Seon

Wer etwa aus dem im vorletzten Kapitel beschriebenen Abenteuer mit dem freundlichen Hausmeister schließen wollte, dass ich im Sommer 1861 gar nicht nach Seon gekommen, der würde sich nur täuschen. Vielmehr war ich dieses Jahr schon einmal im Frühling dort, um zwei Freunden aus Tirol die liebliche Gegend und ihre Schönheiten zu zeigen, und ein andermal im Juli, um das Quartier zu bestellen, welches wir dann, wie das Zwiegespräch am Stege zu Seebruck bewiesen, nicht erhalten sollten, und als wir in diesem Dorfe Herberge genommen, besuchte ich, alle Rachegedanken vergessend, zum dritten Male das alte Stift, um daselbst am wohlbesetzten Mittagstische, wenn auch nur vorübergehend, das Dichten und Trachten der Badegäste zu studieren und mich an ihren artigen Sprüchen zu erfreuen. Nebenbei gesagt habe ich auch gerade über diesen Ort in alten und neuen Büchern seither mancherlei gefunden, so dass es mir gar nicht am Zeuge fehlt, um ein lesenswertes Kapitel herzustellen, welches denn auch sogleich hier folgt:

Donna Amalia, einst des Kaisers Dom Pedro von Brasilien Ehegemahl, des seligen Eugen Beauharnais, weiland Vizekönigs von Italien schöne Tochter, hatte über dem Weltmeer und unter den Palmen von Rio de Janeiro so wenig als auf der paradiesischen Höhe von Cintra oder in Lissabons Palästen das gemütliche Bayerland und die ragenden Gipfel seiner Alpen je vergessen. In stiller Sehnsucht nach der Heimat gab sie daher eines Tages ihrem Intendanten, dem Herrn Rat Otto, die Weisung, jene Herrschaft zu Stein, wo in schauerlichem Felsenhorst einst der wilde Heinz gehaust, und nachher auch die alte Abtei Seon, eine Stunde vom nördlichen Gestade des Chiemsees gelegen, als ein vaterländisches Besitztum zu erwerben. Und so geschah es auch nach ihrem Willen. Das Schloss zu Stein aber ward zum friedlichen Landsitz für die Herrscherin, das alte Kloster dagegen zu einer Badeanstalt für das heutige Publikum bestimmt. Letzteres, von blauem Gewässer fast rings umflutet, war jedoch in weltlichen Händen dem Verfalle nahe gekommen und der Ruf, dass hier eine heilkräftige Quelle sprudele, nahezu verschollen. Jetzt galt es also mit frischem Mute und mit reicher Spende den alten Bau wieder herzustellen, die Zellen der Mönche für gebildete Gäste in Stand zu setzen, auch den edlen Gesundbrunnen wieder in Rand und Band zu fassen und zum Besten der leidenden Menschheit zu verwenden. Eine besondere Sorgfalt waltete dabei auch im nahen Stein über jener Flüssigkeit, die wir nicht entbehren können, über. —


Also schon wieder beim Nationalgetränke! Ja, aber fast nur, um seinen Verfall zu beweinen, welcher unaufhaltsam vorzuschreiten scheint. Wo sind sie hingegangen, die schönen Zeiten, da man, wie einst Wolfgang Menzel schrieb, in jedem bayerischen Wirtsstüblein zwei unvermeidliche Dinge fand, nämlich gutes Bier und schlechte Zeitungen? Unsere Tagblätter, diese tiefsinnigen Ausleger der laufenden Weltgeschichte, haben seitdem zwar an Genießbarkeit gewonnen, jedoch nicht in dem Maße, dass der Geist, der in ihren Spalten weht, den mangelnden Gehalt auf jener anderen Seite ganz ersetzen könnte. In der Tat will das Nass, das zwischen Holzkirchen und Berchtesgaden aus adeligen und bürgerlichen Pfannen fließt, selbst von patriotischen Kehlen nicht viel gelobt werden*). Die Sachsen und die Preußen aber, die in unserm Gebirge wandern, sie lachen nachgerade über unsere Schöpfungen, und laden uns nach den neu eröffneten norddeutschen Quellen ein, wenn wir gutes „bayerisches Bier“ trinken wollen! (Welch schmerzlicher Hohn!) Unsere besten Braumeister, heißt es, sind in die Fremde gegangen, wohl über die Elbe und über den Rhein, und nicht blos nach Stockholm und Christiania, sondern bis nach Cincinnati und nach St. Louis, wo sie die Schlünde der Republikaner mit derselben Flüssigkeit erquicken, die einst die Unterzeichner der Wasserburger Adresse gelabt. Vielleicht, dass diese Eingeweihten einmal wieder verschrieben und mit blau-weißer Schuljugend unter Glockenklang und Vortritt des hochwürdigen Landklerus, der fast am meisten leidet, eingeholt werden. In unsern Gauen scheint sonst kein Heilmittel mehr zu verfangen, wenn auch im letzten Sommer ausnahmsweise Bernlochners Garten zu Rosenheim und Bücheles Keller zu Traunstein einen würdigen Abendtrunk gewährten. Die trefflichsten Verordnungen, in gediegenes Schweinsleder gebunden, drohen bändeweise von dem landgerichtlichen Bücherbrett herunter, aber die auserlesensten Staatsanwälte, die bekanntlich in allem Übrigen den reichen Brauer wie den armen Söldner zu behandeln wissen, sie zucken die Achseln und sprechen leise:

