswärts bog und kamen in munterem Gespräche unserem Ziele immer näher. Da nun dieses nicht länger mehr ein Geheimnis bleiben kann, so ist es an der Zeit, dass wir es veröffentlichen und zwar wie folgt:

Auf dem Audorferberge liegen in weiter Zerstreuung viele Höfe umher, es ist jedoch kein so alter darunter, wie der zu Schweinsteig. Dieser steht etwas höher im Gebirge, rechts ober unserm Wege, kommt schon im zwölften Jahrhundert vor und wurde immerdar von einem ehrenhaften Geschlechte bewohnt. In unsern Zeiten ist das Haupt desselben ein hochgebauter, kräftiger, eben nicht junger, aber rüstiger Germane, der sich Simon Schweinsleder nennt. Er ist zwar nicht arm, aber sein großer Hausstand macht ihm doch viele Sorgen. Man behauptet, er habe schon von Jugend auf „seine Sachen“ (Grillen oder Sonderlichkeiten) gehabt, und jedenfalls zählt er nicht zu dem ordinären Bauernhaufen, ist vielmehr strebsam und denkt ins Weite. Zu seinen Sachen gehörte nun auch, dass er weiter drinnen in einer Gegend, die da Aschau heißt, wo er eine Almenhütte gepachtet, sich oft und gern an den nahen Weg hinsetzte und die Pilger betrachtete, nicht allein jene, welche von Audorf nach Bayrisch-Zell hinüberzogen, sondern auch die andern, welche den umgekehrten Weg von Bayrisch-Zell nach Audorf wandelten. Unbetreten ist der Pfad zu keiner Zeit des Jahres, da er zwei volkreiche Gegenden verbindet, die außerdem nur auf weiten Umwegen einen Zusammenhang haben. Im Sommer kömmt dazu noch der Zug der Wallfahrer, die über die Almen nach dem wundertätigen Bilde am Birkenstein trachten. Auch im Winter wird der Steig gar viel benutzt, zumeist von den Holzleuten, welche dann die Schätze der Wälder im Schlitten zu Tale fördern, mitunter auch von einem Landtagsabgeordneten oder einem geistlichen Herrn, der zu einem Tarockrennen nach Bayrisch-Zell hinübereilt. Der Schweinsteiger saß nun in der Abendkühle gar oft an dem Wege und fragte dann die Wanderer gern, was sie für neue Mär wüssten aus dem Reich, was der Weizen gekostet auf der letzten Rosenheimer Schranne, oder wie die Allgäuer Kühe abgegangen auf dem letzten Viehmarkt zu Käferloh. Dagegen fragten ihn die Pilger, warum denn hier kein Wirtshaus zu finden, gerade in der Mitte zwischen Audorf und Bayrisch-Zell oder umgekehrt. Dritthalb Stunden sei's hierher von jedem Orte — ein weiter durstiger Weg in heißen Sommertagen. Im freien Helvetien, im Berner Oberland, im Chamonixtal, sagten die Reisenden, ständen auf solcher Strecke wenigstens fünfzehn Hotels mit Ober- und Unterkellnern, Führern, Trägern, Mauleseln, Bettlern und Blumenmädchen. Ha, ihr blöden Altbayern, soll da mancher Nordländer gesagt haben, indem er drohend den Finger aufhob, für was hat euch die Vorsehung so herrliche Berge verliehen, wenn ihr nicht einmal Wirtshäuser habt, die ihr hineinstellen könnt?

Der Schweinsteiger wurde tief betroffen von solchen Reden, denn sie verdrossen ihn sehr. Aber während er sich darüber ärgerte, ging hinter den Sorgenhügeln seines Herzens ein neuer Stern auf, ein hoffnungsvoller Stern von ungemein mildem Lichte und verführerischem Glanze. Er betrachtete ihn sehr gerne, versiel darüber in hoffnungsvolle Träume und nahm die Gewohnheit, mit sich selbst zu sprechen, an. Jetzt ist mir doch, lautete einer seiner bekanntesten Monologe, jetzt ist mir doch, als habe Alles — die Vorsehung, die Reisenden, der Standort und mein eigenes Gemüt — nur Einen Zweck, nämlich den Zweck, mich zu einem Wirte zu erheben. Und in der Tat, ich kann den Gedanken nicht denken, ohne ihn lieb zu gewinnen. Ein halbes Jahrhundert habe ich schon mehr als vollgemessen auf dem Rücken — dreiundfünfzig Frühlinge zähle ich bereits — meine schwieligen Hände zeigen, dass ich mich in jüngeren Jahren nicht geschont — elf Kinder habe ich dem Vaterlande geschenkt, die mir jetzt viel unnützen Lärm ins Haus machen. Wie wär's denn, lieber Simon, wenn wir nachgerade einen Altersstuhl, eine Simonsruhe uns errichten dürften, allwo wir wie in einer Solitude oder Monbijou unsere Tage leise versitzen könnten, als angesehener Wirt in freundlichem Gespräche mit den Reisenden, mit den Naturforschern, mit den Gelehrten, die mir vielleicht manches neue mittheilen, die vielleicht hier oben auch manches neue hören könnten! Selbst die Würdenträger des Staats begehren ja in solchem Alter der Ruhe und wenn sie auch nur halb so viel geschafft wie ich, so nehmen sie doch mit einem tüchtigen Ehrensold fürlieb und erfreuen sich einer würdigen Tatenlosigkeit. — Und wär's nicht ein Labsal und eine süße Erinnerung für mich armen alten Mann, wenn einst der berühmte Jakob Grimm, der Gründer der deutschen Philologie, hier heraufkäme oder der edle Philhellene Friedrich Thiersch und wenn beide mein Getränke lobten, oder wenn der größte Philosoph der Gegenwart — leider kann ich seinen Namen nicht nennen — an meiner Butter seinen Gefallen fände und sein somatisches Mundstück so tief in meinen Alpenrahm steckte, dass ihm der weiße Bart noch stundenlang um die träumerischen Lippen hinge!

Es war im April 1848, als der Schweinsteiger seine Bundschuhe anzog, seinen grünen Hut aufsetzte und den Berg hinunter ging, um nach Rosenheim zu wandern. Wenig kümmerte ihn, dass ganz Deutschland aus den Fugen war, mehr aber, dass der Schandfleck von seinem heimischen Arkadien weggewaschen, dass dort zum Besten der reisenden Menschheit endlich ein lustig Wirtshäuslein aufgeschlagen und sein geliebtes Vaterland den Vorwürfen der Fremden entrückt werde. Wenn nur da einmal ein gastlich Dach errichtet wäre, unter dem der Pilger an heißen Tagen Kühlung, bei frostigem Wetter Wärme und zu allen Zeiten eine leibliche Erquickung fände, so würde man, meinte er, auch sonst nicht mehr viel über sein liebes Bayerland zu schimpfen haben. Er winkte auf dem neun Stunden langen Wege immer lächelnd rechts und links, in der festen Überzeugung, dass ihm jeder Landsmann schon von außen seinen patriotischen Gedanken ansehen müsse. Noch lebte er auch der frohen Hoffnung, dass die erleuchteten Behörden seine Idee als eine Ehrensache auffassen, und ihm die schönsten Komplimente darüber machen würden. In Rosenheim, dem feinen Städtlein, angekommen, ging er die dunkele Treppe hinan, die zur großen Amtsstube des Landgerichts führte und stellte sich da unter jene scheue Herde von verstandesbeschränkten Untertanen, welche im Hintergrunde auf Abfertigung zu warten pflegt. Da das andere Volk, welches heute zusammengekommen, meist nur mittlerer Statur war, so ragte er fast um einen Kopf darüber hinaus (wie die Zypresse über den Mehlbeerbaum), und da die übrigen ziemlich nachdenkend, mitunter etwas ängstlich dareinsahen, so konnte sein faltiges Gesicht, welches immer gefällig vor sich hinlächelte, nur einen auffallenden Kontrast zu dieser Umgebung bilden. In der Tat fiel es auch, nachdem er eine gute Stunde gestanden, einem gutmütigen Gerichtsdiener auf, der ihn sofort milde anfuhr und sprach: Was willst denn Du da hinten mit Deinem hölzernen Gelächter? Ob Du hergehst, damit man mit Dir reden kann? Auf diese freundliche Einladung wagte sich der Schweinsteiger etliche Schritte vor und lispelte etwas von seinem Anliegen, worauf der Gerichtsdiener ihm bedeutete, er solle nur gleich zum Herrn Landrichter hineingehen. Die weiteren Erlebnisse wollen wir aber den Dulder selber schildern lassen, indem wir einen Brief ausziehen, den er gleich darauf einem Vertrauten geschrieben. Es ist ein sehr plastisches Bild aus dem Kanzleileben der guten alten Zeit, die immer noch nicht so weit zurückliegt als man vielleicht zu München in den humaneren Kreisen des Ministeriums glauben möchte. Also schreibt er:

„Ich klopfte an, und ging hinein. Da las er (der Herr Landrichter nämlich) in einer Zeitung. Er nahm mich sogleich bei der Hand, und wies mich zur Türe hinaus und stieß mich zurück. Da waren viele Leute da, und es war ein groß Gelächter. Ein jeder fragte, wer ich sei, und ich war ganz schamrot; denn es waren auch mehrere Bekannte darunter. Nun musste ich wieder eine Stunde an der Türe stehen, bis er wieder kommt. „Dummer Kerl, was willst Du denn?“ war seine Antwort (soll heißen Anrede). Ich möchte mit Ihnen allein was reden — „Sag's nur so, dummer Kerl!“ — Dabei stand er vor mich hin. Alles Volk kam näher, und so musste ich's öffentlich heraussagen. Ich bitte ihn recht freundlich um Verleihung einer Wirtschaft auf die Almenhütte in der Aschau — da ward er zornig und machte allerhand Vorwürfe und wollte mich ausschaffen. Ich bitte wieder auf ein Neues. Da muss ich zum Aktuar gehen. Dieser schimpfte mich und rebellte unaufhörlich. Er warf zuerst die Akten hin und her, und schickte mich dann zum Oberschreiber. Dieser schimpfte mich auf ein Neues unter allem Volk. Doch musste ich 1 fl. 57 kr. zahlen, wobei er immerfort lärmte. Darauf musste ich zwei Stunden stehen bleiben. Wie es zwölf Uhr schlug, sagte der Gerichtsdiener, ich sollte weiter gehen, es sei Mittag. Ich beschwere mich, dass ich jetzt seit acht Uhr dagestanden und nicht angehört worden, und dass ich neun Stunden nach Hause habe, wo ich soviel bei der Nacht gehen muss bei so schlechter Witterung. Er kann nicht helfen, war die Antwort. Dieses hörte der Aktuar und ich durfte wieder zu diesem hineingehen. Er war aber ganz feindselig und ich war ihm überall im Wege. Ich stand fest in einem Winkel, wo mir das Stehen doch so viel Schmerzen macht, dass ich bald auf diesen Fuß und bald auf jenen stehen musste. (Wie die letzte Szene mit dem Aktuar ausgegangen, hat der Schweinsteiger in seinem Briefe nicht angegeben, jedenfalls war auch sie ohne Folgen). Als ich nun wieder nach Hause gehen wollte, konnte ich nicht mehr recht gehen. In allen Gliedern hatte ich Schmerzen und den weiten Weg nach Hause! Auf dem Wege kamen mir so schwere Gedanken, warum ein Bauer so viel Unbilligkeiten ertragen soll, wo er doch sein Brot mit seiner Familie im Schweiß des Angesichts verdienen muss. Heut' Vormittag war ich schlechter als der Hund, der unter dem Schreibtisch lag, und den alle Beamten liebkosten. Von der Tierquälerei gibt's ein Gesetz — aber von der Bauernquälerei gibt's nichts.“

