Von Bayrisch-Zell an den Spitzingsee

Ob also Bayrisch-Zell noch immer ein guter Platz für Schnaderhüpfel sei, das kann ich wirklich nicht verbürgen. Früher ist da wohl viel Gesang erklungen und mancher Zitherschall und weiß ich selber noch, wie wir vor Jahren öfter draußen saßen und den Abend unter den Bäumen oder im warmen Stübchen zubrachten, draußen nämlich im Sollacher-Häuschen, wo zwar kein Gasthof, aber für redliche Gesellen immerdar ein sehr reinliches Zimmer und eine schmucke Liegerstatt bereit war, während der Bach, der vorüberfließende, beständig die frischesten Forellen bot. Aber der alte Spruch von der Vergänglichkeit irdischer Freuden hat sich auch an diesem Häkchen bewährt, so klein es ist. Da lebte einmal der alte Sollacher, ein biederer Jäger und Forstwart, ungemein beliebt bei allen, die ihn kannten, und seine Frau, die er vordem in Tirol gefunden und liebgewonnen, gastfreundliche Hausmutter und gute Köchin. Und da kamen, wenn die Zeit zum Waidwerk erschienen war, die Fürsten und die Grafen und andere vornehme Herren und lagerten sich in dem Häuschen ein und tafelten und waren dankbar für die treuherzige Aufnahme, weil dazumal wegen Grobheit des Wirts und Schmutz des Wirtshauses niemand gern in letzteres einging. Aber die Fürsten starben und die Grafen auch und zuletzt sogar der gute Sollacher und das Hüttlein wäre zu jener Zeit schon sehr einsam geworden, wenn nicht etliche angenehme und sittsame Töchter aufgewachsen wären, welche mit der Mutter eine friedliche und freundliche Haushaltung führten und ihre Freude daran hatten, wenn hin und wieder ein achtbarer Wandrer in ihr Stillleben eintrat, um einen Imbiss zu nehmen oder Herberge über Nacht. Dann sangen die Mädchen gar lieblich, wobei die eine Zither spielte und der Fremdling so almerisch angewandelt wurde, dass er auf den vorübergehenden Gedanken kommen konnte, es sei nirgends so heimlich und so wonniglich wie hier, und dass er alle die Touristen, welche er weit draußen auf dem staubigen Sträßchen dahinwandern sah, als trostlose, gottverlassene Landfahrer, die am verborgenen Paradiesgärtlein bewusstlos vorbeigingen, bedauerte und bemitleidete. Damals kamen auch Hochzeiten aus und die eine der Töchter heiratete über das Gebirg in das Inntal hinüber und die andre gar nach Chur in Graubünden, wo sie aber bald sterben musste und die dritte wieder anderswohin. Nur Schön Annei wollte nichts von einem Freier wissen und blieb zu Hause bei der Mutter, und als auch diese gestorben war, kam der Bruder heim, selbst ein großer Jäger vor dem Herrn, dem aber ein schweres Unglück zugestoßen war. Er ging nämlich einst in der Gegend, wo zwischen Schliers und Tegernsee die Baumgartenalm zu finden ist, mit einem Gefährten durch den Wald. Plötzlich hörten sie in der Nähe Gewehre laden und dem Schalle nachgehend gewahrten sie bald drei Wildschützen, die sich hinter den Buchen verborgen hatten und nur mit dem halben Gesichte und der angeschlagenen Büchse hervorlugten. Da fiel ein Schuß, welcher dem Sollacher Sepp durch den Oberarm ging. Er stürzte zu Boden, aber der Freund, der mit ihm war, der jetzige Revierförster Bauer zu Brannenburg, ein großer und starker Mann, lud ihn auf und brachte ihn glücklich ins Freie, obgleich ihm noch fünf Kugeln nachpfiffen. Zwei derselben gingen ihm durch den Hut, die andern fehlten. Sepps Oberarm, vielmehr dessen Knochen war aber in viele kleine Stücke zerschellt; doch blieb er selbst am Leben erhalten, nur dass er damals manche Monden lang in Schliers auf dem Krankenlager siechen musste, bis ihn ein junger Arzt von München wieder herauskuriert hatte. Dieser Bruder also kam nach Haus und gab den Forstdienst auf, obwohl er auch jetzt noch ein trefflicher Schütze war, und lebte abgeschieden mit seiner Schwester in ländlicher Zufriedenheit. Aber auch Annei musste sterben und zwar vor drei Jahren und jetzt steht das Häuslein verlassen da und lebt nur noch der einschichte Weidmann mit seinem durchschossenen Arm darin, und an die alten frohen Zeiten mahnen nur noch etliche Konterfeie, welche die Fürsten und die Grafen daher gestiftet, und der ewig fließende Forellenbach, der ihnen und den späteren Gästen ihr leckeres Nachtmahl lieferte. Ein ehemaliger fröhlicher Griechenfahrer und Offizier bei den hellenischen Ulanen, Ferdinand von Gumppenberg, später in Pöttmes den Musen lebend, aber jetzt auch verstorben, hat dem stillen Häuslein eine patriotische Erzählung gewidmet, „Die Wege der Vorsehung oder der treue Tiroler,“ welche im Jahre 1809 spielt und ein früheres Geschlecht der Sollacher und die Liebe eines jungen Tirolers zu einer frühern Annei anmutig schildert.

Um aber wieder auf die Schnaderhüpfel von der Zell zurückzukommen, so ging ich, als mir „Das bayerische Hochland“ am Herzen lag, längere Zeit mit dem Gedanken um, hieher so etwas wie eine Geschichte, Kritik oder Statistik derselben zu verlegen, und da es damals nicht geschehen konnte, so wollte ich's diesmal versuchen, was ich jedoch jetzt auch wieder aufgebe, weil ich es, was Kritik und Statistik betrifft, schon getan finde, was aber die Geschichte anbelangt, zu schwierig erachte. Man begegnet nämlich in den frühesten Quellen zwar verschiedenen Angaben über die Gesänge, an welchen sich unsre Vorvordern im grauen Altertum ergötzt haben, aber wie weit unsre heutigen Almenlieder, ihre Metrik und ihre Sangesweisen in vergangene Jahrhunderte hinaufreichen, ist gleichwohl mit voller Sicherheit nicht zu bestimmen. Immerhin ist kaum ein Zweifel, dass sie unmittelbar auf die achtmal gehobene alte Langzeile zurückgehen, welche, um mit Franz Pfeiffer zu reden, ,,allein es ist, die auf den Namen des wahren, altertümlichen, volksmäßigen, deutschen Verses Anspruch machen darf. Wie bei den Griechen und Römern der Herameter, so bildet bei den germanischen Volksstämmen die Langzeile den epischen Vers. Der Ursprung beider reicht in das früheste Altertum zurück, ihre Urheber kennt niemand, sie sind Gemeingut und daher überall im Gebrauch.“ Der gelehrte Otfried zu Weißenburg hat bekanntlich in der Zeit der Karolinger jene Langzeile in zwei Hälften geteilt und durch den neu eingeführten Endreim zur metrischen Einheit verbunden. Dies ist eigentlich schon vollständig der Bau unsrer Almenlieder und darum ließe sich auch, wenn es sein müsste, Otfrieds ganze Evangelienharmonie in Schnaderhüpfelweisen heruntersingen.