Quid leges sine moribus
Vanae proficiunt?

[Was nützen die Gesetze uns, die eitlen, wenn gute Sitten fehlen?
oder
Was helfen Gesetze, hohl, ohne der Sitten Gebot.]

*) Ich darf nicht verhehlen, dass die Erzeugnisse der bessergesinnten Brauherrn zwischen Holzkirchen und Berchtesgaden in den beiden letzten Jahren wieder eine höhere Stufe einzunehmen suchten, wobei ich natürlich weit entfernt bin, diese löbliche Erscheinung meinen allerdings sehr ernsten Mahnungen beizumessen.

Die Getränke im Chiemgau, zu Reichenhall und am Königssee rühmen sich nämlich, wenn nicht ihrer harmlosen Leere, doch ihrer Taciteischen Bitterkeit. Mit diesem Safte, meinen viele, wäre die Geschichte der Ministerien Mauerstein und Abel, der politischen Untersuchungen, des bayerischen Ultramontanismus, der Zug nach Hessen und anderes Ähnliches zu beschreiben. Was bleibt uns aber, nachdem der edle Born versiegt ist, der einst unsern Ruhm in alle Welt getragen? Da wir ohne Auszeichnung doch nicht leben können, so spricht die innere Wahrscheinlichkeit dafür, dass wir uns nunmehr, wenn nicht mit Melchior Meyr auf die „Poesie des Geistes,“ doch auf das vaterländische Drama werfen und auf der Höhe des boischen Parnasses jene Bedeutung wieder erringen werden, die uns in der Tiefe der Märzenkeller verwirkt ist. So könnte sich es treffen, dass am Ende der Dramendichter in der allgemeinen Achtung noch über den Braumeister zu stehen käme, was kulturhistorisch sehr merkwürdig wäre und eine neue Ära bezeichnen dürfte. Dann würden wohl auch unsre Buchhändler, die regsamen Männer, bei hohem Adel und sonstigem Publikum nicht bloß mit Gebet- und Kochbüchern, sondern auch mit andern vaterländischen Artikeln ein bescheidenes Glück zu finden vermögen.

Was ich aber eigentlich vorbringen wollte und mit ungeübter Hand kaum recht zu Tage fördern kann, ist eine Huldigung, nämlich für die Kaiserin von Brasilien, deren Brauhaus zu Stein errichtet ist und seinen Segen auch in der alten Abtei zu Seon sprudeln läßt, sowie für den erhabenen Sudherrn zu Tegernsee. Beide halten fest an den Traditionen der vergangenen Zeit und walten mit fürstlicher Hand über ihren Pfannen, so dass diesen ein Getränk von alter Tugend und Lauterkeit entquillt, wie wir solches schon früher an andern Orten belobt haben. Und diese werte Gabe erhält ihnen unter dem dankbaren Volk auch einen teueren Namen von eben so gutem Klang, als wenn sie etwa die Schlacht bei Ampfing malen oder die Geschichte von sieben Landgerichten hatten schreiben lassen.