Indessen der Schweinsteiger gab nicht nach. Es kam auch einmal ein glücklicher Tag, wo er zu Protokoll genommen und dann schriftlich abgewiesen wurde. „Dem Gesuchsteller, hieß es, sei nicht so fast um Bewirtung der Fremden zu tun, sondern vielmehr um Gesindel heranzulocken, welches ohne Aufsicht der Unsittlichkeit fröne, wozu jene Almenhütte so geeignet sei. Die Reisenden, die auf jenen blumigen Pfaden wandelten, trügen alle selber kalte Speisen mit sich und es werde ihnen in jeder Sennhütte Milch, Butter und guter (?) Käse gereicht, wonach die Pilger mehr Verlangen hätten als nach anderen Speisen und zur Stillung des Durstes könne man da frisches gutes Wasser haben!“ — All dies klang zwar nicht sehr tröstlich, aber nun hatte der Gesuchsteller doch das Recht, an die Kreisregierung zu appellieren. Diese wies ihn zwar ebenfalls ab, aber nach einiger Zeit fing er wieder beim Landgericht an und als er dort abermals abgewiesen worden, ging er wieder an die hohe Regierung von Oberbayern, welche ihn neuerdings abwies. Diesen ehrwürdigen Kreislauf setzte er wie ein Färbergaul so lange fort, bis ihm beim vierten Male, nach drei Jahren, die grundgütige Regierung eine widerrufliche Lizenz zu einer Bierschenke in der Aschau für die Sommermonate verlieh. Im innersten Herzen hatte sich der Schweinsteiger zwar eine Wirtschaft gewünscht, mit der Gerechtigkeit, Sommer und Winter die Pilger über Nacht zu beherbergen, aber er dankte dem lieben Gott und der gnädigen Regierung von Oberbayern für das Wenige, rieb sich die Hände und war glücklich. Und siehe da! es kam bald ein Segen über ihn und die Großen von Rosenheim stiegen hinauf zu seiner Höhe und sein Getränk fand Gnade vor den Landgerichtsbeamten, den Forstleuten und den Oberschreibern und nicht allein vor diesen Zelebritäten, sondern vor der wandernden Menschheit allzumal. Auch von der gefürchteten Unsittlichkeit war keine Rede mehr, vielmehr lobte man seinen strengen Hausvaterernst, der den mutwilligen Buben gewaltig imponierte. In diesem Zustande verharrte er, obgleich er später noch zweimal fruchtlos bat, auch im Winter Samaritaner sein zu dürfen. Wenn seine elf Kinder auf dem Hofe das Haus umkehrten, dann ging er stille dahin und wanderte fort und fort, bis er in die heimliche Einsiedelei zu Aschau kam. War ein gebildeter Gast vorhanden, so setzte er sich hin, um bei mäßigem Trunke seine Ideen mit ihm auszutauschen; war niemand zur Stelle, so holte er sich selber einen frischen Humpen aus dem Keller und ergötzte sich daran; denn obgleich er zu Hause das beste Wasser hatte, so gab er doch dem braunen Nationalgetränke den Vorzug, wie ja auch der fromme Noe bekanntlich in seinen alten Tagen ein anderweitig Getränk haben wollte.

So lebte er zufrieden mit sich selber und mit den andern bis ins Jahr 1858, als ihn das Schicksal wieder auf jene langen traurigen Wanderungen durch die Kanzleien schickte. Der Nachbar nämlich, welcher ihm die Alpenhütte in der Aschau verpachtet, beneidete den Schweinsteiger, dass dieser eine Bierschenke führen dürfe, dass er da als Wirt fast in fürstlichen Ehren seine alten Tage zubringe, in seinem Felsenkeller immer frisches Bier habe und mit allen reisenden Gelehrten Verbindungen anknüpfen könne. Was lag ihm naher, als dass er die Miete kündete, und er tat es auch. Der Schweinsteiger betrübte sich zwar darüber, fing aber bald zu überlegen an, ob er die Wirtschaft, die sein Alter versüßte, nicht auf seinen angestammten Hof zu Hinterschweinsteig verlegen solle, und als ihm dieser gleichwohl für solchen Zweck zu hoch und zu entlegen erschien, da faßte er den Gedanken, sich ein eigenes Häuschen zu erbauen, einen Büchsenschuss von der Almenhütte, und zwar an eben dem Pfade, auf dem die Wanderer nach Bayrisch-Zell oder nach Andorf gehen. Nun hatte er aber in dieser Gegend weder Grund noch Boden und so wandte er sich an die Reichsverwaltung und erbot sich, daselbst ein wertlos felsiges Flecklein zu kaufen oder gegen ein wertvolleres Grundstück einzutauschen. Er fand dabei natürlich alle jene Schwierigkeiten, auf welche im lieben Bayerlande jeder stößt, der etwas Industrielles unternehmen und seinem Vaterlande dadurch Ehre machen will. Waren die gebildeten Herren in den höheren Schichten auch recht artig mit ihm, so waren die Volksbeglücker des untern Ranges nur um so unfeiner. Er wurde wieder einmal um das andere abgewiesen, ganz im Geist der damaligen Zeit, welche immer meinte, der Untertan würde übermütig, wenn man ihm zu schnell und rasch etwas zu Gefallen tue. In seiner Ratlosigkeit fuhr er nun einmal in die Stadt hinein und ging ins oberste Forstbureau, nicht verlegen zwar, aber fremdartig angeweht von dem Duft der hohen Stelle, fand jedoch das richtige Gemach und in diesem die freundlichste Aufnahme. Ja, als der schwielige Alpensohn sein Anliegen vorgetragen, sprach ein hoher Würdenträger: „Ei, wenn's sein kann, warum sollen wir euch denn nicht gefällig sein? wir sind ja da, um die Menschen zufrieden und glücklich zu machen!“

An diese Szene erinnert sich der Schweinsteiger noch heut zu Tage gerne. Namentlich die letzten Worte wiederholt er mit einer gewissen fröhlichen Pique, gleich als bezeichneten sie einen neuen Abschnitt in seinem Leben. Das war schön, sagt er, indem er sich schmunzelnd hinter den Ohren kratzt, „zufrieden und glücklich machen“ — da darfst weit um einander laufen, bis du wieder so was hörst. — Dabei schielt er mit den Augen hin und her, als wenn er die bedeutendsten Anspielungen machen wollte.

Endlich nach fünf langen Jahren hatte er das Fleckchen, das er wünschte, ausgesteckt erhalten und baute um elf oder zwölfhundert Gulden ein niedliches Häuschen darauf. Ein paar hundert Gulden aber waren auf diese und die frühere Geschichte ergangen mit lauter Reisen nach Rosenheim und München, Protokollstaren, Anwaltshonoraren, Schreibgebühren und so weiter. Er verschmerzte sie jedoch gerne, denn er saß jetzt unter eigenem Dach und die Fremden, die von Bayrisch-Zell herüberkamen, und da erst aus dem dunkeln Walde traten, die waren ganz entzückt über die herrliche Aussicht, die sich hier in das wilde Hochgebirge jenseits des Inns auftut, während die Almenhütte mitten in einer Wiese liegt, wo man nichts sieht, als die nahen Waldleiten. Darum sagten ihm auch die Wanderer über die Feinheit des Geschmackes, den er in der Auswahl seines Standorts bewiesen, gar viel Liebes und Schönes, was er lächelnd einsteckte.

Nun aber, nachdem die Almenhütte wieder heimgefallen war, regte sich auch in dem Nachbar der süße Trieb, ein Wirt zu werden und so begann er denn sofort seine Tätigkeit und seine Bewerbung und diese hatte — ich weiß auch nicht warum — die ganze Welt für sich. Der Gemeindevorsteher gewährte ihm seine mächtige Protektion und eine große Anzahl von naiven Ökonomen und Viehhändlern schrieb ihm Zeugnisse, es sei ein längst gefühltes Bedürfnis, dass auf seiner vortrefflich gelegenen Almenhütte ein vollständiges Wirtshaus mit Tag- und Nachtherberge fürs ganze Jahr errichtet werde, da die Bierschenke in der Aschau denn doch nicht mehr genüge. Leider aber, und um die Menschheit ganz irre zu machen, war dies dieselbe Almenhütte, welche das königliche Landgericht früher als einen für die Sittlichkeit so gefährlichen Schlupfwinkel bezeichnet hatte, derselbe Ort, wo, wie es früher geheißen, die Fremden nur Milch und frisches Alpenwasser begehren. Überdies war schwer einzusehen, warum jetzt zwei solche Anstalten notwendig sein sollten, da wo früher eine überflüssig erschienen. Der Schweinsteiger, der bisher noch immer nur eine Lizenz für die Sommermonate Juli bis Oktober hatte, trat nun aber auch in die Bewerbung ein, bat auch für sich um die gleiche Gnade und stellte seine besten Gründe in wohlermessener Fassung zusammen. Die hohe Kreisregierung hörte diese Gründe zwar mit überlegener Ruhe an, verlieh aber nicht ihm, sondern dem Jörgel — so heißt der Glückliche — die erbetene Konzession, weil doch auf dem langen Wege noch keine vollständige Wirtschaft ausgeübt werde, und bedeutete dem Schweinsteiger, nachdem sie heute schon eine solche verliehen habe, so sei sie jetzt zu erschöpft und könne am nämlichen Tage nicht noch eine zweite hergeben.

Festlich und unter Schalmeienklang zog der neue Wirt in seine Almenhütte ein, stellte ein Dutzend Halbekrügeln auf, brachte in einem Schnupftuche seine Requisiten mit und begann zu schenken, gerade wie es bisher der Schweinsteiger gethan. Zwei liebreizende Töchter brachte er ebenfalls mit in das neue „Lokal“ und verkündete ihnen, dass sie von nun an Kellnerinnen seien, gab ihnen auch die Weisung, sich fürderhin ihrem neuen Stande gemäß witzig, geistreich und tugendhaft zu benehmen. Wie der bayerische Bauernkopf nichts höheres denkt, als Wirt zu sein, so scheint auch der bayerischen Landjungfrau das edelste Ziel des Lebens, sich als Schelm graziös unter dem Haufen der zechenden Burschen zu tummeln und, gegen alle schnippisch, auf jede Anspielung gefaßt, die immer gefährdete Tugend stets glücklich aus dem Feuer zu führen. Zum Jörge! wallfahrtet aber jetzt die männliche Jugend von Berg und Tal, die Regauer und die Buchauer, die Wildgruber und die Rechenauer, alle wetteifernd in der großen Kunst, zu gefallen. Möglich, dass die blauen Augen jener Huldinnen mit der Zeit den ungeschlachten Bengeln etwas ritterliche Sitte und Galanterie einflößen, aber vor der Hand haben dieselben zur Einweihung nur erst eine glänzende Schlägerei veranstaltet, welcher vielleicht noch mehrere ebenso pompöse folgen werden. Man nimmt's da nicht eben hoch auf — ein harmloses landesübliches Sonntagsvergnügen!

Noch eine andere Empfehlung brachte der Jörgel mit sich, nämlich hübsche Spielkarten und die Kunst zu hopfen. Hopfen ist ein ländliches Hasardspiel, welches zwar verboten ist, aber eben deswegen desto mehr geübt wird. Der Schweinsteiger kennt keine anderen Karten als Landkarten vom ehemaligen deutschen Reich, vom Circulus Bavaricus und Circulus Franconicus, wie er sie mitunter aus dem Rücklasse gestorbener Benefiziaten erstanden hatte. Darin studierte er sich oft die Augen blind und grübelte herum au dem Bistum Freising und der freien Reichsstadt Nürnberg und an der Markgrafschaft Kulmbach und an der Grafschaft Speckfeld und freute sich, dass es noch so viele schöne Herrschaften gebe auf der Welt und ahnte gar nicht, dass diese alle schon längst königlich bayerisch geworden und unter demselben Szepter blühten, unter dem er selbst jetzt mühsam grünte.