Hiebei kann noch erwähnt werden, dass auch der altfranzösische Alexandriner in dem gleichen Takte geht. Nicht minder ist vollkommen gewiß, dass schon in heidnischen Zeiten allerlei Liedchen der zärtlichen und der leichtfertigen Gattung vorhanden und beliebt gewesen. Wenn es nämlich auch eine allbekannte Wahrheit sein dürfte, dass die alten Deutschen und umsomehr die alten Bojoaren wegen ihrer keuschen Enthaltsamkeit nicht wenig berühmt waren, so hinderte doch diese Tugend keineswegs, dass der Lärm der Tanzleiche auch später noch bis in die Gotteshäuser und der unzüchtige Spaß der Mädchenlieder bis zu den Nonnen in die Klöster drang.*) Glücklicher oder unglücklicher Weise ist kein solches Winileod (von winja, Mädchen, Freundin, und leod, Lied) bis auf unsre Tage gekommen, obgleich sehr wahrscheinlich, dass ein guter Teil unsrer Schnaderhüpfel deren Inhalt getreulich wieder gibt. Auf lateinisch hießen dieselben psalini plebeii, Lotterpsalmen, cantica rustica et inepta u. dgl. Die Schriftsteller und Gesetzgeber der damaligen Zeit fanden sich leider sehr oft veranlaßt, jener Lieder Erwähnung zu tun. Karl der Große z. B. musste den Klosterfrauen nachdrücklichst untersagen, sich in ihren Nebenstunden mit dieser Dichtungsart zu befassen. Außer den Mädchenliedern waren bei unsern Vorfahren übrigens auch die Spottgesänge in großem Schwung — ungefähr jene Geistesgymnastik, welche wir heut zu Tage das „Ansingen“ nennen. Dieses Ansingen, das im Hochland sehr häufig vorkommt und selbst in der Hauptstadt nachgeahmt wird, ist bekanntlich der Wettkampf zweier Sänger, welche sich mit anzüglichen Strophen im Wechselgesang so lange beschießen, bis der eine sich nicht mehr fortzusingen weiß und dann unter allgemeinem Gelächter auf das Wort verzichtet oder etwa auch bis das Ringen des Geistes in ein leibliches übergeht und ein blutiger Streit entsteht. Diese Gattung wurde ebenfalls schon im grauen Altertum und namentlich den Geistlichen verboten, eine Verordnung, die aber langst wieder vergessen ist, da noch in unsrer Zeit mehrere würdige Priester bekannt sind, welche im Ansingen vortreffliches leisten.

*) Wackernagel, Geschichte der deutschen Literatur S. 38.

Wie verschieden aber in musikalischen Dingen der Geschmack der Romanen schon damals war, zeigt eine Äußerung des italienischen Diakonus Johannes, der im neunten Jahrhundert über die Gesänge der Deutschen zu reden kam und bei dieser Gelegenheit, vielleicht auf die damaligen Schnaderhüpfel anspielend, die Behauptung aufstellt, dass die alpenhaften Körper, die mit dem Donner ihrer Stimmen tieftönend erbrausen, die Süßigkeit einer Melodie gar nicht wiederzugeben vermögen, weil des versoffenen Schlundes barbarische Wildheit (bibuli gutturis barbara feritas), während sie einen milden Gesang hervorzubringen strebe, nur raue Töne, wie Lastwagen, welche mit wirrem Lärm über Staffeln hinunterrasseln, verlauten lasse, und so die Gemüter der Hörenden, welche sie eigentlich schmelzen sollte, viel mehr aufrege und verwirre.

Von den Zeiten dieses welschen und dem Gehöre nach offenbar sehr verzärtelten Diakonus, dessen ahnungsvollem Geiste wohl schon die späteren Sopransänger der päpstlichen Hofkapelle vorschwebten, überspringe ich nun ungefähr zehn Jahrhunderte und begebe mich in den Anfang des laufenden, wo die Schnaderhüpfel endlich gedruckt wieder auftauchen.

Nach meinen, vielleicht trüglichen Ansichten erscheinen die ersten „Alpenlieder,“ welche sich die allerdings schon ältere Erfindung der Buchdruckerkunst zu nutze machten, in den „Statistischen Aufschlüssen über das Herzogtum Bayern,“ deren ersten Band Joseph Hazzi, der kurpfalzbayerische Generallandesdirektionsrat, im Jahr 1801 ans Licht treten ließ. Es sind deren etwas mehr als ein halbes hundert, darunter auch etliche, doch nicht viele, welche man jetzt noch hin und wieder hört. Dieser Veröffentlichung folgte eine andre im Sammler für Geschichte und Statistik von Tirol und zwar im Jahre 1807. Die Abhandlung, welche dort ein sonst unbekannter J. Strolz über diese Liedchen niederlegte, verdient selbst in unsern Zeiten noch gelesen zu werden.*) Auch sie enthält deren einige, wie jenes bekannte: Ein Büchsel zum Schießen usw., welche sich ihres innern Wertes wegen bis auf den heutigen Tag im Gedächtniß erhalten haben, was bei einem Schnaderhüpfel schon sehr hoch zu achten ist.

*) Siehe auch etwa meine Bemerkungen dazu: Drei Sommer in Tirol S. 561. Die dortige Behauptung, dass auf jede der vier Verszeilen nur eine Hebung falle, ist aber nicht richtig; denn es sind deren in der Regel zwei. Einzelne Schnaderhüpfel gibt es auch, welche drei Hebungen haben, wie zum B. der berühmte Lauterbacher oder das bekannte: ’s Dirndl hat schwarzbraune Äugelein usw.