Zu Seon, auf diesem einst heiligen Eiland, kann man auch mancherlei dahin Gehöriges denken oder lesen aus den ältesten Zeiten und aus den neuesten. In letzterer Beziehung nennen wir wiederholt den englischen Roman The Initials, der zumeist in diesen Gegenden spielt und selbe auf den britischen Inseln fast berühmter gemacht hat, als sie bei uns sind. Leider war er der Badebibliothek noch nicht einmal in der deutschen Übersetzung einverleibt, eine Saumsal [Nachlässigkeit], welche ich dieses mal ernstlich rügte und die seitdem auch gutgemacht worden ist. Wichtiger aber noch sind die Erinnerungen aus den alten Tagen, denen schon mancher gute und träumerische Geselle, wie ich, mit Gewogenheit nachhing. Selbst dieses mal gelingt es mir nicht so ganz, ihnen aus dem Wege zu gehen, obgleich mich mein schätzbarer Freund Levin Schücking wegen derartiger Schwächen bereits als einen Romantiker entlarven zu müssen glaubte, und solchen Vorsatz sowohl in der Allgemeinen Zeitung *) von Augsburg als auch in einem andern Blatte mit einem Eifer verfolgte, der fast eines edleren Zieles wert gewesen wäre. Zieht uns denn aber nicht (um die Sache beim fasslichsten Ende zu fassen) das Entlegene und Unbekannte immer mehr und kräftiger an als das, was jedem nahe liegt und allen geläufig ist? Einem Reisenden, der von Mozambique oder Singapur kommt, hören wir ihm nicht lieber zu als einem Wanderer, der nur von Bopfingen oder Blaubeuren zu erzählen weiß? Und geht es nicht mit den Zeiten wie mit den Ländern? Sind die alten Geschichten nicht anziehender als die neuen? (Homer behauptet zwar — Od. I. 351 — das Gegenteil, doch scheint dies einer der wenigen Irrtümer des großen Dichters.) So möchte ich z. B. lieber mit einem deutschen Ritter, der unter Gottfried von Bouillon [1060-1100] Jerusalem erstürmt, eine Flasche Liebfrauenmilch leeren, als mit einem Voltigeur [Leichte Infanterie unter Napoleon I.], der unter General Hautpoul [1754-1807]der neulichen Expedition nach Syrien beigewohnt hat. Die Lebensumstände des weisen Chadoindus, der unter König Dagobert (630) Mitglied des baiwarischen Gesetzgebungsausschusses gewesen, würden mir, wenn seine längst vermißte Selbstbiographie noch aufzufinden wäre, viel interessanter scheinen, als das Erdenwallen unseres verehrlichen Wiguleius von Kreitmayer, der im vorigen Jahrhundert das bayerische Landrecht redigiert hat und den 27. Oktober 1790 zu München verstorben ist. Damit soll aber nicht gesagt sein, dass man lieber unter der heißen Sonne von Mozambique oder Singapur leben möchte, als im kühlen Schwabenlande, oder lieber zur Zeit Gottfrieds von Bouillon und König Dagoberts, als in der unsrigen, wo wir wegen unsrer deutschen Eintracht und Bruderliebe allenthalben geachtet und gefürchtet werden, wo uns die wachsende germanische Seemacht zu täglich wachsender Bedeutung verhilft, und nur Zustände wie in Kurhessen, Hannover, Nassau, im Wiggers'schen Mecklenburg, wo die gutsherrliche Prügelfreiheit wieder neu erblüht, und in vielen andern deutschen Staaten uns noch erinnern, dass wir Menschen sind. Dass man aber aus der Vorliebe für alte Türme, byzantinische Portale, verblichene Wappenschilder und abgetretene Grabsteine einen Anlaß nehmen müsste, sich dem großen, Freiheit bringenden Gang der Zeit entgegenzusetzen, das wird selbst mein lieber Freund nicht behaupten wollen, wie denn auch vollgültige Zeugnisse beizuschaffen wären, dass ich dieselbe noch nicht um eine Minute aufgehalten habe. Übrigens meine ich sogar: den schlechten Pilger muss man belächeln, der nie bedenkt, auf welchen historischen Boden er tritt. Ist dies richtig, so wäre es immer zu entschuldigen, wenn sich ein unzünftiger Liebhaber auch mit schwachen Kräften in diesem Stück zu bilden und das nervöse, streitsüchtige Volk von heute mit guten und anziehenden Nachrichten aus der alten Zeit zu beruhigen suchte. Einige Neuere, wie z. B. ein begeisterter Naturforscher zu Halle, behaupten zwar: nur wer eine konzentrierte Kenntnis der Blümlein und der Baumgewächse, der Moose und Flechten, des Trachyts [ein Ergussgestein] und Dolomits in sich herumtrage, sei im Stande der Gnade und würdig, die Länder zu beschreiben, die er forschend abgelaufen; allein nach der Meinung der Mehrheit bleibt eine solche Beschreibung, die von dem Menschen und seiner Geschichte gar nichts weiß, eben auch ein Stückwerk, wie die unsrigen.

*) Beilage vom 13. September 1860.