Als das Unglück so plötzlich über ihn hereinbrach, als er das Alter wegen der Neuheit und die Jugend wegen der Töchter zum Nachbar hinunter wandern und seine eigenen Zellen veröden sah, als er bei den Ämtern mit geistreicher Ironie, von dem Gemeindevorsteher mit schlecht verhaltenem Spotte, von dem Parvenü auf der Almenhütte mit dem Übermut des Glücks behandelt wurde, als die eigene Frau und die eigenen Kinder zu fragen begannen, wozu denn nun der ganze Hausbau und wozu die Bierschenke, wenn Niemand mehr zu ihnen komme, da soll der Schweinsteiger wie in einen tiefen Traum versunken sein und wieder einen Monolog gehalten und eine seiner schreibkundigen Töchter diesen zu Papier gebracht haben. Wir geben ihn so unverbürgt als möglich, glauben aber, dass er ungefähr gelautet haben möchte, wie folgt:

„Ich ehrfurchtsvollst Unterzeichneter — er meinte nämlich in seinem Wahn immer an die königliche Regierung von Oberbayern zu schreiben — ich ehrfurchtsvollst unterzeichneter, Simon Schweinsteiger, bin über sechzig Jahre alt, habe keine schönen Töchter, kann auch nicht hopsen, bin aber sonst ganz gut beleumundet. Ich bin acht Jahre lang durch alle bayerischen Kanzleien gesprengt worden und möchte trotz der Reigersbergischen Höflichkeitsverordnung immer noch lieber mit Hufnägeln in den Schuhen nach Jerusalem pilgern, als diese Gänge noch einmal machen. Als ich die unsittliche Almenhütte aufgegeben, damit mein Nachbar mit seinen Töchtern sie besetzen könne, baute ich mir ein eignes Haus, frisch und blank vom Scheitel bis zur Sohle, spendierte fünfzehnhundert Gulden und dachte nun, wenn nicht aller Gnaden würdig, doch keiner Unfreundlichkeit gewärtig sein zu dürfen. Zudem habe ich meinem Vaterlande elf gesunde Kinder geschenkt, die ich noch besitze — ein Schatz, um den mich auch kein Landgerichtsprofessor beneiden wird. Dabei trachtete ich immer, aus meiner Schenke ein Wirtshaus heranzubilden, aber man hat's mir ja nie erlaubt! Wenn nun der löbliche Gemeindevorsteher und die alliierten Ökonomen jetzt plötzlich ein vollständiges Hotel hier sehen wollen, wußte man denn nicht, dass dies schon langst mein eigner heißester Wunsch ist? Bin ich nicht schon seit zwölf Jahren in Demut auf der Lauer? Bin ich nicht ein braver, alternder Mann, der etwas Schonung bedurfte? Glücklicher, dreimal glücklicher Jörgel, da dir nach wenigen Wochen in den Schoß gefallen, was dein Nachbar so viele Jahre lang umsonst erstrebte! Alles Höchste, sagt freilich unser Schiller, es kommt frei von den Göttern herab! und das muss wohl wahr sein, denn mein Fleiß und mein sittlicher Ernst haben mir zu nichts geholfen. Aber dies Altbayern ist wirklich kein gebildetes Land. Wie viele Freunde habe ich nicht unter den Edlern des Reiches, ja des ganzen Germaniens! Hat nicht Dr. Völk im vergangenen Sommer seinen Durst bei mir gelöscht, tief in die deutschen Schäden hinabgeleuchtet und meine Hoffnung auf ein deutsches Parlament wieder aufgefrischt! Hat nicht Dr. Steub über mich und mein Geschlecht schon mancherlei für die Nachwelt geschrieben und so gewissermaßen, da sich der historische Verein nicht um mich annimmt, eine wesentliche Lücke in unserer Literatur ausgefüllt! Waren nicht der Schleswiger Hanßen, der Göttinger Helfrich, der Rieser Melchior Meyr, der unvergleichliche Viktor Scheffel, der großherzoglich badische Hofmaler Vischer und andere Zelebritäten, deren Namen ich der Kürze halber verschweigen will, unter meinem Dache! Viele sind auch wohl unbekannt, doch nicht ungelabt vorübergezogen. Nicht mit Unrecht betrachtet mich sohin die ganze Gegend als den Liebling aller gelehrten Gesellschaften und da kommt nun der Gemeindevorsteher daher und deckt mit seinem Nimbus alle jene Namen zu! Ist's nicht traurig, dass in einem Lande, dessen geliebter König Hunderttausende für Bildung aufwendet, ein einziger ordinärer Bauernschulze so viele Staatsmänner, Gelehrte, Schriftsteller und Künstler aus dem Sattel hebt! Ist's nicht traurig, dass unsere Beamtenwelt wegen Amtseifer und Geschäftslast den Bewegungen der literarischen Kreise so ferne bleiben muss? In Ansbach und Baireuth haben wenigstens ihre Frauen abendliche Lesekränzchen und teilen dann den Männern das Gröbste aus den neuesten Büchern mit, aber in unserm sonst so glücklichen Altbayern scheint selbst dieses einfache Hausmittel noch zu fehlen. — Zwar geht jetzt ein Geflüster, der Jörgel wolle alles übertreffen, was bisher ein Alpenhotel geleistet, aber wenn wir das Prinzip der kalvinischen Gnadenwahl nicht auch in die königlich bayerische Administration herüberziehen und nicht annehmen wollen, dass der Jörgel, welcher dieselbe Schule, dieselbe alpenhafte Bildung genossen hat und überhaupt in seiner Jugend derselbe Rüpel gewesen ist, wie ich, dass dieser durch eine eigentümliche, vielleicht durch das Gebet des Gemeindevorstehers vermittelte göttliche Gnade das Genie des Gastgebers bereits in der Geburt erhalten, so hätte man doch einige Unterschiede, die mir sehr bemerkbar scheinen, auch höhern Orts nicht übersehen sollen. Hier ist ein Patriarch mit elf Kindern, dort ein kleiner Familienstand; ich habe seit fünfzehn Jahren nach diesem Ziel gestrebt, er seit vier Wochen; ich habe mein Vermögen daran gesetzt und er nichts; ich kämpfe um meine sauere Existenz, er geht auf eine mutwillige Spekulation aus, die ihm nie eingefallen wäre, wenn ihn nicht mein stilles Glück verdrossen hätte. — Es gibt wirklich Augenblicke im menschlichen Leben, wo es über unsere Kräfte geht, die unerforschlichen Ratschlüsse der Obrigkeiten vollkommen zu ergründen und ihre Gerechtigkeit zu begreifen. Mir wenigstens wäre es jetzt fast ebenso leicht, Schellings Philosophie der Offenbarung oder Hegels Phänomenologie des Geistes oder Melchior Meyrs Gott und sein Reich zu aprofondieren. — Übrigens ersterbe ich in tiefster Ehrfurcht!“

Zu der Zeit, als der Schweinsteiger solche Monologe zu halten pflegte, hatten aber seine Freunde schon lange an ihn gedacht, und es dünkte allen eine Christenpflicht, den trauernden Wirt zu trösten und ihn mit der bösen Welt wieder zu versöhnen. Der badische Hofmaler, Herr August Vischer, der den Dulder auf Johannis kennen gelernt, ließ sich durch die monumentale, von seinem Fürsten gestellte Aufgabe, Herrn Berthold von Zähringen in der Schlacht an der Adda zu malen, keineswegs abhalten, sondern malte auch nebenbei in den Musestunden einen Schild für den Schweinsteiger. Die andern berieten über eine alpenhafte Feier, welche der Aufstellung dieses Wahrzeichens gewidmet werden sollte. Volksmänner, Abgeordnete und die Väter verschiedener Gemeinden, Gelehrte und Dichter, Architekten, Chemiker und Buchdrucker vereinigten sich schnell, um dem geplagten Landsmann, der es zuerst gewagt und trotz aller Hindernisse in unwirtlicher Gegend für Erquickung des Menschengeschlechts gesorgt hatte, ein entsprechendes Zeichen ihrer Anerkennung zu geben.

Und dies war eigentlich der Zweck unserer heutigen Ausfahrt, den wir schon im Anfange, jedoch etwas mystisch angedeutet haben. Wie wir uns aber darlebten, als wir am hellen warmen Sommermorgen das Ziel erreicht hatten, vielmehr die Feierlichkeit des Empfangs, diese stellt das große Bild, welches sich hier vor dir, o Leser, auftut, in anmutigen Umrissen vor.*) Möge dich dabei der Gedanke an die reine Bergluft umfächeln, die dort geatmet wird, und mögest du im Geiste neidlos teilnehmen an der Freude, die wir alle fühlten, als wir endlich den lieblichen Ort betraten, nach welchem wir uns in der Stadt schon seit Wochen gesehnt hatten.

*) Hier wird auf ein großes Bild hingewiesen, welches gleichwohl an diesem Orte nicht zu sehen ist, während es nebst den beiden später zu erwähnenden in der Illustrierten Zeitung vom 25. Juni d. J., wo die Geschichte vom Tatzelwurm früher erschienen, leicht zu finden wäre. Leider war es nicht möglich, die Bilder hier anzubringen, und der Verfasser hatte daher nur die bange Wahl, entweder alle die Stellen der Schilderung, welche sich auf jene beziehen, wegzulassen, oder den Text ohne die Illustrationen zu geben. Nach einiger Überlegung hat er sich für letzteres entschieden, da außerdem der Zusammenhang zu viel gelitten hätte. Er bittet daher um Entschuldigung, wenn er den Leser, der auch die künstlerischen Beigaben betrachten mochte, auf die angegebene Nummer der Illustrierten Zeitung verweist.

Nun wirft sich aber die große Frage auf, ob wir auch die Namen der Dargestellten nennen und dadurch den Zelebritäten den Tribut unserer Anerkennung darbringen, den minder Bekannten vielleicht die Pforte der Nachwelt öffnen, und für sie den ersten Stein zu einem schriftlichen Denkmal legen sollen, quod non imber edax, non aquilo impotens possit diruere — — —oder ob es vorsichtiger wäre, dies nicht zu tun. Es zu unterlassen möchte vielleicht der Neid der gewöhnlichen Menschen raten, welche ja immer noch die Bedeutung des Mitlebenden gern heruntersetzen, weil sie damit die eigene zu heben gedenken; es zu tun aber empfiehlt die Pflicht des Geschichtsschreibers und die Aufgabe des Erklärers, welche aus bloßer Furcht vor den Lesern ihren ehernen Griffel nicht zu ruhmloser Untätigkeit verurteilen dürfen.

Die erste Zelebrität, die sich auf dem Bilde dem Beschauer darstellt, ist der Jubelgreis selbst, unser Simon Schweinsteiger von und zu Schweinsteig, welcher das Hütlein gemütlich lüftet und den Arm zum Handschlage bietet.

Die graue Joppe des Gebirges umhüllt seinen kräftigen Oberleib, die ledernen Kniehosen bedecken seine weidlichen Schenkel und die weißen faconierten Beinhöslein legen sich um seine ansehnlichen Waden. Ein neugewaschenes, blütenweißes Hemd hatte er an diesem Tage auch über den Leib gezogen, andeutend, wie hoch er die ihm zugedachte Ehre zu schätzen wisse. Die Züge drücken eine glückliche Mischung von Freude und Überraschung aus.