Auf diese zwei Vorgänger folgte als dritter unser Schmeller, der in seinen Mundarten Bayerns (München 1821) ebenfalls eine ziemliche Anzahl solcher „Stückeln“ mitteilt. Dieses ist nach seiner Meinung der richtige Name, wogegen die Benennungen: Schnatterhüpfel, Schnattergangl, Schnatterhacken usw., wie er annimmt, zunächst von älteren Personen herrühren sollen, „welche die Ansichten und Freuden, die der gewöhnliche Inhalt dieser heiteren Jugendpoesien sind, mit einem strafenden oder doch ernsteren Blicke zu betrachten und durch nicht eben schmeichelhafte Ausdrücke zu bezeichnen pflegen.“ Auffallen mag in Schmellers Sammlung, dass er schon viele Stückeln, die man für echt bojoarisch halten möchte, als fränkisch oder schwäbisch aufführt. Seit jenem Jahre, also in vier Jahrzehnten, sind diese Liedchen allerdings so durcheinander gequirlt, dass die Untersuchung des Ursprungs oder Geburtsorts immer schwieriger wird, und was wirklich seltsam ist, man findet nicht blos die einzelnen Strophen auf der Wanderung, sondern oft einzelne Gliedmassen, Arme und Beine aus älteren, die in Bayern, in Tirol, in Oberösterreich entstanden sind, wieder in jüngeren, die weit über Lech und Donau draußen ihre Heimat haben mögen.

Der Mabillon der Schnaderhüpfel, der gründlichste Sammler und Forscher in diesem Reviere, ist übrigens zu unsrer Zeit Dr. Friedrich Hofmann in Hildburghausen. Ihm erschloss sich eine Monatsschrift, „die deutschen Mundarten,“ welche Dr. Frommann zu Nürnberg herausgab (leider ist sie seitdem wieder eingegangen, da das geschwätzige Deutschland sich für seine Mundarten nicht interessieren wollte), und er schüttete dort sein volles Herz, seine ganze Lust und Freude an diesem Zweig der Dichtung in mehreren Abhandlungen aus. Er nennt das Schnaderhüpfel der süddeutschen Gebirgswelt eine der lieblichsten Erscheinungen der Volkspoesie und das würdigste Seitenstück zu den Märchen des deutschen Nordens. Dann eröffnet er uns einen Blick in die unermesslichen Schätze, die da noch in ziemlicher Verborgenheit ruhen, denn unter uns wenigstens lassen die mehreren diese Stückeln bei guter Gelegenheit an sich kommen und nur die wenigsten gehen ihnen suchend nach. Schmeller meinte zwar, sie drucken zu lassen sei fast eine Versündigung an ihnen, aber diesen Skrupel hat man schon längst überwunden, und sie liegen nun zu taufenden auf dem schönsten Papier und zum Teil mit Goldschnitt gefaßt in den süddeutschen Buchläden herum. In Tirol, in Bayern, im Salzburgerland, in Kärnten und Steiermark, dann namentlich in Ober- und Niederösterreich haben sich nicht nur fleißige Sammler gefunden, sondern auch begabte Sänger teils nebenbei, teils ausschließlich diese Dichtungsart gepflegt. Zudem ist sie allenthalben über den baiwarischen Zaun hinausgewachsen und blüht jetzt auch in helvetischen, schwäbischen, fränkischen und sächsischen Gärten. Nach den baiwarischen Vorbildern haben sich dort dann einheimische Liedchen aufgetan, die, wie oben angedeutet, wieder rückwärts strömen und jetzt auch im Urlande bekannt werden. (Übrigens ist es doch noch nicht ganz ausgemacht, dass man die Geburt und Wiege dieser Gesänge nur bei dem bojoarischen Stamme suchen dürfe, denn wenn die Langzeile, wie wir oben gelesen, ein Gemeingut und überall im Gebrauche war, so mögen sie auch sonst in gesangeslustigen Gegenden autochthon sein. Es bleibt also immerhin eine Frage, ob die Schnaderhüpfel, die man im Schwarzwald und im alemannischen Gebirge hört, den Bojoaren abgelauscht und von ihnen importiert oder ob sie an Ort und Stelle selbst entstanden sind.)

Ob aber das Schnaderhüpfel durch den tätigen Anteil, den ihm die städtische Bildung zuwendet, viel gewonnen hat — oder vielmehr, ob die besten Stückeln, welche in der Stadt entstanden sind, den besten der ländlichen gleichkommen, das ist eine sehr ernste Frage. Die Landpoesie hat einen großen Vorteil insofern voraus, als sie nicht gedruckt wird. Ein schlechtes, ein unbedeutendes, ein misslungenes Stücke! erhält sich nicht; es stirbt in dem Augenblicke seiner Geburt, weil sich kein Senner und keine Almerin, kein Knecht und keine Dirn die Mühe gibt, es im Gedächtniß zu behalten und weiter zu tragen. Was sich also auf dem Lande fortpflanzen, und wenn auch nur kurze Zeit erhalten will, muss so zu sagen elastisch sein. Die Dichter aus der Stadt sind aber natürlich nicht aufgelegt, ihre Poesien vorher in den Almenhütten, bei Kirchweihen, Hochzeiten oder andern günstigen Gelegenheiten auf dem Tanzboden vorzutragen und dann etwa im nächsten Jahre wieder nachzusehen, wie viele ihrer Liedeln sich im Volke erhalten haben, welche davon den Almerinnen gefallen und welche die Knechte im Tale singen — es liegt vielmehr in ihrer, der Stadtdichter, Art, die Schnaderhüpfel dutzendweise nach einander herzudichten und sie dann in den Druck zu geben. Der Gefallen, den sie selbst daran haben, gilt ihnen als Bürgschaft, dass sie auch andre ergötzen werden, welch' letzteres aber gerade nicht immer der Fall sein möchte. Wer also einmal Gelegenheit hätte, auf dem Lande oder im Gebirge ein halbes Hundert der ländlichen und ächten zu hören und darnach etwa aus einer gedruckten Sammlung, die er in der Tasche trüge, eine gleiche Zahl für sich zu lesen, der würde wohl einen bedeutenden Abstand finden, wenn ihm auch hin und wieder aus letzteren ein Stückel entgegenspränge, wie es die lustigste Almerin selbst nicht besser hätte zusammendichten können. Zudem haben nach unserm bayerischen Geschmacke namentlich die Wiener Poeten eine gewisse weichliche Süßlichkeit, eine erkünstelte Niedlichkeit in diese Liedchen hineingebracht, welche uns gar nicht behagen will. Auch finden wir ihre Gedichte sehr oft weder im Gedanken noch in der Sprache so ländlich, so bauernmäßig, als sie sein möchten und sollten.*) Unter den unsrigen ist bekanntlich Franz von Kobell auch im Fach der Schnaderhüpfel der geschätzteste Autor. Ihn nennt Friedrich Hofmann nicht allein den besten Alpenjäger, sondern auch den besten Dialektdichter Deutschlands. Man sagt ferner, dass seine Schnaderhüpfel leicht ins Volk übergehen, wofür folgende Geschichte als ein Zeugnis gelten kann. Ein junger Landbeamte, selbst ein Freund des Volksgesanges, sah sich jüngst in die traurige Notwendigkeit versetzt, zwei aufgeweckte, liederkundige Bursche wegen eines Raufhandels im Wirtshause auf achtundvierzig Stunden einsperren zu lassen. Um sie etwas zu beschäftigen, gab er ihnen ein paar Bogen Papier mit und ersuchte sie, ihm eine kleine Blumenlese ihrer Leibstückeln zusammenzuschreiben. Die Burschen willfahrten auch gerne und überreichten ihm, als sie die Strafe erstanden, etwa ein hundert Liedchen, welche sie aus dem Gedächtniß gesammelt und niedergeschrieben hatten. Der junge Herr Assessor nahm die Gabe mit Vergnügen zur Hand, begann sie sogleich zu lesen, zu mustern und zu prüfen, fand aber bald und nicht ohne einige Überraschung, dass mindestens die Hälfte dieser Liedchen solche waren, die er schon früher mit Wonne in Franz von Kobells Schnaderhüpfeln gelesen.

