Von Brannenburg über das Arzmoos nach Bayrisch-Zell

Brannenburg ist ein altes, jetzt wieder mit Pracht erneuertes Schloß und ein Dorf und ein großes bekanntes Wirtshaus, vieler Münchner Maler hochgeschätzte Sommerfrische. Mein Aufenthalt war aber so kurz, dass ich gar nicht davon reden, sondern hier nur bemerken will, dass ich jetzt des heitern Himmels wegen die Heimfahrt verschob, noch länger im Gebirg zu verweilen beschloß und den Vorsatz faßte, nach Bayrisch-Zell hinüberzugehen, einen Bergpfad, der mir wenigstens in der ersten Hälfte noch ganz unbekannt war.

Bis zum alten Margarethenkirchlein und noch etwas darüber hinaus geht dieser Weg in der offenen und schönen Landschaft des Inntals dahin, alsdann aber zieht er einwärts ins Waldgebirge und windet sich immer steigend im engen Tale fort, wo das Fichtengehölze und die Felsenwände alle Aussicht aufschlürfen. Hätte ich nicht meine Gedanken — darunter auch einige interessante — bei mir gehabt, so wäre mir's fast langweilig geworden im Gemüte. Wer einen Alpenweg zum erstenmal geht und keinen kundigen Begleiter mit sich führt, ist ohnedies nie recht sicher, wo er hinkommen wird und hat es nicht ungern, wenn er einen ehrlichen Landsmann trifft, der etwas Bescheid weiß. So war ich auch damals schon lange in der Lage, mir eine menschliche Begegnung und Gelegenheit zu einer freundlichen Anfrage zu wünschen; allein durch diese hohle Gasse wollte, wie es schien, gar niemand kommen, bis plötzlich drei frische Almerinnen, blond und keck, hinter der Felsenecke hervortraten, abwärts trachtend, hinaus nach Brannenburg. Sie waren bei sehr guter Laune, und jede führte einen hohen Bergstab in der Hand. Zu dieser Weil wären mir die wirklichen drei Grazien nicht willkommener gewesen, wenn sie in ihrem leichtfertigen Frühlingsgewande durch den Bergwald herabgeschritten wären. Die Mädchen kamen übrigens aus dem Hinterland drinnen am Wendelstein, und hatten eben nachgesehen, ob Wunn' und Weid schon saftig und genießbar, auch ob die Hütten wieder hergerichtet und zu beziehen seien für Mensch und Vieh — denn um diese Zeit — es war Anfangs Juni — gehen die Zimmerleute vom Tal hinein auf die Almen, und hämmern auf und ab an den hölzernen Gehäusen, um die Ritzen und die Löcher auszubessern, welche der grimme Winter hineingerissen. Nachdem mir aber die Almerinnen versichert, dass mein Weg der rechte sei, und nach einigen andern passenden Redensarten, wie sie dieses eigentümliche Zusammentreffen an die Hand gab, gingen wir wieder auseinander, ich immer rüstig in das wilde Gebirge hinein, wobei mir doch noch hie und da ein fröhlicher Holzknecht begegnete oder ein heimkehrender Dachsenhauer, einer von jenen Taglöhnern nämlich, welche die Dachsen, die Zweige des Nadelholzes, für die Streu zusammenhauen. Endlich lag auch die grüne Waldblöße da, welche die drei Mädchen als Wahrzeichen angegeben, und nun ging's links über den Bach. An der steilen Felsenwand kletterte dann ein rauer Pfad empor, rauer noch als der Pfad der Tugend, wenn er auch wie dieser gerade auf in den Himmel zu führen schien. Die Sonne schoß nebenbei so heiß herein in die enge Bergschlucht, dass wohl mancher weichliche Wanderer unter der Last der Beschwerden sich die Frage gestellt hätte: Wär's denn nicht viel gemütlicher draußen auf dem Brannenburger Keller, und wann fängt hier denn eigentlich das Vergnügen an?