Durch das viele Reden und die angenehme Beschreibung ist aber der Leser mit dem Löwen des Tages vielleicht im Geiste schon ganz befreundet geworden und wünscht sein Konterfei etwa gar noch in größerer Deutlichkeit vor sich zu sehen, um es seiner Erinnerung beschauend einzuprägen. Auch dieser Wunsch wurde vorausgeahnt und nicht ungern reihen wir den oberbayerischen und Münchener Zelebritäten, deren interessante Häupter die Illustrierte Zeitung bisher schon der Welt vermittelte, auch das Bild des Schweinsteigers an. Es ist keineswegs unbedeutend, ja es liegt vielmehr eine ganze Geschichte darin, die freilich an trüben Begebenheiten reicher ist als an heitern. An jenem Tage, am Feste Maria Himmelfahrt, als er alle seine Freunde um sich versammelt sah, glänzten diese Züge allerdings wie ein goldener Spiegel, in den die Frühlingssonne scheint, allein der Künstler glaubte, die realistische Wahrheit, die unsere Zeit ja immer predigt, zu verletzen, wenn er sich an jene Festtagsmiene hielte, und stieg später eigens hinauf in die reinen Lüfte, um ihn in seiner Werktagsphysiognomie zu belauschen. Und diese hat er denn auch mit meisterhaften Strichen wiedergegeben.

Das sinnige Auge blickt bangend und hoffend in die Zukunft. Deswegen schaut es bergabwärts, denn diese Zukunft liegt im Tale, im Schoße des Gemeindevorstehers, des Bezirksamts, der königlichen Regierung von Oberbayern. Die Augenbrauen zeigen sich etwas widerspenstig aufgeborstet, als erwarteten sie stündlich eine unangenehme Überraschung. Unser Simon versichert, es habe schon einmal eine Zeit gegeben, wo sie sich nach einem Sturme wieder sanft zur Ruhe gelegt, wie bei sonstigen Menschen, aber seit der Geschichte mit dem Jörgel seien sie ihm steif geblieben oder, wie er sich ausdrückt, petrifiziert [versteinert]. Der sichtbare Nasenflügel ist, wie beim Apoll von Belvedere etwas in die Höhe gezogen — „in eye and nostril beautiful disdain“, sagt Byron von dem schönen Gotte, und wenn der Schweinsteiger in diesem Stücke mit ihm Ähnlichkeit zeigt, so ist dies auch nicht ohne tiefere Ursache. Er erzählt nämlich, wenn er oft halbe Tage lang in den Kanzleien gestanden, so habe er, um sich die Langeweile zu vertreiben, bald den einen Nasenflügel, bald den andern hinaufgezogen. Er will nicht behaupten, dass dies viel geholfen, aber es habe doch manche lange Stunde abgekürzt und ihm das Vertrauen in die Zukunft wiedergegeben. Später aber hätten die Flügel die ihnen liebgewordene Lage nicht mehr verändern wollen und so trage er sie denn jetzt noch immer etwas geschwungen und zwar in anmutigem Bogen — ein neuer Beweis für den oft bestrittenen Satz, dass die Regierungsgrundsätze Einfluß auf die Gesichtszüge der Untertanen üben, wie ich denn bekanntlich auch die Schönheit der Tiroler Mädchen lediglich von den Tiroler Freiheiten ableite, worüber ich schon mehreres geschrieben.

Der Mund des Schweinsteigers erinnert unwillkürlich an den melancholischen Heraklit, den Philosophen von Ephesus, welcher sich schon fünfhundert Jahre vor Christus ins Gebirge, vielleicht auch in eine solche Aschau zurückzog. Da ich jetzt gerade nicht in der Lage bin, die Quellenstudien über diesen Genius gründlicher zu betreiben, so entnehme ich aus dem Konversationslexikon (10. Auflage, VII. Band, S. 623) die dankenswerthe Notiz, dass jener Weltweise in seiner Bergeinsamkeit allen Dingen und so auch der Regierung von Ephesus jedes Sein — nämlich in wissenschaftlicher Geltung — absprach und an dessen Stelle den Begriff eines ewig grund- und zwecklosen Werdens setzte, wodurch er der Urheber einer spekulativen Grundansicht wurde, die sich bis auf die neueste Zeit in mannigfach wechselnden Gestalten und nicht ohne Ursache immer wieder geltend gemacht hat. So liegt auch auf den Lippen unseres Freundes ein gewisser philosophischer Zweifel an der Menschheit und an der Vernünftigkeit ihres Beginnens. Sie schwellen nicht und zeigen keine Spur von Üppigkeit — deuten eher auf Entsagung und auf manchen Kampf mit dem aufgeregten Innern. Die Farbe dieser Lippen hat etwas blasses, sterbendes (bleu-mourant, sagt der Franzose) und sie rührt vielleicht daher, dass so viele bittere Randglossen darauf erstorben, die der Dulder aus schuldiger Achtung vor der Obrigkeit oft unterdrückt und aus Liebe zur Sache mit guten Worten ausgewechselt hat. Etliche alte historische Runzeln und einige werktägliche Bartstoppeln von gestern her vollenden das Konterfei des zähen, vielgeprüften Gesellen.

Doch kehren wir wieder zu unserm größeren Zeitbilde zurück. Neben dem Hausherrn steht seine getreue, wackere Ehehälfte, Frau Maria Schweinsteiger und hinter ihm ein hübsches Paar seiner Kinder, ein blondlockiges Mädchen und ein fröhlicher Junge, der seiner Begeisterung durch einen knallenden Schuß aus der angestammten Büchse Luft macht, alle drei voll Freude, dass der Vater nach so manchen sorgenschweren Wochen auch wieder einen heitern Tag erlebt.

Der behäbige Wanderer, welcher dem erfreuten Wirte den Handschlag reicht, scheint eine Person zu sein, über welche wir gute Gründe haben, nicht zu redselig zu werden. Er gilt unter den Bekannten als ein harmloser Mann, der mit leidlichem Humor durch das irdische Jammertal zieht, Niemanden im Weg umgeht, stets von allen das Beste denkt, aber dennoch froh ist, wenn er hin und wieder auslaufen kann ins Gebirge, um dort die Welt und alle ihre Albernheiten und alle ihre Tücken zu vergessen. Der Künstler wollte ihm wohl nur deswegen die Stellung eines Führers einräumen, weil er in der Aschau lange schon gut gelitten, den Gedanken des heutigen Festes zuerst gefaßt und die Gefährten heraufgeleitet hatte. Hinter ihm dagegen richtet sich Dr. Volk von Augsburg empor, in der Zeichnung etwas zu schmächtig angelegt und in der Wirklichkeit viel gedrungener, mit seinen klugen zukunftssicheren Augen, weit bekannt im deutschen Vaterlande, zwar ein mächtiger Redner vor dem Landtage, aber auch ein gemütlicher Toastirer über humpenvollen Tischen. Er sagte wohl öfter schon zu seinen Freunden, so würdig die Kämpfe in der Kammer und so ruhmreich für die Vorfechter, so anregend die Tage zu Nürnberg, zu Frankfurt und wo er sonst als Patriot gesprochen und gehandelt — oft sei ihm doch in der lauten Welt der stille Friede auf der Alm zu Aschau eingefallen, oft habe er sich im heißen Gewühl politischer Feste nach den kühlen Schalten auf dieser Höhe gesehnt. — In der jugendlichen Gestalt, welche die bekränzte und bewimpelte Standarte trägt, wollen manche unsern Freund, Herrn Victor Scheffel, erkennen, eine Annahme, welcher die Gesichtszüge und die Haltung der Figur nicht geradezu widersprechen. Jedenfalls war er mit im Zuge, immer stillvergnügt und sich im Herzen des schönen Tages mächtig freuend. Er war von Pienzenau herübergekommen, wo er in dem niedlichen Alpenhäuschen sitzt, das sich Dr. Ernst Förster in dem freundlichen Miesbacher Hügellande erbaut hat, um da zuweilen von seinen kunsthistorischen Forschungen ausruhen zu können. Dort genießt er einer herrlichen Ansicht der bayerischen Alpen und lebt jetzt in der grünen Einsamkeit die schönen Sommerwochen dahin, mit den alten Liedern deutscher Nation beschäftigt, selbst auch neue Lieder im Geist der alten dichtend, wie das märchenhafte Buch Frau Aventiure anzeigt. — Die andere Physiognomie, welche sich den leichten Wanderschweiß von der Stirne wischt, läßt für mancherlei Vermutungen Spielraum. Nicht mit Unrecht könnte man behaupten, dass der Künstler sich damit selbst gemeint, jedoch um ein gewisses Inkognito zu bewahren, einer zu großen Ähnlichkeit aus dem Wege gegangen sei, — Der bärtige Mann mit dem edlen Gesichtsausdruck, der am Rande des Bildes steht, mag für den königlich griechischen Baurat Ludwig Lange gelten, den gekrönten Architekten, welcher bekanntlich einer der sinnreichsten deutschen Baumeister ist und durch seine heitere Laune jede Gesellschaft erquickt. Hinter ihm, doch ganz verdeckt, steht wahrscheinlich sein jüngst von Paris zurückgekommener Sohn, ebenfalls Architekt, jung und talentvoll. — Das nächste Haupt zu seiner Seite darf vielleicht einem Schweizer, Herrn Leuthold aus Zürich, zugeteilt werden, welcher in deutschen Angelegenheiten gründlich bewandert durch seine kecken aber geistreichen Urteile über unsere Zustände Vielen zu imponieren weiß. — Dieses also ist es ungefähr, was der Betrachter des Bildes sieht — was er aber nicht sieht, das sind noch leicht ein Dutzend anderer Männer, welche der Raum des Holzschnitts nicht in sich faßte, und die man sich als hinter den Genannten nachdrängend denken muss — hoffnungsvoll Strebende oder auch schon fertige, bekannte Männer von gutem Namen auf dem politischen, dem literarischen, dem künstlerischen Felde, so Herr Bürgermeister Fischer von Augsburg, der sich in jungen Jahren schon das Vertrauen einer der größten deutschen Städte erworben; Herr Magistratsrat Weishaupt von München, bekannt durch seine Reisen nach Frankreich und England; Architekt Gottgetreu, vieler schöner Bauten heiterer Schöpfer; Fabrikant Allfeld, ein gern gehörter Volksredner; Privatdozent Dr. Herz, aus dem poetischen Schwabenlande, stark in altfranzösischer Literatur und angesehener Liebesdichter; Buchdrucker Straub, früher für Ausbreitung deutscher Bildung in Rußland mächtig wirkend; Chemiker Seekamp aus dem fernen Kehdinger Lande, sehr empfänglich für die Schönheiten süddeutscher Berge; auch einige Abgeordnete von dem Landtage, welche ihres Völker Spuren gefolgt, kurz eine Sammlung fröhlicher Gäste aus Süd und Nord, über welche wir sehr gerne mehr biographische Winke geben möchten, wenn es uns nicht von dem Hauptzweck unserer Schilderung zu weit abführen würde.

Aber die Dame? höre ich fragen, die Dame mit dem lächelnden Munde, mit den großen Augen, mit den wallenden Locken, mit dem Federhute und der schlanken Taille? Wer ist die Dame? Die Frage liegt sehr nahe, doch ist darüber nicht leicht eine Auskunft zu geben. Der Schweinsteiger hat nämlich unter dem schönen Geschlechte gar manche Freundin, die ihm auch in seinen Nöten ihre Theilnahme bewahrt, und es war daher kaum der Ruf ergangen, dass aus der Stadt ein Festzug zu erwarten sei, als auch die Huldinnen der Nachbarschaft und etliche Damen von der Sommerfrische beschlossen, das Gebirge zu ersteigen und der Verklärung ihres Freundes beizuwohnen. Und so kamen sie holdselig heran, in gehobener Stimmung und verliehen dem Tage durch ihre Anwesenheit noch einen eigenen romantischen Schimmer. Was aber der Name und der Stand des schlanken Wesens, welches der Künstler mit so viel Liebe hingehaucht, das soll nicht näher zu bezeichnen sein, weil, wie er behauptet, die ganze Gestalt nur symbolisch gemeint sei.