*) Zum Beispiel, um gleich aus den Hofmannschen Abhandlungen ein Klesheimisches Stücke! herauszunehmen:

Mei Dirnl hat zwa Äugerln
So klar wie a See;
Aus an guckt an Engerl,
Aus dem andern a Fee.


Ich weiß nicht, wie viele Taler in Tirol, wie viele Landgerichte in Bayern man ausgehen müsste, bis man einen Buben fände, der bei Betrachtung schöner Mädchenaugen an die Feen dächte. Ob die Leute am Wienerwald mit der keltisch-romanischen Mythologie viel besser vertraut sind, muss ich dahingestellt sein lassen.

Was nun endlich die Stellung des Schnaderhüpfels zum gebildeten Publikum betrifft, so ist diese gleichwohl keine so innige und heimliche, als manche deutsche Landsleute über dem Main und Fichtelgebirge vielleicht denken möchten. Als z. B. ein sonst sehr liebenswürdiger Hanauer auf einem Münchnerkeller sich unlängst Mendelssohnschen Liedern ausgesetzt sah und mit einer gewissen seinen Schmeichelei den Sängern zurief: Laßt das uns in unserm kalten Norden; hier sollt ihr nichts singen als euere herrlichen Alpenlieder, euere Schnaderhüpfel — erregte er in doppelter Richtung ein eigentümliches Befremden, einmal weil er die Hanauer schon zu den gebildeten Norddeutschen rechnen wollte, anderseits weil er fast zu glauben schien, das Hochgebirge fange allbereits beim Schleibingerbräu in der Schwabinger Gasse an und die Almenkühe grasten in unserm Ständesaal. Dem ist aber wirklich nicht also, und was die Schnadelhüpfel angeht, so mag sich es wohl treffen, dass hin und wieder ein Maler oder Dichter, der viel auf dem Land herumschlendert, nicht nur deren fertigt, sondern auch etwa ein Mal eine kleine Tracht neu aufgebrachter mit in die Stadt bringt, aber im Ganzen ist der Verkehr und der Betrieb doch keineswegs beträchtlich. Dies kommt wohl nur daher, dass — wenn man's sagen darf — die Freude an diesen Liedchen gar zu vergänglich ist. Das echte und rechte Schnaderhüpfel gleicht nämlich einem Rätsel — die ersten drei Zeilen sind wie eine Frage und die vierte ist die Antwort darauf. In dieser muss immer eine überraschende Wendung, eine unerwartete Aufklärung, eine neue Moral, etwa auch eine nicht geahnte „Dummheit oder Sauerei“ vortreten.*) Ist die Auflösung aber einmal gefunden, so hat das Rätsel seinen Reiz verloren.

*) Für jene Leser, welche eben keine Schnaderhüpfel im Gedächtnisse haben, wollen wir hier einige bekannte Beispiele vorführen:

Jetzt Hab' ich zwei Schatzerln,
Ein alt's und ein neu's;
Jetzt brauch' ich zwei Herzeln,
Ein falsch's und ein treu's.

Oder:

Die Vögerln haben Kröpferln,
Da singen s’ damit;
D' Frau Bas' hat ein' Kropf,
Aber singen kann s nit.

(Beiläufig eines der verbreitetsten Stückeln, das bis in Thüringen und im Schwarzwald gesungen wird.)


Oder:

Je höher die Alm,
Desto größer der Wind;
Je schöner das Dirnl,
Desto kleiner die Sünd!

Oder:

Der Meßner von St, Peter
Ist ein kreuzbraver Mann;
Er bet't was er mus,
Und sauft, was er kann.


Wenn wir auf die bekannte Frage, wo Adam den ersten Löffel genommen, die Antwort einmal wissen, so kann uns dieses Spiel kaum mehr zum geistigen Genusse dienen. So kommt uns auch ein Schnaderhüpfel, das wir zum zweiten Male hören, schon sehr bekannt vor, und wenn es noch öfter in unsren Ohren wiederhallt, so springt das Vergnügen gar bald in Gleichgültigkeit und selbst in Unbehagen um. Wer hier immer neu und überraschend sein wollte, der müsste ein paar hundert Stückeln auswendig wissen und gleichwohl selber ohne Unterlass nachdichten — aber das Gedächtniß der meisten ist für jenes und die Phantasie für dieses zu schwach. Deswegen sind sie denn auch in unsrer subalpinen Hauptstadt nie so recht oder wenigstens nicht auf längere Zeit Bestandteil der Unterhaltung und Pflegekind der Gesellschaft geworden — ja es gibt viele, welche unruhig werden, wenn man ihnen nur ankündigt, dass jemand in der Stube sei, der Schnaderhüpfel singen wolle, weil sie nämlich alsogleich befürchten, mit alten und längst vernommenen Gsangeln zum hundertsten Male behelligt zu werden. Und aus diesem Grunde kann man allerdings behaupten, dass die Gesänge andrer Völker, als zum Beispiel die Romanzen der Spanier, die Balladen der Schotten zwar weniger prickelnden Reiz, aber mehr Dauerhaftigkeit in sich tragen, als die Lieder unsers Hochlands.

Ein wahrer Sturm von Alpenhaftigkeit ging einmal in den dreißiger Jahren über München hin. Die Schnaderhüpfel waren plötzlich Mode geworden. Die ganze junge Welt, Jünglinge und Mädchen, sammelten, sangen, verbreiteten sie (eine Beschäftigung, wobei immer eine gewisse Auswahl notwendig ist), die Zeichner illustrierten die Liedchen, die Musikmeister setzten die lieblichsten Walzer nach dem „Lauterbacher“ und nach dem „schönen Schweizerbuben,“ Tänze, die ich gerne wieder einmal hören möchte; kurz, man war überglücklich, in diesen unversiegbaren Born des Volkslebens hinabsteigen zu können — aber mit einem Male war die Manie auch wieder vorüber und sie ist jetzt eben so vergessen, wie so vieles Andere, was die Zeiten gebracht und genommen haben.