Doch wenn auch der garstige und heiße Steig fast eine Stunde lang unsere Gestalt in Anspruch nahm, und diese nur arg erschüttert die Höhe erreichte — oben sah man schon in die schone Alm von Arzmoos hinein, und damit war auch alle Mühsal vergessen. Wenn der Wanderer, zumal verirrt oder des Weges unsicher, durch den finstern undurchsichtigen Hochwald, über steile Klippen stundenlang hinauf- und hinabgestiegen, hungrig, dürstend, halberlegen und verzweifelnd, und sieht dann plötzlich die blumige Alm und die friedlichen Hütten mit ihrem bläulichen Rauch vor sich liegen, und die schönen Rinder in der Au und weiße Mädchenärmel in der Ferne, und hört die Liedlein und das Jauchzen und den Klang der Alpenglocken — da überfällt ihn ein solches Gefühl der Rettung und der nahen Labung und der Lebenslust, dass es gar nicht zu beschreiben ist.

Also war's nun erreicht, das schöne Arzmoos, und auch bald die erste Hütte, welche aber in ihren Gemächern noch unbewohnt war, wogegen auf dem Dach zwei Zimmerleute geschäftig hin und her kletterten und neue Schindeln legten. Einer stieg bald hernieder von seiner Höhe und sagte, er habe zwar nichts zu essen — was ich auch gar nicht verlangte — aber das beste Wasser rinne nicht weit von da. Gefälligen Sinnes holte er sofort einen Kübel voll drunten am jungen Bach, und der Wanderer schlürfte in vollen Zügen das eisige Getränke, fühlte aber bald, dass es ihm nicht recht gut gethan, nahm Abschied, ging möglichst rasch davon und zur nächsten „Kaser.“ Da war zwar keine von jenen in den Schnaderhüpfeln so überschwänglich besungenen schönen Sennerinnen, was ich ebenfalls nicht verlangte, aber der Maier von Lippertskirchen, draußen an der Eulenau, am Fuß der Berge, hatte seinen liebsten Sohn hereingeschickt, welcher mit seiner Schwester, einem rotbackigen Mädchen von elf oder zwölf Jahren, die Saison so eben eröffnete. Georg Probst von Flinsbach, den wahrscheinlich die wenigsten Leser kennen werden, ein ehrsamer Jüngling reiferen Alters und ebenfalls mit einer Alm betraut, war zu dieser Stunde in Heimgarten gekommen und saß in friedlichem Abendgespräch auf dem Herde. Die beiden Freunde betrachteten und begrüßten den Ankömmling gleichsam als die Taube mit dem Ölzweig, welche weissagt, dass die Fußgänger, Reisenden und Touristen, die bisher in der Arche der Städte eingesperrt gesessen, anjetzt hoffen und glauben, dass der Winterschnee und die wilden Wässer auf den Bergen und Almen aufgetrocknet und diese für städtische Leute wieder gangbar seien. Sie knüpften aber daran keine eigennützigen Begierden; denn man achtet hier oben die Pilger nicht wegen der paar Groschen, die sie an schönen Sommertagen zurücklassen, sondern wegen des Verkehrs, der Unterhaltung und der Bildung, die sie mitbringen. Ich dankte für ihre gute Meinung, bemerkte aber, dass ich von dem Arzmooser Wasser bereits einen sehr kalten Magen und das Verlangen hätte, ihn etwas einzuwärmen, worauf mir der junge Gebietiger der Alm eine Schale Kaffee vorschlug. Etwas mißtrauisch bat ich um die Bohnen und unterwarf sie dem Geruch, welchen sie gleichwohl weidlich ergötzten. Lebhaft gab ich meine Überraschung zu erkennen, worauf aber der Sohn des Maiers von Lippertskirchen lächelnd bemerkte, dass die guten Bauern schon lange keinen schlechten Kaffee mehr trinken. Mit Anmut hielt er nun ein reinliches Pfännlein über das Feuer des Herdes und sott einen sprudelnden Trank. Als dieser abgestellt und die Siedhitze vorüber war, hat er ihn auch mit den eingetauchten Fingerlein wiederholt versucht, und die dunkle Flut schien ihm sehr schmackhaft zu sein. Ebenso mir, nachdem dieselbe in eine Schwazer Steingutschale, mit Bildern vom Rhein verziert, gegossen und ein silbernes Löffelchen dazu gegeben war. In kurzem konnte man fühlen, dass der Arzmooser Kaffee wieder gutgemacht, was das Arzmooser Wasser verdorben hatte, und man zeigte sich nachgerade sehr gut aufgelegt, nicht minder der Sohn des Maiers von Lippertskirchen und Georg Probst von Flinsbach, so dass wir ganz munter, wie alte Bekannte, durcheinander diskutierten, während die herrliche Sonne hinter dem nächsten Bergwald hinunter sank und feurig durch die Bäume leuchtete. Die Almenhütte war aber so rein und sauber, dass sie jeder Hofdame hätte zur Sommerfrische dienen können. Ein schmuckes, eisernes Öfelein versprach viel angenehme Wärme für die frostigen Tage, die hier selbst im Hochsommer nicht so selten sind — das Schwazer Steingut füllte einen ganzen Rahmen, und die hölzernen Näpfe, Gelten und Zuber waren alle wie neu und mit blau und weißer Farbe zierlich angestrichen. Ein Besuch im Nebenzimmer oder Schlafgemach hinterließ auch nur angenehme Eindrücke: reinliches Getäfel, einfacher, aber fleißig gescheuerter Hausrat und an den Wänden allerlei Bilder (sämtlich von L. Wenzel in Wissembourg). Das Bett, weiß ausgeschlagen, mit derben Spitzen geziert, erhob sich wie ein Katafalk höher und immer höher, so dass es bis an die Decke reichte und der Schläfer, wenn er auf dem Rücken lag, mit der Nase an diese rühren zu müssen schien. Die Frage, wie es denn zu schlafen sei mit einem solchen Brett vor dem Kopf, beantwortete der Jüngling dahin, dass man nirgends süßer ruhe als auf der Alm. Übrigens sei dies aufgequollene Lager nur lockeres Heu, welches immer mehr einsinke und nach wenigen Wochen so niedrig werde wie ein Bett gewöhnlicher Menschen.