Wie aber unter dem Monde nichts vollkommenes, so ist auch das erklärte Bild, welches Herr August Vischer entworfen und Herr Albert Hofmann mit großer Kunst auf Holz gezeichnet hat, nicht ganz frei von jeder Menschlichkeit. In große Verlegenheit setzt mich namentlich das Untier auf der Standarte, welche Herr Dr. Scheffel trägt, da dieses jetzt, ohne alle Überraschung abzuschneiden, noch gar nicht besprochen werden darf, auch nicht auf einer Standarte herangetragen wurde, sondern vielmehr — doch darüber später. Auch mit dem Bauwerk, das der Künstler zur Linken aufgestellt, kann ich nicht recht zufrieden sein, da dasselbe ziemlich angejahrt, bröckelig und im Holzwerk wurmstichig zu sein scheint. Es ist mir, als ob er bei seiner romantischen Richtung mit Umgehung der Wahrheit die alte Almenhütte hierher gesetzt, die alte „unsittliche“ Almenhütte, in welcher jetzt der Jörgel wirtet, denn das neue Haus des Schweinsteigers ist zweigädig, frisch und blank, hat im ersten Stock eine Altane und spiegelnde reinliche Fenster, war an jenem Tage nicht allein mit mehreren bayerischen Flaggen, sondern auch mit Blumen und Kränzen verziert, und machte einen wahrhaft gewinnenden stattlichen Eindruck, was von der Hütte, welche uns hier der Künstler vorführt, nicht jeder behaupten wird.

Ein gutes Zeichen ist es gleichwohl und spricht sehr für das Bild, dass wir uns jetzt so ganz hinein verloren haben. Es ist höchste Zeit, dass wir wieder zur Gesellschaft zurückkehren, welche so eben, etwa um zehn Uhr morgens, wie wir schon beschrieben, vor dem Häuschen angekommen und der weiteren Dinge gewärtig war.

Ein schöner Anblick war es nun, als jetzt die Befriedigung aus jedem Antlitz lachte und viel Ehre für die Unternehmer, dass ihnen alle Gefährten die größte Anerkennung aussprachen über den lieblichen Ort, an den sie geführt worden waren. Zunächst dürfen wir nicht verschweigen, dass der Schweinsteiger und seine Söhne für das Volk aus der Stadt lange Tische aufgeschlagen hatten, cm denen sich diese gütlich tun sollten. Über den Tischen säuselten die Buchen, in welchen mancher wackere Fink sein Stimmchen erschallen ließ. Gleich hinter den Tischen gings rasch ins wüste Felsengestein hinein, welches aber mit kurzem Gras und weichem Moos gar freundlich überwachsen und von alten dichtbelaubten Bäumen dermaßen beschattet war, dass kein Sonnenstrahl hindurchdringen konnte. Dieses grüne dämmernde Waldesdunkel, so unmittelbar an der sonnigen Helle, in welcher das Alpenhaus erglänzte, machte einen märchenhaften Eindruck und reizte den Gedanken zu wundersamen Ahnungen.

Nachdem sie nun einen ersten prüfenden Blick auf die nächste Umgebung geworfen, stellten sich die heiteren Gäste alle zusammen und schauten auf den Weg zurück, den sie eben nicht ohne edeln Schweiß überwunden hatten, schauten auch über alle die dunkeln Wälder gegen das Tal hinaus, welches aber in seiner Tiefe unsichtbar begraben lag, und auf die Gebirge, die wilden Kaiser, die jenseits des Inns hintereinander aufstiegen und einander überragten, weit und mächtig hinein ins Land, zuerst dunkelblau, dann immer lichter, bis die fernsten Gipfel fast in der Luft verschwammen. Das, sagten die Städter, sei wunderschön und gar nicht zu malen; ihre Sehnsucht nach einem unbekannten Etwas regte sich in diesem Augenblicke mächtiger als je und es sei nur Schade, bemerkten die anwesenden Poeten, dass sie jetzt leider von der Geselligkeit zu sehr in Anspruch genommen seien, da sie sonst ihren seltsamen Empfindungen gern in unerhörten Gedichten Worte verleihen würden.

Manchen bedrängte auch bereits der Drang, auf einsamen Pfaden seiner Schwärmerei nachzuhängen, mancher schien eine Buche zu suchen, um seine und eines geliebten andern Wesens Anfangsbuchstaben einzugraben, aber, um jede Zersplitterung zu verhüten und überhaupt die Romantik nicht zu sehr über Hand nehmen zu lassen, wurden sämtliche Genossen ersucht, sich mit einander an den nahen Wasserfall zu begeben und dann jenseits duftige Waldbeeren zu suchen, sich überhaupt in erlaubter Weise die Zeit vertreiben, denn das Komitee habe noch allerlei zu tun, was zur Zeit nicht allen offenkundig werden dürfe, da es eine Überraschung bezwecke.

Gehorsam den milden Worten, sammelten sich hierauf die Herren und die Damen, soweit sie nicht zu den Auserwählten gehörten, und wandelten in sinnigen Gesprächen dem Wasserfalle zu. Dieser, der schon lange springt, ohne auch nur einen Namen zu haben, ist deswegen nicht weniger schön. Zuerst gelangt der Pilger an eine Brücke — in der Schweiz würde sie Teufelsbrücke heißen — und ist da plötzlich den mächtigsten Eindrücken ausgesetzt. Auf einer Seite sieht er in einen tiefen Schlund hinunter, der fast rund und mit rötlich glänzendem Gesteine austapeziert ist. Diesem Schlunde eilt ein Alpenbach zu, der oben aus dem Walde herausblaust, dann, sobald er die senkrechte Felsenwand erreicht, einen krinolinenartigen, aber ganz durchsichtigen Wulst bildet, hierauf schräg an der nächsten Klippe aufspringt und von da als funkelnder Schleier in die Tiefe fällt. Wenn, die liebe Sonne darein scheint, so bildet sich der schönste Regenbogen. Kühl weht die Luft von unten herauf; wer aber hinunterschaut über das niedere Brückengeländer in die schauerliche Tiefe, der sieht fast überrascht, wie sich unten in der Schale die Wässerlein gleichwohl wieder zusammengefunden haben und friedlich ihre kleinen grünen Wellen schlagen. Geht der Beschauer dagegen auf die andere Seite der Brücke, so gewahrt er, wie der Lauf des Gewässers, sobald es jene Schale verlassen hat, zwar noch drei oder vier sichtbare Stockwerke bildet, dann aber sich plötzlich dem Auge entzieht. Fernes Rauschen jedoch und verdächtige Wölkchen aus Wasserstaub, die tief unten aufsteigen, belehren uns, dass der Krinolinenfall nur der Anfang einer Reihe von wilden ungekünstelten Kaskaden ist, welche weit hinunter nacheinander ihre Sprünge machen. Ihnen nachzugehen, hat vielleicht noch Niemand gewagt, ist auch zur Zeit kaum rätlich, da das Felsenbett, in dem sie ihr Spiel betreiben, einmal zu wild und ganz unzugänglich ist. Aber der Schweinsteiger hat schon daran gedacht, und sei es auch um ein schön Stück Geld, einen Geländersteg auf und ab zu führen, damit diese Schönheiten nicht länger unbeschaut verbleiben. Auch in die obere Grotte, die wir zuerst beschrieben, wollte er eine Treppe hinablenken, damit heroische Liebhaber und Liebhaberinnen des nassen Elements sich unter den Wasserfall stellen und ein Sturzbad genießen könnten. In den Sommermonaten, meinte er, würde dann ein bedeutender Wasser- und Wunderdoktor hier seinen Sitz aufschlagen, über die Reize seiner Najade ein verführerisches Büchlein drucken lassen und wenigstens die ganze germanische Welt mit dem Rufe seiner Euren erfüllen.

Fast feierlich angeweht durch dieses Naturgebilde begab sich nun die Gesellschaft in den lichten Alpenwald und verlor sich in den Büschen und unter den Buchen. Dort fand sie reichliche Erd- und auch große Polster von Heidelbeeren, welche man hier zu Lande nach dem milden Dufte, der ihnen eigenthümlich, Taubeeren, oder nach anderer Erklärung von ihrem sanften Ausdruck Taubenbeeren nennt. Auch viele schöne Blumen zeigten sich da in der Wildnis, wurden mit Sorgfalt gepflückt und dann den Damen mit sittigem Reigen verehrt.

Mittlerweile gingen die wenigen Eingeweihten, welche zurückgeblieben waren, in das Hinterstübchen und fanden da eine große metallene Platte, auf welche etwas schönes gemalt war. Dieses Bild in dichter Verhüllung hatte ein rüstiger Sohn der Alpen schon von Audorf mit heraufgetragen, doch war er den anderen weit vorausgegangen und niemand wußte, was er trug. Jetzt aber, da die Stunde der Verherrlichung nahe gekommen, nahmen die Auserwählten die Hülle herunter, brachten das Bild an das Tageslicht, ergriffen zwei Leitern und hoben jenes mit großem Geschick hinauf bis über die Fenster des Erdgeschosses. In dieser Gegend, die ihnen gut gelegen schien, befestigten sie dasselbe und legten duftende Blumenkränze herum. Und damit vor der rechten Zeit kein unberechtigter Blick auf das Gemälde zu fallen vermöge, wurde es mit einem großen Plaid sorgfältig zugedeckt. Alle diese Verrichtungen gingen sehr gut von Statten und die Schweinsteigerideen leisteten mit rühmlichem Eifer die besten Dienste dabei.

Nach jenem Waldvergnügen sammelten sich nun alle die Gefährten und Gefährtinnen wieder an den gastlichen Tischen, welche aber, wie sich jetzt zeigte, für die angewachsene Menge nicht ausreichten. Dieser Umstand, weit entfernt, die Stimmung zu drücken, erhöhte vielmehr die Lust unserer schönen Seelen, da er die malerische Fassung der Gesamtheit wesentlich erhöhte. Während sich nämlich die reiferen Männer an den Tischen niederließen, stiegen die jüngeren in das schon erwähnte dämmerige Felsenwirrsal unter dem Buchenschatten empor und setzten sich da nach ihrem Behagen auf die urweltlichen Trümmer in das weiche Moos. So gewannen sie einen freundlichen Anblick der unter ihnen tafelnden Gesellschaft, während diese ihre Blicke oft hinaufwarf und sich an den seltsam gruppierten Gesellen ergötzte, welche sie, ohne Widerspruch zu finden, in ihrem ahnungsvollen Halbdunkel gern mit Waldgöttern, Faunen, Berggeistern und anderen ähnlichen Geschöpfen aus der Sagenwelt verglich.

Also begann das fröhliche Mahl, einfach zwar, wie es die Meereshöhe mit sich brachte, doch allen genügend, auch reich gewürzt durch anregendes Gespräch und alpenhafte Einfälle. Bei der großen Hitze, die der Mittag herbeigeführt, fanden die flüssigen Erfrischungen allerdings mehr Beachtung, als die trockenen, als Käse, Schwartenmagen, Schinken und was die biedere Hausfrau sonst noch auftischte. Einige Forellen wurden von kundigen Händen aus dem Alpenbache geholt und bildeten unstreitig die Delicien des Mahles.

Der Triumph über alle flüssigen Erfrischungen schien aber am Anfang gleichwohl den klaren Spenden der Bergnajade zu gebühren, was denen, welche die Gesellschaft näher kennen, vielleicht auffallend erscheinen möchte, aber es ist schon oft gesagt und kann nicht oft genug wiederholt werden, dass an heißen Tagen nach langem Steigen kein Getränke so tief erquickt, als das kristallhelle perlende Alpenwasser. Als der erste, brennendste Durst gelöscht, wurde den Gästen allerdings und wie sich von selbst versteht, noch anderweitige Labung kredenzt. Das Nationalgetränke war aus dem Felsenkeller von Brannenburg heraufgekommen und fand selbst den Beifall der Sachverständigen — eine Bemerkung, welche hoffentlich in dem nahe gelegenen Fischbach nicht verletzen wird. Auch der Wein, den besten Lagern der Hauptstadt entnommen, erwarb sich große Anerkennung und trug, wie immer, zur Erhöhung der Fröhlichkeit nicht wenig bei. Edler Wein ist auch auf dem Gebirge sehr angenehm zu trinken und gibt dem Geiste oft erst den rechten Schwung und die Gewalt, „die Freiheit der Berge“ poetisch zu würdigen und das hohe Glück, in den reinen Lüften dem Hauche der Grüfte entkommen zu sein.