Mit diesen Betrachtungen wollen wir aber niemanden die Freude verderben, bekennen vielmehr selbst, dass wir ein klassisches Stückel unter günstigen Umständen zu Bayrisch-Zell oder wie es einst die schönen Huldinnen zu Fischbachau dahinsangen, immerdar als eine höchst erquickliche Gabe unsrer Volkspoesie entgegen genommen und genossen haben. Diese Liedchen könnten auch fast auf den Glauben hinleiten, dass das gemeine baiwarische Volk, wenigstens unter den europäischen, zu den witzigsten zu rechnen sei — ein Zug, der nach einiger Pflege und unter dem jetzigen Fächeln seiner konstitutionellen Freiheiten selbst bei den Gebildeten dieses Stammes vielleicht bald deutlicher hervortreten dürfte. — Auch gegen die Vervielfältigung durch den Druck wollen wir nicht eifern, obgleich uns die Schnaderhüpfel in den Büchern gesammelt fast vorkommen, wie die Blumen im Herbarium. Fehlte es doch nicht an gewichtigen Stimmen, welche diese gedruckten Liedchen selbst als Preisbuch in den Volksschulen anempfehlen wollten — eine Neuerung, deren Folgen erst abzuwarten wären. Bisher galt allerdings der Unterricht in der Liebe nicht als Aufgabe der Volksschule, vielmehr blieb der Gegenstand der reiferen Jugend selbst überlassen, welche dessen auch, wie die Erfahrung zeigt, ohne höhere Anleitung in der Regel bald Meister zu werden pflegt.

Am andern Morgen, die Zell verlassend, war ich wieder allein und ging im grünen Tal der Leizach an den Füßen des Wendelsteins dahin bis an den Hagenberg, wo Haus und Hof des Steffelbauern stehen. Man hat schon einmal versucht, diesen interessanten Landmann dem Publikum vorzuführen, wie er Anno achtundneunundvierzig war, umgeben von seinen Broschüren, unterstützt von Pierers Universallexikon, vertieft in seine Plane zu Deutschlands Wiederherstellung. Es war in jener Zeit wirklich ein literarischer Glanz um ihn, der jetzt leider fast ganz erblichen ist. Auch er selbst, seine Person, kam mir kleiner, unscheinbarer vor als dazumal. Er schien planlos im Hause herumzutrödeln, zerstreut oder auch verlegen, wie einer, den man einst im Überfluss gesehen, und der nun mit Mühe seine Ärmlichkeit zu verbergen sucht. Auf dem schmalen Tische nämlich, wo vormals die Zeitungen, Flugschriften, die stenographischen Berichte der Nationalversammlung gelegen, da lagen jetzt nur gelbe Rüben und Erdäpfel. Ja, wo habt Ihr denn, fragt' ich neugierig, Euere Journale, Broschüren, politischen Schriften? — Omnes composui, entgegnete der Landmann mit wehmütigem Lächeln, „ich habe sie alle beigesetzt und begraben.“ Wie, vernichtet? „Hm, die Weibsbilder haben sie nach einander zum Fensterputzen verwendet und ich hab nit viel abgewehrt — was nutzt das Zeug?“ Steffelbauer, sagte ich sehr überrascht, Ihr seid ja eine gefallene Größe! — „Ich bin,“ sprach dieser, „mit Deutschland gefallen. Um selbige Zeit, wo man noch geglaubt hat, es wird etwas von heut auf morgen mit dem deutschen Reich, da hat, mein Eid, ein jeder mittun müssen, wenigstens in Gedanken, aber jetzt, wo's wieder der Bundestag betreibt, wo man nicht weiß, ob's unsre Kinder noch erleben, jetzt geht ein vernünftiger Mensch wieder seinem bürgerlichen Geschäft nach und pfeift auf die ganze Politik!“ — Nur das Pierer'sche Universallexikon konnte vor dem fensterputzenden Frauenvolk gerettet werden und steht noch in alter Pracht in seinem Schranke. Wir warfen einen teilnehmenden Blick auf seine siebzehn Bände und schieden dann fast verstimmt. Er war für das Tal von Bayrisch-Zell wie eine historisch-politische Akademie gewesen, der Steffelbauer, und es ist Schade, dass ihn die deutschen Zustände so gründlich um die gute Laute, ja fast um alles Vertrauen gebracht haben. Vielleicht erlebt er doch noch eine Wiederauferstehung seiner schönsten Hoffnungen. Vor der Hand konnte ich ihm, obschon ich mehrere wohlmeinende und beredsame Freunde im Nationalverein besitze, gleichwohl nichts Sonderliches versprechen. (Seitdem ist auch dieser Freund ins bessere Jenseits abgegangen.)

Übrigens, wenn auch der Steffelbauer jetzt der historischen und politischen Literatur den Rücken kehrt, so finden sich doch im Landgerichte Miesbach noch andre Bauersleute, die der Lektüre und den Wissenschaften hold sind, ja es ist kein Zweifel, dass solche Bibliophilen allenthalben im Gebirge wie im Hügellande und einzelnweise, doch seltener, auch in der Ebene vorkommen, nur dass sich ihr literarisches Dichten und Trachten scheu verbirgt und kaum anders als zufällig an den Tag tritt. Einen zweiten Landmann dieser Art hat z. B. August Becker vor ein paar Jahren am Seehamer See auf der Hochebene zwischen Mangfall und Leizach aufgefunden. Er beschrieb auch seiner Zeit gar anmutig, wie er denselben an einem heißen Sommertag in Hemd und Hosen, ohne Schuhe und Strümpfe auf seinem Hofe, bei seinem Butterfass betroffen, wie der Landmann sogleich große Kunstliebe gezeigt und von ihm, den er für einen Maler gehalten, alsbald ein Konterfei seines Hauses und seiner Ehefrau erheischt, dann aber sich als Besitzer einer Landkarte, mehrerer Geschichtsbücher und eines antiquarischen Katalogs erwiesen, ihm auch erzählt habe, wie er sich von Zeit zu Zeit aus der Stadt die Bücherverzeichnisse schicken lasse, um sich jene Nummern auszulesen, die er wieder kaufen wolle, wenn er nach München komme.