Nicht ohne mancherlei Belehrung erhalten zu haben, griff ich zuletzt zum Wanderstab und schlenderte weiter. Es ging mit mir auch Georg Probst von Flinsbach, den wir, da ihn die Leser nun doch schon besser kennen, von jetzt an nur noch mit seinem ländlichen Namen Jörgel nennen wollen. Wir kehrten auch bald vorübergehend in der Hütte ein, welche dieser mein Begleiter selbst bewohnte, und fanden da wieder viele Bilder (sämtlich von L. Wenzel in Wissembourg) und sonstige Alpeneinrichtung, reinlich zwar, doch nicht in jenem seinen Stil, den der Maier von Lippertskirchen seiner Niederlassung verliehen. Die Landschaft blieb immer reizend, denn da, wo wir gingen, ist ja eigentlich der Anfang jenes langgestreckten schönen Alpenreviers, welches bis Audorf hinunterreicht und an einem andern Orte beschrieben werden wird. Endlich bei eingebrochener Dämmerung kamen wir — denn Jörgel war noch immer an meiner Seite, da er mir zu liebe nach Bayrisch-Zell hinuntergehen und seine Schwester, dortige Kellnerin, besuchen wollte — endlich also kamen wir an den Rand der Hochebene und stiegen auf dem steilen Waldsträßchen ins Tal hinab.