So dauerte es denn nicht lange, bis die Sprüche lauter wurden und die Waldteufel und Berggeister von oben herunter, ihre Gläser erhebend, verschiedenen Muthwillen an den Tag zu legen begannen. Die Besonnenen und Weisen an den unteren Tischen kamen dieser Fröhlichkeit bescheidendlich entgegen und erlaubten sich auch ihrerseits einige heitere Erwiderungen an die Männer der grünen Dunkelheit zu richten, so dass mitunter ein großes Gelächter entstand. Um diese Zeit trat auch Herr Allfeld auf und sang mit seiner wohlklingenden und mächtigen Bassstimme das Festlied, welches Herr Viktor Scheffel für die heutige Feier verfaßt hatte — ein Gedicht voll heitern Humors und mit einem Refrain ausgestattet, in welchen alle Kehlen, die des starken sowohl als die des zarten Geschlechtes lustig einstimmten. Mitten unter diesen Tafelfreuden wurde aber ein Drang immer mächtiger und sprach sich immer energischer aus, nämlich der Drang, zu wissen, was uns denn eigentlich hierher geführt. Alle jene vielen, die nicht eingeweiht waren, deuteten immer und immer wieder auf den geheimnisvollen, mit Blumen umgürteten Plaid, der das Rätsel des Tages zu verhüllen die Ehre hatte. Es widerspreche den Gesetzen der Höflichkeit, bemerkte Herr Leuthold aus Zürich, eine Gesellschaft, welche ans so vielen gebildeten Herren und Damen bestehe, noch länger über ihren heutigen Zweck im Unklaren zu lassen. Andere schlossen sich nicht minder beredt diesem Ausspruche an, und so schien denn die Zeit gekommen, einem immerhin erfreulichen Wissensdurst! Rechnung zu tragen, und es erhob sich ein bekannter Naturforscher, welcher mit lauter Stimme ankündigte, dass er die große Frage in befriedigender Weise zu lösen wisse. Er bat die Gesellschaft, ihm vor das verschleierte Bild zu folgen, und nachdem sich alle, die von den Tischen sowohl, als die Wesen im Walde, erhoben und sich zu seinen Seiten dem rätselhaften Plaid gegenüber aufgestellt hatten, erklärte er zuvörderst, dass er über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Tatzelwürmer sprechen werde und begann dann wie folgt:

„Deutsche Männer und Frauen, die ihr hier am festlichen Sommertage zusammengekommen seid, wollet mir nicht zürnen, wenn ich euch sogar auf dieser Almen grüner Flur mit einem wissenschaftlichen Vortrage verfolge, denn euere Neugier ruft von selbst nach solcher Offenbarung! Es ist hier an der Vorderseite dieses gastlichen Hauses, dieweil ihr Blumen pflücken ginget, eine Tafel angebracht worden, welche uns gleichwohl noch verborgen ist. Geheimnisvoll breitet sich darüber der Plaid der anmutigen Frau Revierförsterin, lieblich umzieht das verschleierte Bild ein Kranz von duftenden Blumen, von Blumen, wie sie nur die deutschen Alpen bieten können. Fragt ihr nun mit beredten Blicken, was es denn sei, das hier euerer warte, so ist es meine ehrenvolle Aufgabe, euch gehörig auf das Kommende vorzubereiten.

Obwohl ihr, meine Herren und Damen, der Zoologie vielleicht wie wenige zugetan seid, so habt ihr doch wahrscheinlich jene Spezies, die wir heute feiern, wenn ihr sie etwa gemalt vor Augen hattet, lediglich mit dem ungläubigen Lächeln betrachtet, welches in unserer materialistischen Zeit der Poesie gegenüber nur zu herkömmlich ist. Hat ihr doch auch der große Linnäus keinen Namen zu geben gewußt und sucht ihr sie selbst in der Fauna boica vergeblich!

Wie dem immer auch sei, der Drache — und nur mit diesem haben wir uns heute zu beschäftigen — der Drache ist einer der ältesten Bewohner der Erde, denn schon lange ehe jener bekannte alte Adam auf einer blumigen Hochebene Asiens das Licht der Welt erblickte, um uns durch seinen Äpfelbiss auf ewig bresthaft zu machen, schon lange vorher lebte jenes mächtige und vornehme Geschlecht der Echsen, die sich gegenseitig Saurier nannten. Sie waren leider über ganz Europa verbreitet und deshalb findet der überraschte Forscher die versteinerten Leiber derselben noch heutigen Tages, zumal im fränkischen Gebirge und im Jurakalk bei Solothurn. Wie schon vor manchem Jahrhundert Bruder Nikodemus, der Mönch von Banz, das riesige Gerippe eines Meerdrachen aufgefunden und welchen Grausen es erregt, das hat uns Frau Aventiure neuerlich erst in meisterhafter Weise geschildert. Darum wird es, wie unser Herr Joseph Viktor Scheffel (hier wendete sich der Redner gegen den Genannten) sehr schön aussagt, allmählich eine Notwendigkeit, dass sich unsere Gelehrten eine Epoche vergegenwärtigen, wo die ersten Menschen mit den letzten Drachen um die wohnlichen Statten des Gebirges den Kampf der Zivilisation begannen. Das einfältige Volk mit seiner unvertilgbaren Sage von dem Lindwurm, sagt er, ist wieder einmal wissenschaftlicher als unsere zunftmäßigen Historiker, poetischer gewesen, als unsere gewöhnlichen Hausdichter, denn alle Drachensage ist nichts anderes als der Spiritus, in dem das Gewürm, das einmal unter uns gelebt, ist konserviert worden. Und in der Tat, wenn sich die Formen des letzten Drachen nicht tief in das Seelenleben der Urmenschen eingeprägt hätten, wie sollte es denn zu erklären sein, dass die Kunst seine Gestalt von jeher richtig und gerade so zu treffen wußte, wie jetzt die Saurier wieder versteinert aus dem Jurakalk hervorgehen?

Lassen Sie uns aber in dieser Frage nicht allzu wissenschaftlich sein! Lassen Sie uns den Spuren des poetischen Getiers auch noch in spätere Zeiten folgen! Es ist zwar schon lange her, meine Herren und Damen, seit Apollo den großen Drachen Python bei Delphi, seit Perseus das namenlose Ungeheuer am Meeresstrand erlegte und so in den Besitz der heißgeliebten Andromeda gelangte; aber die Erinnerung ist Dank der Kunst und der Wissenschaft noch lebendig in uns allen. Ist nicht auch St. Georg, der christliche Perseus, durch seinen Sieg über einen spätern Lindwurm berühmt und dadurch einer der angesehensten Heiligen der Kirche geworden? An seinem Lindwurm zweifeln könnte fast irreligiös erscheinen. Selbst Siegfried, unser Nationalheld, hat zu seiner Zeit einen Drachen erschlagen. Der Riese Heimo, der im nahe gelegenen Tirol das Kloster Willen gründete, und Struthan von Winkelried taten desgleichen, und ein anderes schönes Wagstück, welches unser teurer Schiller besang, hat sich ja einst auf der Insel Rhodos begeben. Dass in den Zeiten der Kreuzzüge auch in Bayern noch Drachen gelebt, mögen Sie vielleicht in nicht langer Zeit aus einer Rittergeschichte entnehmen, welche Herr Max Haushofer soeben für den neu erscheinenden Heimgarten zu schreiben bemüht ist und auf welche das Publikum ungemein gespannt sein darf. Dort werden Sie lesen, dass ungefähr um das zwölfte Jahrhundert in der Gegend von Markwardstein ein sehr bedeutender Kampf mit einem Drachen stattfand, wobei ein neuer Perseus eine neue Andromeda erlöste.

Seine, nämlich des Drachen Haut, sei lange Zeit noch im Schlosse aufbewahrt worden, dann aber in einem Brand zu Grunde gegangen.

Aber wie die Riesen der Vorwelt keine ächten Nachkommen hinterlassen haben, vielmehr der Mensch jetzt gleichwohl sich mit einer wohlgestalten Kleinheit begnügen muss, so sind auch die großen Bestien der Vergangenheit nur mehr in kleineren abgeschwächten Arten auf unsere Zeit gekommen. Die Drachen haben sich zwar erhalten, aber aus dem fürchterlichen, feuerspeienden Ungetüm ist ein mehr handsames und zeitgemäßes Tier, drei oder vier Fuß lang, geworden, welches sich noch zuweilen auf unseren Höhen zeigt. Jetzt heißt es auch nicht mehr Drache, sondern hat den Namen Tatzelwurm angenommen, von den kleinen kurzen Tatzen, auf denen es sich bewegt. Sie wissen vielleicht, meine Herren, aus ihrer Leetüre, dass noch im vorigen Jahrhundert ein Bauernsohn bei Unken von zwei Tatzelwürmern verfolgt wurde und dabei seinen Tod fand. Sie wissen vielleicht ebendaher, dass in Seehaus bei Ruhpolding ein Forstwart lebt, der vor zehn Jahren ein solches Tier in der Urschelau gesehen hat. Man kann sohin kaum behaupten, dass dasselbe nicht existiere, weil es nie vor unsere Augen gekommen, denn es gibt viele Dinge, welche wir nie gesehen haben und die dennoch existieren. Auch wäre die zähe Ausdauer, mit der das Volk in den Alpen vom Sömmering bis zum Genfersee an seinem Glauben festhält, ganz unerklärlich, wenn er nicht zuweilen durch leibhaftige Erscheinungen unterstützt würde.

Soviel von der Vergangenheit und Gegenwart der Tatzelwürmer; was die Zukunft derselben betrifft, so möchte sie immerhin eine heitere zu nennen sein. Wenn das Leben namentlich für Tiere, die an dessen Fortdauer nicht glauben, überhaupt ein Glück ist, so dürften sich die Tatzelwürmer desselben wohl auch in Zukunft noch erfreuen. Denn bis jetzt haben ihnen weder die höhere Ausbildung des deutschen Schützenwesens, noch die neuerfundenen Präzisionswaffen einen Schaden getan. Sie leben nach Weise der Väter in ihren unterirdischen Klüften, pflanzen sich dort vielleicht in Behaglichkeit fort und achten das Geschlecht der Menschen, ohne es jedoch zu fürchten. Möge gleichwohl die Vorsehung einerseits ihnen gnädig sein, so dass sie nicht ganz und gar aussterben, vielmehr durch zeitweiliges Erscheinen die Poesie des Drachengedankens lebendig erhalten, andererseits aber ihr Treiben der Art überwachen, dass kein Bauernsohn mehr an ihrem giftigen Atem zu Grunde gehen kann.