In Neuhaus, der einsamen Schenke, welche nicht fern vom obern Ende des Schliersees liegt, fand ich zufällig wieder einen Gefährten, mit dem ich gerne weiterzog. Derselbe war aber kein anderer, als der Eckartbauer von der Wörnsmühle, draußen im Miesbacher Hügelland, welcher sich aufgemacht hatte, um auf seiner Alm am Spitzingsee ein wenig nachzuschauen und bei seinem Töchterlein, das dort waltete, in Heimgarten zu gehen. Es war ein würdiger Herr, groß, grau, bieder, ernst, wortkarg, doch freundlich in seinen Erwiderungen. Wir stiegen und stiegen gemächlich das neue Sträßchen hinauf, das in vielen Windungen nach dem Hochtal führt, und blieben mitunter stehen, um die liebliche Aussicht zu genießen, die zumal den idyllischen Schliersee und seine Dörfer umfasst. Beim Anblick dieser Landschaft fiel mir das jüngst erschienene Tagebuch ein, welches August von Platen hinterlassen hat. Auch dieser unser Dichter pilgerte einst im Jahre 1817, da er noch ein Lieutenant war, an jenes stille Seegelände. Am ersten Junius erwachte er zum erstenmal in dem freundlichen Tale und schrieb in sein Tagebuch: „Welch' ein ganz anderes Erwachen diesen Morgen, als mein erster Blick auf den friedlichen See und seine Ufer fiel, und das Lied der Vögel mir entgegenschallte!“ Er wohnte beim Pfarrer in einem Eckzimmer, dessen Fenster einerseits gegen Garten und See, anderseits gegen St. Georgs Kapelle auf dem Weinberg sich öffneten. Morgens um vier Uhr stand er täglich auf und las die Odyssee. Mit dem Pfarrer, dem Kaplan, doch meist allein, durchstreifte er die Gegend, besuchte die Mühle im Josephstale, die alte Burgruine Hohenwaldeck, die Almhütte auf dem Kuhzagel, den Pfarrer zu Bayrisch-Zell, das Schloß zu Brannenburg, die Brecherspitze, und kam selbst bis Jenbach in Tirol. Am Skapulierfest finden wir ihn auch in der Kirche zu Fischbachau, wo er die Predigt anhört von den Wunderkräften des heiligen Skapuliers, von den gräßlichen Qualen des Fegfeuers, aus denen die heilige Jungfrau alle Samstage eine Anzahl Seelen erlöse usw. Diese Predigt brachte den jungen Dichter als Protestanten, der von solchen Dingen nichts versteht, gar bald aus der Stimmung. „Ich beklage das Volk,“ sagt er, „dem solche Speise geboten wird.“

So blieb er bis zum Oktober, machte sich dann reisefertig, um in die Stadt zu ziehen, und schrieb in sein Tagebuch: „Die Menschen sind doch immer anziehender als die Natur; deshalb freue ich mich, meine Freunde in München wieder zu sehen. Hier fesselten mich Pflanzen und Steine und Bäche, nicht die umgebenden Menschen.“ Diesen Ausspruch konnte man dem Dichter jetzt fast übel nehmen, da man seit Erfindung der Dorfgeschichten annimmt, dass auch der Landmensch in mehrfacher Beziehung interessant sei. Oder fangt der anziehende Mensch wirklich erst beim Städter an? Haben dem poetischen Gast die umgebenden Schlierseer, das freundliche, lebhafte Völklein, gar keine Theilnahme abgewonnen! In der Tat sagt er nichts von der Frische der „Buebn“ und den Reizen der Jungfrauen, nichts auch von „dem naiven und kühnen Inhalt“ ihrer Lieder, die ihn doch als Dichter hätten fesseln sollen, und kein Wort von der jungen Lisel, der gefeierten Fischerlisel, die damals wie eine blühende Feuerlilie in dem Liebesgarten des Dörfleins prangte. O wunderlicher Dichter mit zwanzig Jahren, den am Schliersee dazumal nur Pflanzen, Steine und Bäche „fesselten!“

Der Eckartbauer merkte vielleicht, dass ich an August von Platen dachte, und ging daher seines Weges ganz schweigend fort, bis wir endlich oben waren auf der Spitzingalm, wo die fünf einsamen Hütten stehen. Wir richteten unsern Lauf nach jener, die gen Osten liegt, und aus welcher ein blaues Wölklein aufstieg. Etwas weiter unten in der grünen Niederung rauschte ein Bächlein zu Tal, an welchem ein Mädchen beschäftigt war. „Dort wascht sie ihre Milchkübel aus,“ erläuterte der Eckartbauer, und ging ohne Aufenthalt in die Hütte. Die äußere Halle, in welche man durch ein Gatter eintritt, ist eigentlich die Küche, enthält einen niederen Herd mit dem Käsekessel, allerlei Geschirr und ein Loch, durch welches der Rauch abzieht, der sich aber dabei so wenig beeilt, dass das ganze Sparrenwerk schwarz erglänzt von Ruß. Dahinter anstoßend findet sich der Stall mit verschiedenen Abteilungen für die verschiedenen Gattungen des Viehes.

Nachdem der alte Herr einige prüfende Blicke auf alles dies geworfen hatte, sprach er: Jetzt gehen wir dahinein! und klappte eine Seitentür auf. So betrat der Fremdling an der Hand des Vaters das Schlafgemach der Tochter, welches freilich auch Empfangs- und Speisezimmer ist. Wir setzten uns und ruhten etliche Minuten, bis durch die aufgehende Tür ein halber Mädchenkopf hereinguckte, der aber nur die Worte: je, der Vater! von sich stieß, und dann wieder verschwand. Der Alte lächelte ein wenig, blieb aber ruhig sitzen. Nach einiger Zeit kam die Tochter, die sich mittlerweile ziemlich sauber gemacht hatte, wieder vor unser Angesicht und begrüßte den Vater, indem sie ihm freundlich die Hand gab. Der Eckartbauer, ganz wie ein alter Römer mit dem Ernst der väterlichen Gewalt in jedem Zug, schaute ihr ohne Gemütsbewegung ins jugendliche Antlitz, erwiderte nachlässig ihren Gruß, und redete dann so beiläufig weiter, gerade als ob sie unten auf dem Eckarthofe beisammen säßen und nie auseinander gekommen wären. Das ist ganz richtig in der Art des Bauern, und muss nach seiner Ansicht auch so sein. Jähzornig, wild oder auch ausgelassen fröhlich sich zu zeigen, gilt für männlich und bringt keine Unehre — aber zärtlich, gefühlvoll, empfindsam, das wäre weibisch und würde nicht geachtet.