Auch mit diesem Älpler allein war der Umgang lehrreich, obgleich er mir eine teure Kunde abnahm und dafür eine Leere setzte, die schwerlich mehr auszufüllen ist. Für Almendichter möchte nämlich aus unserm Gespräch die Mahnung zu entnehmen sein, dass sie endlich ihren Speik als poetisches Motiv ganz aufgeben sollen, denn wenn sie keine Steuer sind, so schickt sich das nicht für sie. Nicht nur, dass er nicht Primula glutinosa oder auricula ist, sondern er ist gar nichts und existiert nicht — auf den bayerischen Alpen wenigstens nicht. Jörgel versicherte hoch und teuer, er liege jetzt wohl über dreißig Jahre auf den Almen und Sennhütten „umeinand“ und habe den Namen nie gehört. Dadurch schiene allerdings Professor Adolf Pichlers Angabe, dass der echte Speik nur in Steiermark vorkomme, neuerdings bestätigt. Aber auf der jüngsten Blumenausstellung im Glaspalast zu München fand ich gleichwohl wieder Primula glutinosa als Speik und Primula auricula gar als „Speiks Bruder“ bezeichnet, wodurch denn die alte Verwirrung wieder glücklich hergestellt ist. Dass mein Gesell von Mardaun nichts wußte, versteht sich von selbst. Den kleinen blauen Enzian nannte er Almenveigele, den gelben Ranunkel aber Schmalzblümlein, behauptete auch gegen die gewöhnliche Meinung, dass derselbe nicht giftig sei, worüber die Rinder vielleicht eine andere Ansicht hegen. Das beste, nahrhafteste und fürnehmste aller Alpenkräuter sei aber das Frauenmäntelein (Alchemilla vulgaris), welches er mir sofort abpflückte und zur Erinnerung übergab. Der Name hat eine mythische Bedeutung, welcher ich aber jetzt nicht nachgehen kann und deswegen den Leser an die Quellen verweise.

Und während wir hinabstiegen, sprachen wir auch von andern Dingen, namentlich von der Politik, von der Einrichtung der Almenhütten, der Gemeinden, der Landgerichte, der Königreiche und der ganzen Welt. Um ein verlässiges Substrat für seine politischen Kombinationen zu erhalten, fragte mich mein Arkadier: auf wen man sich wohl mehr verlassen könne, auf den Kaiser von Österreich oder den König von Preußen, worüber ich aber meine Meinung respektvollst zurückhielt und ihn an Professor Brinz oder beziehungsweise Professor von Sybel verwies, deren Adressen er sich auch gleich notierte. Und während wir so redeten, gewahrte ich mit Vergnügen, oder vielmehr es bestätigte sich auch hier die schon vielfach gemachte Wahrnehmung, dass das Volk, und selbst das Volk der Holzknechte, Hirten und Senner seine Sprache wieder gefunden habe. Jörgel drückte sich zwar nicht so fließend und blumenreich aus, wie unsere feineren Landtagsredner, aber er wußte für seine einfachen Ideen doch immer das richtige Wort zu finden. Vor manchen Jahren schon, als andere dem Liebesglück, dem Gelderwerb, den hohen Würden und Ritterorden nachliefen, hab' ich oft einsam und allein den bayerischen Dialekt betrachtet und zu meinem Leidwesen zu bemerken geglaubt, wie er täglich mehr verdorre und einschrumpfe. Bereits fehlte ihm außer vielen Endungen, welche, da sie meist nur tonlose e, des Mitleids der großen Welt kaum würdig sind, der Genitiv und das Pronomen possessivum femininum und das einfache Präteritum und der Konjunktiv des Präsens, ja fast des Imperfektums, und was die Partikeln betrifft, so war eigentlich in jeder Phrase der ärmlichste Notstand zu bemerken.*)

*) Z, B. man sagt nicht: das Haus des Vaters — sondern: dem Vater sein Haus; nicht: der Mutter ihr Haus — sondern: der Mutter sein Haus; auch nicht: sie macht sich, sie denkt sich — sondern: sie macht ihm, sie denkt ihm. Man sagt nicht: ich tat, sprach, trug— sondern: ich habe getan usw. Die Konjunktive: er sei, er habe, hört man zwar noch jenseits des Lechs, aber nicht mehr diesseits, und auch für die Konjunktive: ich spräche, ich trüge, sagt man lieber: ich sprechet, ich traget usw. Von den Konjunktionen fehlen z. B.: als, da, während, indem, nachdem, daher, sonach, dann, ferner, und noch viele andere mehr. Bekanntlich hat sich dagegen im Bayrischen ein uralter Dual: eß, enk erhalten, der jetzt als Plural (ihr, euch) gebraucht wird.