Ist es aber nicht ein sprechendes Zeugnis von den geheimen Reizen dieses Chiemgaues, dass Gelehrte mannigfacher Art sich so gerne an die alten Schriften setzen, um seine zweifelvolle und oft sehr dunkle Geschichte zu enträtseln? Was die Kinder des engern Vaterlandes auf diesem Boden getan, verbietet die Bescheidenheit zu melden — manchmal haben sie freilich mehr nach dem Gefühl als nach den Urkunden geschrieben. Nur der unwiderstehliche Trieb, dem Lieblingshelden irgend ein namhaftes Schicksal zuzuwenden, kann es z. B. erklären, wenn unsere bayerischen Chiemgowisten den Stifter Aribo von Seon, der sein Schlösslein in ein Benediktinerkloster umarbeitete, dem schmerzhaften Tod unter den Hörnern eines Auerochsen preisgeben, während doch dieses Unglück nur seinem Urahn Aribo, dem Grafen in der Ostmark, allein zusteht. Mit weniger Gemüt und schwerfälliger Hand, aber mit sicherem Tritte, haben zwei Geistliche aus Österreich die alten Stammregister neuerdings durchgegangen, gebessert und ergänzt, damit auch in dieses Wirrsal einige Ordnung und erhebliches Licht gebracht, nämlich Professor Filz von Michaelbeuren und Professor Pritz von St. Florian.*) In neueren Tagen, d. h. vor drei Jahren, kam auch vom Rhein herauf Herr Victor Scheffel, der einst den Ekkehard verfasst, des Weges, lagerte sich in diesen Revieren ein und trieb gegen den Geist der Zeit verschiedene Romantik. Er hat die Gabe, dass ihm oft, wenn er den ganzen Tag darüber nachstudiert, des Abends die alten Gestalten redend werden, worauf er dann, ihren alten Dialekt verstehend, manches Merkwürdige zu vernehmen glaubt. Ihm schienen nun des Nibelungenliedes willen die Seoner Grafen eines scharfen Anschauens besonders wert, und so ging er bedächtig den Pfad der obengenannten Forscher, mischte aber allerlei andere Kundschaft über alte Poesie und Sagen bei, und ließ mir vor nicht langer Zeit ein schriftliches Wort darüber zugehen mit dem freundlichen Anerbieten, mich zu begleiten, wenn ich einmal selber in die Vorzeit wandern möchte.

*) Geschichte des salzburgischen Benediktinerstifts Michaelbeuren von Michael Filz, Conventual desselben und Professor der Weltgeschichte. Salzburg, 1833. Geschichte der steierischen Ottokare von F. X. Pritz, Chorherrn und Professor des Bibelstudiums — in den Beiträgen zur Landeskunde für Österreich ob der Enns und Salzburg. Linz, 1846. Letzterer schrieb auch die Geschichte des Landes ob der Enns und der Stadt Steyer.

Die Witterung scheint dem Unternehmen jetzt günstig, und also auf zu einem Ritt in die alte Zeit oder, wie man früher sang, ins romantische Land! Hinter uns liegt, von Seerosen umblüht, ein alt, aber fest und wehrhaft Gemäuer (bedeutet Seon, weiland eine Burg), linker Hand sieht man den Innstrom an den Grafen von Wasserburg und Formbach vorüberziehen bis gegen Passau, wo ein Bischofssitz und die Gebeine berühmter Martyrer. Zur Rechten ragen die Städte, grünen die Fluren und die Felder der Ostmark, in denen einst St. Severin gepredigt, mit dem hohen Schloss zu Enns, wo man seiner Zeit die Avaren aufzuhalten pflegte. Nicht weit davon ist ein Kirchlein, St. Florian geweiht, dem römischen Veteranen, der hier seines Glaubens wegen in der Enns ertrinken musste, später und noch zur Zeit ein hochansehnliches Chorherrenstift, in alter und neuer Historie wohl erfahren. Ganz nahe dabei starrt im Grase leicht verborgen der Gräuel der Verwüstung, welcher einst über Lorch gegangen, der glänzenden Römerstadt Laureacum, von welcher Passau seine erzbischöfliche Würde herzuleiten suchte. Auch Kremsmünster tut sich auf, die agilolfingische Abtei, schon frühe reich und mächtig, doch damals noch ohne seine Sternwarte, die an den Turm zu Babel mahnt, aber mit dem Stiftungsbecher Thassilos, der mir erst neulich so gefallen hat. Weiter drinnen, gegen das Gebirge hin, wo zwei Alpenströme schön zusammenfließen, liegt die Styraburg, jetzt Stadt Steyer, von Alters her berühmt durch ihre Eisenschmieden. Die Donau, das schiffreiche Gewässer aus Schwaben, rinnt dämmernd durch das fruchtbare Land an jungen Weinhügeln vorüber, und es tauchen in ihren Wogen zuweilen Meerweiber auf, welche des Abends schauerliche Lieder singen. Sie fließt im Auge der norischen Alpen an Rüdigers Pechlarn, an dem hohen Melk, der letzten Ungarn-Feste auf deutschem Boden, vorbei und hinunter in märchenhafte Länder, wo man einst von Goten, Gepiden [früherer germanischer Stamm im heutigen Rumänien] und Herulern [germanischer Volksstamm aus Skandinavien] gehört, wo auch die Sage von König Etzel und Frau Helchen und von dem Untergang der Burgunden noch nicht verschollen ist. Es liegt ein feenhafter Morgenduft über dem neuen deutschen Land, über seinen neuen Burgen, Gotteshäusern und Klosterzellen, deren Glöcklein helle durch die Lüfte schallen. Auch die deutschen Ansiedler sind alle frisch und keck und liederreich, dasselbe wohlgeschlachte Geschlecht, wie es jetzt noch lebt zu den Füßen des bayerischen Hochgebirgs. Was mich betrifft, so reite ich einen gutmütigen Zelter [leichtes Reitpferd oder Maultier], der den Weg mitunter nicht recht weiß; neben mir aber trabt auf einem strebsamen kundigen Rösslein mein Führer und Freund, den ich oben genannt. In seiner Hand hält er ein historisches Fernrohr, mit dem er weit hinauf in die Vorzeit schaut, bis zu den Hunnen und darüber hinaus; an seiner Seite hängt eine Harfe und ein Reisesack, in welchem viel altes Pergament, vergessene Sagen und Lieder enthaltend. So ziehen wir dahin, den alten Weg, der von Bayern in die Ostmark führt. Wir pflegen dabei kurzweilige Gespräche, singen auch zu guter Stund mit rauer Stimme einen alten Gesang aus der Rabenschlacht oder anderer Heldendichtung.