Die innere Einrichtung des Stübchens glich übrigens jener andern, welche wir in der Almenhütte zu Arzmoos beobachtet. Die Liegerstatt war ebenso aufgetürmt, das Gemach getäfelt und sonst sehr behaglich, da eine Sitzbank herumlief, und die hellen, nicht zu kleinen Fenster die angenehmste Aussicht gewährten. Was die Erquickung betrifft, so konnte zwar die gastfreundliche Wirtin keinen Käse auftischen, da das Vieh erst vor wenigen Tagen herausgetrieben worden war, aber Butter, Milch und Brot war gut und reichlich zur Hand. Zuletzt kam sogar ein Fläschchen voll scharfen geistigen Inhalts hervor. In nebliger Frühe statt schlechten Kaffees ein Gläschen Kirschenwasser zu nippen, gestatten nachgerade selbst die Moralisten und Bußprediger des Hochgebirges. Betrübend ist es aber, dass in den obstreichen Vorbergen, im Ur- und Erzland dieses Geistes, wo jeder Bauer sich seinen Vorrat des echtesten im Schranke hält, die Wirtshäuser, selbst an der Eisenbahn, so ganz entsetzliche Wässer spenden. Das schlechteste trifft man zu Truchtlaching an der Alz, wo die alte Wirtin auf die Frage: ob das wirklich „Kirschengeist?“ empfindlich zur Antwort gibt: „das weiß ich nit, aber kaufen tu ich es dafür.“ Um doch auch einmal etwas nützliches zu stiften, möchte ich in diesem Punkt gern als Denunziant auftreten, und es sollte mich freuen, wenn untersucht würde: wie viel oder wenig Gift in einer solchen Bouteille durchschnittlich enthalten sei. Man untersucht jetzt so viele Stoffe, die kein Mensch je trinkt, warum soll man nicht auch jene untersuchen, von denen des Pilgers Leibschmerzen, Siechtum und früher Tod abhängen können?

Übrigens wäre ferner zu bemerken, dass das Gemach, welches die Eckartbauerntochter auf der Alm bewohnte, auch sonst noch mancherlei Zierde aufwies. Zwischen den beiden Fenstern hing ein gekreuzigter Heiland, der einen Kranz von frischen Alpenblumen trug; neben der Türe pickte eine Schwarzwälderuhr, auf der andern Seite glänzte ein Spiegel als Freund und Schiedsrichter bei der Sonntagstoilette. Die Schriften unserer beliebtesten Münchener Autoren sucht man in solcher Höhe allerdings vergebens; nur alte abgerissene Gebetbücher, die man unten in der Ebene nicht mehr brauchen kann, verleben hier oben ihre letzten Tage. Als einiger Ersatz für mangelnde Literatur waren aber da allenthalben die verschiedensten Bilder aufgeklebt, geistliche und weltliche, sämtlich von L. Wenzel in Wissembourg. Jetzt wird's mir aber doch zu arg mit dem Herrn Wenzel von Wissembourg! Kloster Weißenburg im Elsaß hat zwar einen guten Namen in der deutschen Literaturgeschichte, da dort vor tausend Jahren unser Otfried die Evangelienharmonie gedichtet und den Reim in deutscher Sprache eingeführt, aber was ist's denn eigentlich mit dem Herrn Wenzel, und warum überschwemmt denn dieser Wissembourger die bayerischen Almhütten mit seinen Bildern? Und noch dazu scheint er sich ganz eigens dafür eingerichtet zu haben, denn er druckt und malt die beliebtesten Heiligen und die interessantesten Darstellungen aus dem Gemsjäger-, Sennen-, Fischer- und Bauernleben, die wir seit dreißig Jahren auf dem Münchener Kunstverein und sonst in Öl gesehen. Mitunter schickt er auch Kabylenscharmützel, die Belagerung von Sebastopol und selbst die Schlachten von Magenta und Solferino. Ja, wie kommen denn diese Bilder daher? fragt natürlich jeder, der für solche Sachen ein Auge hat. Ei, sagt die Almerin, es kommen eben die Händler herauf und bringen sie zu Hunderten. Und was sagt denn ihr dazu, ihr Herren Kunst- und Bilderhändler in der kunstreichen Hauptstadt München und warum sieht man denn in unsern Almhütten eure Bilder nicht? Habt ihr's nicht nöthig, oder was denn?

Und nunmehr nach gebührendem Dank für die freundliche Aufnahme, wieder weiter, ganz allein an den Spitzingsee hinunter, welcher, von stillen Berghäuptern umfriedet, selbst still und glatt die Sonne spiegelte, und jetzt, von der Hitze ermattet, zu gähnen und bald in den Mittagschlummer fallen zu wollen schien. Der Weltenschöpfer hat ihm zwar nur die Länge einer starken Viertelstunde zugemessen, aber ihn dafür dreitausend dreihundert Pariser Fuß über das mittelländische Meer erhoben; seine grünen Wasser brechen sich bald an niedern Wiesen, bald wechselnd an Laub- und Nadelholz. Dieser verlassene aber liebliche See schaut uns sehr anspruchslos und unbefangen an, und man sieht auch wirklich nicht ein, was er eigentlich hier oben zu tun hat. Keine Gondel durchschneidet seine Flut, kein Sommerhäuschen, kein Badehüttchen für reinliche Münchener oder Münchnerinnen ziert sein Gestade, nicht einmal ein Mitglied des Fischerklubs belebt das einsame Ufer.

Gleich unter dem grünen See, wo seine Gewässer durch eine Klause springen und mit ziemlichem Geräusch über Felsengestein dahineilen, um sich bald im Walde zu verlieren — dort steht in der schönen Wildnis; ein Leuthaus, d. h. ein steinernes Gebäude, in welchem des Winters die Holzknechte wohl gewärmt die Nacht zubringen, und über dem Bach im Schatten der Buchen zeigt sich eine Hütte, die Wurzerhütte benannt, welche in der Nachbarschaft nicht ohne einigen Ruf ist. Es liegt ein kleines Gärtchen vor ihr, und rings herum sind schmale Gange, Treppen, Sommerbänke und Tische niedlich angebracht. Unverkennbarlich spielt etwas Romantik um das niedere Dach, ja wer mit dem rechten Blick davor hintritt, wird fast von selbst zu der Überzeugung kommen, dass es ein Hüttchen für ein glücklich liebend Paar sein müsse. Und in der Tat, dort drinnen waltet die märchenhafte Wurzerburgel und ihr Lebensgefährte Jörgel schlechtweg — er soll nämlich zwar einen Zunamen führen, doch scheint niemand zu wissen, wie er eigentlich lautet. In ihrer Jugend sollen sie beide frisch und schön und sich unendlich teuer gewesen sein, aber die Hand zum ehelichen Bunde durften sie sich nicht reichen. Flüchtig vor den Verfolgungen, mit welchen unsere kühlen Institutionen ihre warme Liebe zu zügeln suchten, begaben sie sich damals in den Urwald hoch herauf, wo der entlegene See seine kleinen Wellen schlägt, wo die Bächlein entspringen, die Buchen einsam rauschen, und die flüchtigen Gämslein ungeschoren über die stillen Alpenweiden ziehen. Da erbauten sie die kunstlose Hütte und begannen aus Wurzeln und Kräutern geistige Wässer zu brennen, wie sie der Holzknecht bei der kalten Winterarbeit nicht ungern trinkt. Oft verscheucht und mehrfach getrennt wußten sie sich doch immer wieder zusammenzufinden, und ermüdeten endlich ihre Verfolger. Und so sehen sie jetzt ruhig dem Ende ihrer Tage entgegen, welches sie wohl auch unter dem Dach erreichen wird, wo sie das Glück ihrer Jugend verlebt.