Auch mangelten viele hundert angesehene Haupt- und Eigenschafts- und Redewörter, und wenn man beobachtete, wie sich die alten Leute immerhin noch mit mehr Abwechslung und Reichtum ausdrückten, als die jungen, so konnte man wirklich eine Angst empfinden, ob die Sprache am Ende nicht ganz „ausgehen“ werde. Und was dann? Sollte der Fall nicht denkbar sein, dass ein Volk, dem alle Flexionen erstorben oder zu unbrauchbaren Resten verkümmert sind, am Ende das Mündliche einfach für abgetan erklärt und sich auf die Zeichensprache wirft? Oder — wer sich im Vormärz solchen Betrachtungen hingab, der konnte auch leicht der Furcht verfallen, es möchten etwa gewissenlose Demagogen den Bauernstand aufhetzen, ihm zuflüsternd: „Seht, liebe Leute, dass ihr jetzt kaum mehr reden könnt, daran ist nur eure Regierung schuld, weil sie euch seit Jahrhunderten alles öffentliche Leben genommen und eure besten Formen und Wörter boshafter Weise aus dem Verkehr gezogen hat.“ Jetzt braucht es nur noch, konnte man im Vormärz denken, dass das Jahr Achtundvierzig dazukommt, und dann strömt die betörte Menge vor dem Regierungspalast zusammen und schreit vom Fischbrunnen tobend hinauf: Ihr Herren, ihr lieben, habt uns die ganze Mundart konfisziert und wir kommen gar nicht mehr fort damit! Gebt uns unsere Partikeln heraus! Auch das einfach Präteritum wollen wir wieder haben und eien Entschädigung für die mit den Hilfszeitwörtern versäumte Zeit — ferners auch den schmählich unterdrückten Konjunktiv usw. Allernächst, welche Verwirrung in den Gemächern des ersten Stocks! Man schickt zu allen Antiquaren, läßt Adelung und Heinsius herbeikommen, wirft sie dutzendweise unter das aufgeregte Volk, proklamiert die Freiheit, dass jeder Landmann sich seine Partikeln selber wählen, zum einfachen Präteritum zurückkehren und auf seine Gefahr in entsprechenden Fällen den Konjunktiv verwenden dürfe — — — Die verführte Menge beruhigte sich, das gemütliche Volk ist glücklich über die neue Errungenschaft, hofft gläubig auf einen neuen Wörterfrühling und die ganze anfangs so drohende Bewegung geht in ein linguistisch-politisches Freudenfest über, bei welchem die Regierungsräte und die Gemeindevorsteher die schönsten Reden halten! — Doch wozu diese wunderlichen Visionen, da wir nur mit Vergnügen zu bestätigen haben, dass es ganz anders gekommen und ohne Störung des Friedens besser geworden ist! Die wachsende Bedeutung der Schulen, dessen Ausflüsse doch allmählich durch die spröde Rinde hindurch in den fruchtbaren Schoß des Volkes sickern, namentlich aber und ungleich mehr das besagte Jahr Achtundvierzig mit seinen Zeitungen, die sich seitdem in nie geahnter Menge über das flache Land und noch weit mehr über das Gebirge ergießen, und nebenbei auch die seither bestehende Öffentlichkeit der Strafgerichte haben einen sehr merkbaren Umschwung herbeigeführt. Eine große Anzahl Wörter, an die kein Mensch mehr dachte, ist jetzt wieder landläufig geworden, die verkommenen Formen leben neu auf, man hört hie und da wieder einen Genitiv, und Herr Isaak Wellkammer zu Seebruck bedient sich mit Glück sogar schon des einfachen Präteritums, obgleich dieses selbst den Gebildeten noch etwas fremd im Munde liegt. So kann der Wanderer, der auch auf Hochweiden und Alpentriften die politische Unterhaltung, an die er sich im Kaffeehaus gewöhnt hat, nicht entbehren will, mit solchen Naturkindern alle höheren Zeitfragen durchsprechen, und wenn er die Fremdwörter möglichst vermeidet, wird er immer verstanden werden und eine den Umständen angemessene Antwort erhalten. Freunde alter Sitten und Mundarten oder Feinde alles Neuen brauchen sich aber deshalb kaum zu grämen; eigentlich ist der Prozess ja weniger eine Neuerung als vielmehr eine Wiedereroberung des Alten, erst in den drei letzten Jahrhunderten Verlornen, denn Aventin hat sicherlich nicht viel anders geschrieben, als der Bauer zu seiner Zeit sprach, d. h. dieser hatte wohl noch eben den Wörterschatz zur Verfügung, den jener in seinen Schriften glänzen läßt.