Jedenfalls gehört ihr Gedächtniß zu den bedeutsamsten Erinnerungen der Alpenwelt, und es ist also wohl wert, gepflegt zu werden. Mit gutem Takte hat daher der edle Schweinsteiger sein neuerbautes schmuckes Häuschen nicht nach Art der Neuerer in Reichenhall und Aibling etwa „Zum Lappländischen Hof“ oder gar „Hotel Schweinsteiger“ benannt, sondern ihm einen andern poetischen Schild, der mit der Umgebung in einem feinen geistigen Zusammenhange steht, zu geben gewünscht. Ihm bot sich bei diesem Trachten auch die deutsche Kunst zur Hülfe an und der großherzoglich badische Hofmaler, Herr August Vischer, hat es nicht unter seiner Würde erachtet, mit einem Schlage dem richtigen Geschmacke unseres Wirtes, der poetischen Überlieferung des Gebirges und sich selbst uneigennützig ein ehrendes Denkmal zu setzen. Zugleich aber soll dieses auch eine Urkunde sein des ewigen Bundes, welchen das ehrengeachtete Geschlecht der Schweinsteigeriden mit der deutschen Kunst geschlossen und den es fürderhin und bis ans Ende der Zeiten durch Reichung ehrenwerter Getränke und anderer Erfrischungen, sowie durch Gewährung freundlicher Herberge dahier zu Aschau zu betätigen versprochen hat. Und deswegen sind wir auch heute am Feste Maria Himmelfahrt, am lieblichsten Tage, den die Almen kennen, auf den sich alle Kräuter freuen, an dem die Blumen am schönsten blühen, heute, wo die ganze Natur dem Menschen am freundlichsten gesinnt ist, hierher gepilgert, und es ist nun der Augenblick gekommen, wo der Schleier fallen und das Bild sich im Glanze dieser herrlichen Sonne zeigen darf. Derselbe Augenblick aber ist es auch, in welchem wir unsere dankbaren Gesinnungen in einem einstimmigen Hoch ausdrücken wollen auf Herrn August Vischer, den geistreichen Schöpfer des feurigen Tatzelwurms!“

Ein einstimmiges Hoch erbrauste bei diesen Worten aus aller Munde, ging schallend durch den Buchenwald und kam widerhallend zurück von den rauhen Wänden des erhabenen Brinnsteins. Zu gleicher Zeit aber fiel der Plaid, die Böllerschüsse ertönten und ein Ruf der Überraschung folgte dem donnernden Hoch. Es stand vor uns das Bild im blitzenden Glanz der Sonne, ein feuerspeiender Lindwurm der besten Art, dämonisch, furchtbar, grausigschön, mit der Inschrift „Zum feurigen Tatzelwurm.“

Wir konnten uns nicht enthalten, dieses Bild als Initiale an den Eingang der eben mitgeteilten Rede zu stellen. Es versinnlicht dem Leser viel deutlicher, als unsere schwachen Worte es vermöchten, die wahre Form und Gestalt dieses merkwürdigen Schildes. Freilich, wer wäre in der Ferne bei aller Phantasie wohl im Stande, sich den gewaltigen Eindruck der so wohl gewählten Farben, den Blitz des Auges, die Glut dieses Atems vorzustellen? Nur einen Fehler hat das Bild, der aber ein großer Vorzug ist: der Künstler ist nämlich nicht auf eine alltägliche Porträtähnlichkeit des jetzt gemeinen Tatzelwurms ausgegangen, sondern geradezu auf das Ideal. Für dieses konnte er aber die Motive nur aus den Zeiten nehmen, da Siegfried und Heimo und Struthan von Winkelried ihren Drachen erschlugen. Und darum finden wir denn eigentlich auch den alten poetischen Drachen hier dargestellt, nicht den spätern Nachkömmling in seiner modernen Verkümmerung, von welchem es ungewiss ist, ob er Feuer speit, aber ganz sicher, dass er keine Flügel mehr trägt.

Der wissenschaftliche Geist, den jener Vortrag geweckt, ließ sich aber so schnell nicht wieder bannen. Bürgermeister, Magistratsräte, Architekten, Buchdrucker, Chemiker, Geschichts-, Natur- und andere Forscher, ja selbst ganz einfache Schriftsteller singen an, sich sehr lebhaft über das Thema zu besprechen. Von vielen wurde bedauert, dass niemand in der Gesellschaft sei, der in der Gegenwart einen Tatzelwurm mit eigenen Augen gesehen; man gab aber die Hoffnung nicht auf, dass sich von jetzt an, namentlich wenn sich die Presse um die Sache annehmen und dadurch die allgemeine Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand hinrichten würde, leichtlich Gelegenheit finden möchte, die Wissenschaft von der Triftigkeit unseres Glaubens zu überzeugen. Manche schienen übrigens zu besorgen, dass die ganze Frage, obwohl nur eine szientifische [wissenschaftliche], wie alles, was jetzt von der Presse berührt wird, den Parteileidenschaften anheimfallen, dass der Glaube an den Tatzelwurm, beziehungsweise die Regierung desselben den Gegensatz zwischen Groß- und Kleindeutschen noch verschärfen und am Ende die eine oder jede der beiden Parteien politisches Kapital daraus machen würde. Da die Deutschen sich gerade über solche Gegenstände, wo Politik und Wissenschaft zusammenfallen, am wenigsten verständigen können, so hätte die Erörterung vielleicht einen ernsteren Charakter angenommen, wenn nicht die Damen mit richtigem Takte lebhaft in die Debatte eingetreten wären, zunächst um zu fragen, ob es denn in der Vorzeit auch weibliche Drachen gegeben habe. Ein junger Naturforscher aus der Gesellschaft, der schon lange eine Lebensgefährtin sucht, ohne jedoch bisher einen würdigen Gegenstand gefunden zu haben, bemerkte hierzu: ihm von seinem Standpunkte aus scheine es eine viel bedeutendere Frage: ob es jetzt noch weibliche Drachen gebe. Die Gesellschaft fühlte schnell und nicht ohne leises Herzklopfen, dass das Gespräch durch dieses kühne Amendement eine soziale Richtung genommen habe. Einige jüngere Ehemänner zogen sich bei der neuen Wendung aus der Unterhaltung zurück, während die unverehelichten Gefährten sie mit den Damen eifrig fortführten und zwar nicht ohne wissenschaftlichen Ernst, der jedoch von heiteren Scherzen öfter unterbrochen wurde. Für die Vorzeit, resümierte man schließlich, werde sich aus naheliegenden Gründen das Vorhandensein von Drächinnen nicht bestreiten lassen, was aber ihr Vorkommen in der Gegenwart betreffe und zwar in des Wortes weitester Bedeutung, so müsse das eine offene Frage bleiben, die der Einzelne in gewisser Beziehung nur von seinem individuellen Standpunkte aus beantworten könne, in unserm Vaterlande aber, wo die edlen deutschen Franen leben, wohl verneinen dürfe. Und so bewegte sich denn die Gesellschaft im lebendigsten, angeregtesten Gespräche dahin, als plötzlich wieder um Ruhe gebeten wurde und ein bisher noch unbekannter Historiker hervortrat, um das frohe Häuflein abermals mit einem wissenschaftlichen Vortrag zu bedenken.

„Wackere Männer und edle Frauen aus aller deutscher Herren Länder!“ begann er, nachdem sich die Herren und die Damen lauschend um ihn versammelt hatten, „fürwahr, es wäre undankbar und unserer Seelengröße nicht würdig, wenn wir die Gastlichkeit dieses Hauses lautlos hinnehmen wollten, ohne seiner Bewohner und ihrer Geschichte ehrend zu gedenken. Vergönnen Sie daher mir, dem Bescheidenen, der seine Freude an manchem Brosamen hat, der von den Tischen der großen Historiker abfällt, vergönnen Sie mir das Vergnügen, Ihnen einiges aus der Vergangenheit der Schweinsteiger mitzuteilen, dieses alten Geschlechtes, dem die neuere Forschung leider noch nicht ganz gerecht worden ist.

Was die Urgeschichte der Schweinsteiger betrifft, so ist ziemlich allgemein angenommen, und die Familientradition bestätigt es, dass sie von dem ersten Menschenpaare abstammen. Später findet man, dass sie zu den arischen Völkern gerechnet wurden, die lange Zeit auf den vorderindischen Almen ein angenehmes Hirtenleben führten. Auf welchen Wegen und Stegen sie allgemach aus dem warmen Morgenlande in diesen fernen und etwas kühlen Westen gekommen, das hat das blöde Auge der Geschichte noch nicht erforscht, und ist auch keine Familientradition darüber erhalten. So viel scheint gewiß, dass das Geschlecht, sobald nur erst der Audorfer Berg erreicht war, das Nomadentum wieder aufgab, und sich wie früher am Hindukusch dem Hirtenleben widmete. Doch darf man sich diese Idylle nicht ohne ihre Gefahren denken. Wilde Eber von vorweltlicher Größe — der Hof zu Schweinsteig soll ihnen seinen Namen verdanken — rannten mordsüchtig durch den Urwald, ungezähmte Auerochsen, nach welchen Aurdorf, jetzt Audorf, benannt worden — machten die Gegend nicht minder unsicher. Außerdem aber muss ich anknüpfend an die Erörterungen des geehrten Vorredners einer längst verschollenen Sage gedenken, der Sage nämlich, dass dort in dem schauerlich-schönen Felsentrichter, in welchen sich der Krinolinenfall ergießt, ein alter Drachenzölibatär sein Unwesen getrieben habe, den Hirten ebenso gefährlich, wie den Herden. Namentlich soll derselbe auch den Wallfahrern aufgelauert haben, welche nach dem heiligen Birkenstein bei dem nahen Fischbachau hinüberpilgerten, nach dem Birkenstein, wo in vorchristlicher Zeit die Bojoaren oder andere Urbewohner jene drei Bojoaren verehrten, welche, wie uns Herr Professor Julius Braun belehrt, nur eine Verflüchtigung der ägyptischen Schicksalsgöttinnen waren. Wenn der Lindwurm damals auf heimlichen Stegen aus der tiefen Felsengrotte dort heraufkam und sich hier auf der Alm in die Sonne legte, um etliche Pilger zu verschlingen, wenn er dann prasselnd in jene märchenhafte Walddämmerung kroch, um sich vornehm zur Verdauung hinzustrecken, und schließlich im Drachenschlummer schnarchte, dass die alten Buchen zitterten, — o tiefpoetisch-romantisch-reaktionäres Bild!

Mit trüben Augen soll der Urschweinsteiger dieses grause Ungetüm betrachtet haben. Mit Kummer fühlte er das Unverträgliche der gegenseitigen Stellung. Der Drache, seinem Beruf nach Menschenfresser, seiner Gesinnung nach ein Aristokrat — er, der Urschweinsteiger, unser Freund, ein Fortschrittsmann (als Kommunisten stigmatisierte ihn der übermütige Saurier), nur nach Friede, Freiheit, Sicherheit des Eigentums trachtend — sie konnten nicht nebeneinander bestehen. Mit dem Wurfspeer und dem Schwerte, mit seiner Söhne sehnigen Armen, mit seiner Rüden fürchterlichem Gebiss begann der Mutige den Kampf und — siegte: „Todt im Blute lag der Drache“, und der Überwinder stellte sich frohen Herzens, umgeben von allen seinen Lieben, dort auf den grünen Wiesenplan und sprach mit ausgespannten Armen die schönen Worte, die wir bei einem spätern Dichter gleichlautend wiederfinden:

Frei ist dem Wanderer nun der Weg,
Der Hirte treibe ins Gefilde,
Froh walle auf dem Felsensteg
Der Pilger zu dem Gnadenbilde,

Man sieht aus diesen Worten, dass die Schweinsteigeriden damals das angestammte Sanskrit bereits aufgegeben hatten und sich schon im besten Hochdeutsch, vielleicht mit etwas oberbayerischem Anfluge oder mit einigen tirolischen Kehllauten auszudrücken wußten.