Es stand eben gebückt im Garten, das seltsame Waldweib, und musterte seine Kräuter aus. Auf meinen Zuruf erhob sie sich und führte mich in die Hütte, wo jahraus jahrein der kleinen Fenster wegen ein gemütliches Halbdunkel herrscht, das an düstern Wintertagen wohl in graue Dämmerung übergehen mag. Dann zeigte sie mir das Laboratorium mit den einfachen Geschirren, aus welchen ihre Schnäpse hervorgehen, und dann setzten wir uns unter den Baldachin der Bäume vor die Türe am rauschenden Bach und singen an zu plaudern.

Burgel ist schon weit über die schönere Hälfte des Lebens hinaus, aber noch gut bei Kräften und nicht arm an Verstand. Sie spricht noch die Mundart des Zillertals, ihrer Heimat, mit dem weichen Klang und den kernigen Formen, gerade so, wie sie sie in ihrer frühesten Jugend von der lieben Mutter erlernt hat. Von der großen Welt schallt zwar wenig herein in die Wurzerhütte am Spitzingsee, doch ist der alten Einsiedlerin nicht unbekannt geblieben, dass sich in diesem Jahr auch schon die deutsche Literatur mit ihr beschäftigt hat. Es ist nämlich noch nicht lange her, seit die „Gartenlaube“ ihrer und ihres Jugendfreundes mit Teilnahme gedachte. Ich wünschte ihr Glück zu dieser Auszeichnung, aber sie meinte: was sie von andern höre, die das „Zoig“ gelesen, sei es eben nicht zu ihrem Ruhm, und hätte ihr daher leicht was angenehmeres passieren können. Sie scheint etwas empfindsam zu sein, oder vielleicht haben ihr mutwillige Touristen ganz andere Dinge erzählt, als in der Gartenlaube zu lesen waren.

Jetzt brennt die Wurzerburgel zumeist Kalmus, Brunnkresse und Enzian. Sie setzte mir auch von allen dreien vor, aber im Vergleich mit dem seinen, den Vorbergen entsprossenen Wasser auf der letzten Alm wollten mir diese rauhen „Geister“ des Hochgebirges nicht recht munden. Und doch beruht auf ihnen der Ruf der Hütte, und sie locken selbst gekrönte Häupter unter das niedere Dach — wie denn schon verschiedene Majestäten in diesem traulichen Stüblein an den verschiedenen Schnäpsen genippt haben. Auch Friedrich Wilhelm IV. von Preußen kehrte, von Tegernsee kommend, hier ein, umgeben von etlichen vornehmen Herrn, und die Burgel erzählt noch mit Rührung, wie er ihren Enziangeist so gern versucht, wie aber seine Begleiter da widergeraten und ihn daran verhindert hätten. Trauriges Bild menschlicher Hinfälligkeit, der vielberufene Preußenkönig, von welchem Deutschland einst so Großes erwartete, damals, nachdem alle Hoffnungen gescheitert, und während seine Manteuffel-Westphalen zu Berlin wirtschafteten, hier in der Schnapshütte, wie er mit seinen Höflingen um ein Glas Enzian ringt! — Über Betragen und Manieren ihrer hohen Gäste äußert sich übrigens die alte Burgel sehr anerkennend. Minder seine Potentaten, welche ihre gesalbte Stellung nur benützen, um den verblüfften Nebenmenschen straflose Unarten ins Gesicht zu sagen, solche würde sie, die mutige Zillertalerin, ohnedies nicht dulden unter ihrem Dach. Aber ihre Liebe gehört gleichwohl dem ganzen Menschengeschlecht, und während vielleicht ein hochherziger Völkerfürst hier vorne gnädigen Abschied nimmt, schleicht dort hinten eine schüchterne Sennerin herein, setzt sich zu demselben Glas, an dem jener genippt, und wartet in holdseliger Ungeduld auf einen jungen Älpler, der ihr da ein Stelldichein gegeben. Da man's doch schon gedruckt gelesen, so darf es wohl wiederholt gesagt werden, dass die gute Burgel in Erinnerung der brennenden Liebespein, die ihre Mädchenjahre so oft beunruhigte, jungen Pärchen eine sittsame Zusammenkunft unter ihren Augen gern gestattet, was ihr nicht zu verdenken, da sie ja als Wirtin alle ehrlichen Leute aufnehmen muss, die von ihrem „Geist“ begehren.

Jörgel, ihr eisgrauer Gespann, war eben ins Wurzelsammeln gegangen und daher heute nicht zu sehen, aber mit der Burgel plauderte ich ein halbes Stündchen vergnügt dahin und ging dann meiner Wege, bald bereuend, dass ich mich nicht länger aufgehalten, denn eigentlich hätte ich sie doch, da sie mit dem Bericht, den die Gartenlaube über ihre Jugend gegeben, nicht ganz zufrieden war, um ihre eigene Anschauung bitten und ihre Erzählung vernehmen sollen — gewiß der schönste Stoff für eine Dorf- oder Berggeschichte, den ich aber großherzig einem fleißigem Nachfolger überlasse.

Und wieder eine Strecke weiter unten überrascht uns in der schönen Einöde ein Rauschen, welches, wenn wir ihm folgen, auf einen Wasserfall hinleitet, auf den zierlichen Wasserfall der Valepp. Er ist einfach und reinlich, und ergötzt das Auge, ohne den Sinn zu betören. Es ruht sich auch so angenehm in dem lichten Wald und in dem monotonen Wasserbrausen, und wer keine Eile hat, kann sogar einnicken und ein Stündchen von Deutschlands Zukunft träumen, da er das Forsthaus, wo er vielleicht über Nacht bleiben will, doch noch ohne Mühe erreichen wird.

Auch ich nickte damals vor Ermüdung ein und schlummerte unter den Buchen und träumte — Und in diesem Kapitel will ich auch nicht mehr aufwachen, in der Hoffnung, dass der freundliche Leser ohne mich eben so gut hinausfinden wird durch das wildschöne Tal der Valepp und dann an der stürzenden Rothach hin nach dem lieblichen Tegernsee!


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderung im bayrischen Gebirge