Dass übrigens zu dieser Errungenschaft oder Umkehr die Zeitungen und überhaupt das Gedruckte viel mehr beigetragen haben als der persönliche Umgang mit den gebildeten Ständen, geht auch wieder aus der Tatsache hervor, dass wir im Gebirge noch immer, obwohl nicht so oft wie früher, mit Leuten zusammentreffen, welche uns mit Du anreden, oder wenn sie auch mit Sie beginnen, doch bald unwillkürlich in jenes überschlagen. Es ist dies aber nicht das handelspolitische Du der Zillertaler, welches diese nur für den Export verwenden, sondern es ist alt, acht und angestammt. Man findet es teils bei jungen Leuten, welche das Sie noch nicht gelernt, teils bei alten, welche es schon wieder vergessen haben. Wenn man bei unserm Chronisten Ulrich Füterer liest, wie schon Julius Cäsar den Deutschen aus kaiserlicher Machtvollkommenheit die Ehre geboten, dass allermänniglich sich hinfüran solle ihrzen und nicht duzen, und wenn man bedenkt, dass jetzt bald zweitausend Jahre vorüber sind, und die Waldmenschen am Saum der rhätischen Alpen die allerhöchste Verordnung noch immer nicht ganz zur Ausführung gebracht haben, so begreift man erst, welche Aufgabe es war und ist, diesem Stamm höfische Manieren und zierliche Redensarten beizubringen; es lacht aber um so gemütlicher über den Humor unserer Landleute, wer sie da mit gewaltigen Stimmen singen hört:

Dass wir grobe Kerl sein,
Das weiß man ja von eh!

Während wir aber im dämmernden Wald zu Tale gingen, umwehte es uns plötzlich wie das Abendgeläute eines fernen Münsters. Betroffen standen wir still und schauten um uns, woher es käme. Ich hätte den Urquell wohl nie entdeckt, aber Jörgel deutete bald auf etliche weiße Tupfen weit oben am Berg über den Almenhütten und behauptete, das seien die Hemdärmel des Romerbäckenhansels, des Lambacherlenzels und anderer in der weiten Welt noch unbekannten Jünglinge, lauter Audorfer Buben, jetzt auf der Alm, die sich da hinausgesetzt, um den warmen Abend mit ihrem Gesang zu verherrlichen. Das klang wirklich so elfenhaft, so zauberisch verschwimmend in der Dämmerung, wie die schönste aller Aeolsharfen — ein Eindruck, dem man jahrelang nachgehen dürfte, um ihn wieder zu erleben, und zu dem mancher in seinem ganzen Leben nicht kommen kann. Als diese Harfentöne verklungen, tat Jörgel aus tiefstem Herzen einen ungeheuerlichen Juchzer, und sogleich erfolgte die freundliche Antwort von den Sängern oben auf der Höhe. Nach diesem aber marschierten wir ein in das stille Dorf, wo unsere Nachtherberge sein sollte, und standen die rüstigen Bayrisch-Zeller schon guten Teils um Eingang desselben, ihre Abendzigarre rauchend und plaudernd über den Gang der Welt. Von einer Seite schaute der spitzige Wendelstein in die Gassen des Ortes, von der andern der breite Miesing.