Die Haut des Drachen wurde zwar noch lange in dem Hofe aufbewahrt, soll aber später ebenfalls in einem Brand zu Grunde gegangen sein. Nach diesem hat das wackere Geschlecht hier lange, lange seinen Kohl gebaut, bis es plötzlich und ohne zu wissen warum, historisch wurde. So häufig in unsern alten Urkunden von Prälaten und Rittern, so selten ist in ihnen von Ackerbauern und Hirten die Rede, aber die Schweinsteiger gehören zu jenen Felsen, auf welche die bayerische Geschichte schon einen frühen Strahl geworfen. Schon im Jahre 1180, gerade als der erste Wittelsbacher das Herzogtum Bayern erhielt, nennt das Saalbuch der Grafen von Falkenstein den Hof zu Swinstic, und da das Geschlecht noch jetzt davon den Namen führt, so ist kein Zweifel, dass es schon zu damaliger Zeit darauf gesessen ist, so zwar, dass es selbst unserm Regentenhause als siebenhundertjähriger Zeitgenosse in Ehrfurcht die Hand bieten darf, und jedenfalls viel früher erscheint, als so manche andere neuere Familie im Grafen- oder Freiherrenstand, welche sich in der unbehaglichen und für die wahre Vornehmheit immer drückenden Lage fühlt, durch Tugenden und Verdienste den matten Schein des jungen Wappenschildes erhöhen zu sollen.

Im Übrigen bleibt die Geschichte des Geschlechts allerdings etwas dunkel, jedoch nur scheinbar. Dass Siboto I, von Schweinsteig in der Hunnenschlacht auf dem Lechfelde gekämpft und an der Spitze der Audorfer Bogenschützen wesentlich zum glücklichen Ausgang des Tages beigetragen, dass Siboto II. von Schweinsteig als Herrand von Falkenstein mit Herzog Welf nach Jerusalem zog, seinen Herrn begleitete und eine wunderschöne Sarazenin, ein Hoffräulein der uns aus Lessing bekannten Sittah, der Schwester Sultan Saladins, als seine Gattin heimbrachte, dass Siboto III. von Schweinsteig mit Herzog Ludwig und seinen Bayern bei Damiate nahezu im Nil ertrunken wäre, und dabei von einem Krokodil in den linken Fuß gebissen wurde, alles dies läßt sich um so eher behaupten, als das Gegenteil nie bewiesen werden konnte. Minder beglaubigt, aber nur um desto wahrscheinlicher ist es, dass die ganze Familie die allgemeine Bestürzung geteilt, als ihr angestammter Patrimonialherr, der letzte Graf von Falkenstein, 1272 im Bad erschlagen worden.

Den Lärm und die Unruhe der nachfolgenden Jahrhunderte wußten die Schweinsteiger klug zu benutzen, indem sie sich unbemerkt in mehrere Linien teilten. Schon früher erscheinen neben den Schweinsteigern von und zu Schweinsteig am Audorfer Berge die nicht minder berühmten Colonen von und zu Schweinsteig an der schwarzen Lacke bei Brannenburg. Und wie es scheint, einem unwiderstehlichen Familieninstinkte nachgebend, teilten sich dann diese wie jene wieder in zwei neue Linien, in die vordern und die hintern Schweinsteiger. Diese Gleichheit der Bezeichnung verschiedener Familien und verschiedener Lokalitäten hat in der oberbayerischen Provinzialgeschichte schon diele Verwirrung verursacht, wie denn in einer neuern Schrift über das bayerische Hochland, deren Verfasser sich in unserer Mitte befindet (hier wendete sich der Redner gegen Herrn Dr. Steub, welcher sanft errötete), die Bildergalerie, die einst ein Bauer auf dem Hinterschweinsteig bei Brannenburg angelegt, nach dem Hinterschweinsteig hier bei Audorf verstellt wird, eine Angabe, welche, obwohl sich der Autor auf des heiligen Augustins Spruch: in dubiis libertas beruft, doch immerhin ein lächerlicher Irrtum bleibt. (Hier brach die ganze Gesellschaft in ein heiteres Gelächter aus, in welches auch der Verfasser des Bayrischen Hochlands einstimmte.)

Wir übergehen, fuhr der Redner fort, die Zeiten der Reformation, des Dreißigjährigen, des Siebenjährigen, der Franzosen-Kriege und kommen in den Tagen unsers gegenwärtigen Schweinsteigers an, der damals als ein Knabe sich auf den Almen herumtummelte, und seines Vaters Rinder hütete. Von Jugend auf den Spielen einer regen Phantasie ergeben, versiel er in seiner Bergeinsamkeit gar früh auf die Gewohnheit, Bücher zu lesen, die bei unsrer alten Bureaukratie, welche selbst nichts darauf hielt, den Landmann leicht unbeliebt machen konnte. Er ging schon früh, wenn auch unbewusst, auf den Spuren der Gebrüder Grimm, sammelte die alten Sagen des Volks von Drachen, Bergmännlein, von versunkenen Schlössern und von dem roten Golde, das in verborgenen Klüften die Zwerge bewahren. Da die gebildete Bauernschaft jetzt von solchen Dingen nichts mehr hören will und da ihm auch ihr Gerede nicht immer behagte, so wurde er im Umgang mit seinen Gemeindegenossen bald ernst und wortkarg und hielt sich lieber an reisende Romantiker, an wandernde Dichter und Forscher, was ihm jene stellenweise sehr verübelten. Indessen wenn er den meisten auch als ein seltsamer Sonderling gilt, den Ruf eines ehrlichen Mannes hat ihm noch niemand streitig gemacht. Für uns Historiker und Poeten ist er aber um so schätzbarer, weil er noch eine der wenigen, jetzt zerfallenden Fundgruben unsres deutschen Sagenschatzes ist.

Im Frühling Anno 48, als sich alle Geister regten, regte sich auch der unseres Simon. Er machte sich zwar wenig Hoffnung, nach Frankfurt gewählt zu werden, aber er wollte doch dem Vaterlande in anderer Weise nützen, mit einem Worte, er wollte hier eine Ladestation für naturliebende Landfahrer errichten. Wer sich erinnern will, welche Beschwerden wir heute schon auf unserer Morgenwanderung durch den Mangel jedes kühlenden Getränks erlitten, der wird zugeben, dass dieser Gedanke ein humaner, ein moralischer war. Aber gerade diejenigen, welche die fürnehmsten Träger der Humanität und der Moral sein sollten, haben ihm am wehsten gethan. Wissen wir doch alle, dass ihm auch in neuester Zeit wieder durch eine hohe Stelle, deren Weisheit sonst ganz Deutschland bewundert, ein unerwartetes Leid betraf, das ihm viele traurige Stunden verursachte. Möge ihm ein guter Gott diesen Stein von dem Herzen nehmen und ihm ein heiteres Alter verleihen. Wir sind ja heute hieher gegangen, um ihn zu trösten und ihm zu zeigen, dass er noch viele Freunde in der Welt hat, die an seinem Schicksal Anteil nehmen. Sie aber, werte Männer und edle Frauen, lade ich ein mit mir anzustoßen und zu trinken auf Glück und Heil des ehrenwerten Geschlechts der Schweinsteiger zu Hinterschweinsteig am Audorfer Berg! Und auf langes Leben unsres braven Simon, der in der einsamen Wildnis dieses Gebirges zuerst gewagt hat, dem Wanderer, so allhier vor den reißenden Tieren, auch vor Hunger und Durst seine Zuflucht gesucht, eine freundliche Herberge mit nahrhafter Speis' und ergötzlichem Trank zu gewähren! Simon für immer!“

Ein einstimmiges Hoch erbrauste abermals bei diesen Worten, ging schallend durch den Buchenwald und kam wiederhallend zurück von des Brinnsteins rauhen Wänden. Der Schweinsteiger aber schritt auf den Redner zu, drückte ihm die Hand und sprach einige Worte, welche jedoch seine Rührung fast erdrückte.

Dieser Vortrag gab, wie der erste, willkommenen Anlaß zu mancherlei Bemerkungen. Der Naturforscher meinte, dass er dem seinigen vielleicht nach der Würde des Gegenstandes vorzuziehen wäre, nicht aber nach der Gründlichkeit der Forschung. Namentlich dünke ihm das Krokodil sehr problematisch, da diese Tiere im Nil nicht nördlicher als bis zur Stadt Dschirdscheh sich vorwagten. Der unbekannte Historiker erklärte, dass er bei der Dürftigkeit des Materials allerdings so manches durch Intuition ersetzt habe, wie das überhaupt in der Geschichtsschreibung der Fall sein müsse, aber was die Krokodile betreffe, so dürfe man wohl annehmen, dass ein solches, nachdem Siboto III. von Audorf bis nach Ägypten gefunden, sich leicht auch von Dschirdscheh nach Damiate verrannt haben könnte. Von einigen andern Bedenken gegen die historische Gründlichkeit wollen wir lieber absehen, zumal da der Forscher endlich selbst zugab, dass sich in der Sache noch vieles tun und feststellen ließe. Die Gesellschaft beschloß daher, darauf hinzuwirken, dass die Geschichte der Schweinsteiger der historischen Kommission überwiesen werde, welche dann, insofern sich kein hinlänglich vorbereiteter Bayer fände, irgendeinen jungen Mann aus Wangerooge oder der kurischen Nehrung berufen möge, um die Regesten des Geschlechts zusammenzustellen.

Um diese Zeit aber begannen die Gäste leider zu finden, dass der Tag sich neige und sie beschlossen daher, den Heimgang anzutreten. Also taten die Männer noch einen biderben Umtrunk und nach diesem erhob sich die ganze Gesellschaft, nahm herzlichen Abschied von dem Wirt und seinem ganzen Hauswesen und die Herren und Damen zogen vereint und in heiterster Stimmung dahin und erreichten das friedliche Audorf glücklich wieder im Abendsonnenschein.

Hier aber stellten sich zur rechten Zeit zwei Stellwagen ein und plötzlich riefen die Gefährten wie von einem Geist beseelt: „Nach der Klause, nach der Klause!“

Und so fuhren wir in raschem Trab nach diesem reizenden Erdenwinkel, den wir schon in unserm vorigen Kapitel gerühmt und kamen an und stiegen aus und wurden aufs freundlichste empfangen. Der wilde Kaiser blühte und glühte in der Sonne letzten Strahlen wie eine ungeheure Pfingstrose und schien nur zu blühen und zu glühen, um auf Annas und Mariens und auf des alten Wirts Antlitz seine zarten Ricochettröschen niederzulegen, so dass diese anmutigen Gesichter — wenigstens in unsern Augen — einen ganz eigenen Anhauch von überirdischer Verklärung gewannen und uns alle drei ausnehmend gefielen.

Und also setzten wir uns in den blumenreichen Garten und nahmen einen wohlverdienten Imbiss ein, wozu wieder jener gute Wein aufgetragen wurde, welcher gewöhnlich den müden Trinkern aus Deutschland gereicht wird, die am Verlechzen sind. Und nicht ohne bedeutende Wirkung, zumal da auch mancher, der in der Aschau sich vergessen hatte und im Wasser zu weit gegangen war, hier das Gleichgewicht im Wein wieder herzustellen suchte. Nicht zu wundern daher, dass sich ein sehr feuriges Gespräch entwickelte, ja einige behaupten, die Sprüche, die hier im Tale gefallen, seien noch tiefsinniger gewesen als jene auf der Höhe — mir Schade, dass keiner im Gedächtnis haften geblieben. Jedenfalls aber wurde ein schöner Tag in der fröhlichsten Laune beschlossen.

Dir aber, o Leser, soll unverhalten sein, dass wir den guten Menschen in der Aschau alle versprochen haben, im nächsten Jahre und zwar am selben Tage wieder zu ihnen zu kommen. Wenn du dir daher den mehr erwähnten Tag — es ist aber das Fest Maria Himmelfahrt, der fünfzehnte August —mit Rotstift im Kalender notieren wolltest, und wenn du Zeit und Lust hättest, den gemächlichen Weg bis in die Gegend des Tatzelwurms hinaufzusteigen, so würdest du dort vielleicht die meisten der oben Genannten und andere würdige Leute mehr antreffen, dich mit ihnen, so du überhaupt ein Geselle bist, mit dem die Nebenmenschen gern umgehen mögen, in Heiterkeit unterhalten und wahrscheinlich eine angenehme Erinnerung mit nach Hause nehmen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderung im bayrischen Gebirge