Bayrisch-Zell, obwohl achthundert Fuß höher als die Hauptstadt München gelegen, wird doch von Obstbäumen fast verdeckt, und nur der Spitzturm der Kirche steigt kräftig über das Laubdach hinaus. Das Dorf ist eigentlich klein und nicht volkreich, aber es ist ein altes Herkommen, dass man von Bayrisch-Zell mehr redet als von vielen anderen Dörfchen seiner Kleinheit, sodass es fast für berühmt gelten kann, ohne dass man genau wüsste, warum? Unsere Väter betrachteten es gewissermaßen als den Mittelpunkt des Gebirges und als einen Hort arkadischer Ursitten. Dies rührte auch zum Teil von der Mangelhaftigkeit ihrer geographischen Kenntnisse her, denn viele mochten glauben, hier in dieser grünen Sackgasse sei die christliche Welt zu Ende und jenseits des hohen Miesings seien nur noch unbekannte Heidenländer. Wenn sie hierauf nach Hause kamen, so pflegten sie von den Bayrisch-Zellern fast gerade so zu sprechen, als wenn sie bis am Ende der Kultur gewesen, wo die wilden Jägerstämme hausen. Jetzt, da man erfahren, dass das Gebirge gegen Süden noch über hundert Stunden weit geht und immer höher wird und dass in Tirol und der Schweiz sich Täler finden, die noch weit höher, einsamer und weltentlegener sind als unsere Zell, jetzt hat diese auch einen guten Teil ihres arkadischen Rufes verloren. Dennoch spielen die Leute aus diesem abgelegenen Winkel wegen der Einfachheit ihres Wesens und der Offenheit ihrer Rede zu München noch immer ungefähr eine Rolle wie die Duxer auf dem Wochenmarkt zu Innsbruck. Ehemals war das Tal auch gefeiert wegen seiner schönen Mädchenstimmen und seines reichen Liedersanges, aber das ist ziemlich verklungen. Das alte Zeller-Wirtshaus mit seinen alten, allmälig verbleichenden Erinnerungen von reizenden Alpenmädchen und schönen Treulosen, von Liebe und Eifersucht, von Kampf und Streit und blutigen Turneien, zu welchen die streitbaren Burschen aus Tirol und dem bayerischen Inntal, über die Berge zusammenkamen, und der alte dicke Wirt, von dessen Grobheit die Reisenden noch in den fernsten Ländern sprachen, sie sind jetzt auch dahin. Das Haus ist umgebaut und hat einen schmucken Tanzsaal sowie verschiedene wohnliche Gemächer erhalten, welche allerlei Bilder zieren (sämtlich von L. Wenzel in Wissembourg). Eine alte Merkwürdigkeit, ja eigentlich ein Wahrzeichen, ist damit freilich auch vergangen. Wenn nämlich früher Tanzmusik war zu Bayrisch-Zell und die Gäste herankamen das Tal herauf, so sahen sie schon von ferne, wie aus einer Dachlücke heraus eine gespenstische blitzschnelle Hand immer an einem undeutlichen Gegenstand auf- und niederfuhr. Auf nervöse Naturen wirkte diese Erscheinung unheimlich und machte sie zucken. Wer dann näher kam, entdeckte, dass der undeutliche Gegenstand der Hals einer Baßgeige, und wer gar auf den Tanzplatz stieg, bemerkte, dass dieser unter dem Dache aufgeschlagen war und dass der Kontrabassist, in die Enge getrieben durch die Beschränktheit des Raums, sich ein paar Ziegelplatten ausgehoben und durch dies Ventil den Hals seines Instrumentes hinausgestreckt hatte, so dass er die Töne oben griff in der freien Alpenluft, während er unten auf dem qualmigen Tanzboden seinen Bogen führte. Es gab viele, die diesen Eindruck nie wieder vergessen konnten. Außerdem bleibt eigentlich nicht mehr viel hervorzuheben als die bergstille, grüne, laubreiche Landschaft und die zutuliche Freundlichkeit der Bewohner, die wenigstens in ruhiger Stimmung sehr milde und gutmütig sind. Wie ein alt zusammengewachsenes Volksstämmlein halten sie sich auch für etwas Apartes und wollen es nicht gern leiden, wenn sich ein fremdes Menschenkind in ihrer ehrenreichen Gemeinde niederlassen will. Den Gerichten und Anwälten geben sie wegen ihrer Friedensliebe und Einträchtigkeit fast nichts zu tun. Ebenso helfen sie auch in Freud und Leid zusammen und tragen alle Not gemeinschaftlich, wie denn voriges Jahr, als ein Hirtenknabe die Nachricht brachte, es sei ihm auf der Bergweide ein Lamm gestohlen worden, sich im Nu das ganze Dörflein erhob und alles, Groß und Klein, auf die Spähe ging und fahndete, bis sie eine halbe Tagreise weit den Dieb mit dem Schäflein glücklich erreicht hatten und einfingen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderung im bayrischen Gebirge