Wie jene einst im Chiem- und Salzachgau gebietenden Isengrime, Aribone, Sigharde und Ottokare, deren Namen im neunten und zehnten Jahrhundert auch die Ostmark erfüllten, zuerst hierorts gewaltig wurden, und wo ihres Stammes Wiege gestanden, ob drüben unweit Chieming in der „Gravenstadt,“ deren Kirche zum heiligen Maximilian als eine der ältesten im Gau verehrt wird — oder zu Zeitlarn an der Alz, oder auf der flutumspülten Burg im kleinen See von Seon, oder ob sie die Enkel jenes berühmten Ernest's sind, der unter Ludwig dem Deutschen Heermeister (militiae magister), Graf im Nordgau und Schwiegervater König Karlmanns gewesen — darüber wird auch die eindringlichste Forschung genealogisch sichern Beweis zu erbringen kaum mehr vermögen. Kühne Vermutung mag sogar fränkisch nibelungisches, den Pipiniden und dem Stamme Karls des Großen verwandtes Blut in ihren Adern ahnen und auf die Zeit zurückgehen, da Bayern seinen Volksherzogen genommen und, wie Eginhard kurz aber vielandeutend sagt, fränkischen Grafen „zum Regieren überlassen“ wurde. Wenn die Steine des ehemaligen Stephannsklösterleins zu Otting bei Wagina, uns seines schon unter Thassilos Herzogtum im Lande sesshaften Gründers Gunthar Herkommen, Schicksale und Deszendenz erzählen könnten, möchte manches aufgeklärt werden, das jetzt noch in jenem — für manches Gemüt übrigens nicht unangenehmen halbmythischen Nebel verhüllt liegt.

Genug, dass sich schon unter den letzten Karlingern die Schleier zu lüften beginnen, und wir bereits um das Jahr 876 einem namhaften Aribo begegnen, dem, als die Ostmarkgrafen Wilhelm und Engelschalk in den Kämpfen mit den Mähren gefallen waren, das schwierige Grenzland des Traungaus als gräfliches Verwaltungsgebiet übertragen wurde. Er blieb dem Volke noch lange unvergessen, und es sang seine Taten, wie es noch jetzt den Prinz Eugenius singt. Dieser Aribo aber ist der mit dem Auerochsen und zugleich ein Stifter der Grafen von Seon, deren viere aus der Urkunden vergilbten Windeln mühselig herausgesäubert werden. Der dritte war es, der sein Schlösslein Burgili, das jetzige Seon, (994) St. Benedicts Jüngern übergab, vielleicht aufgemuntert von seinem andächtigen Sohne, dem letzten Aribo, der schon jugendlichen Alters in den geistlichen Stand getreten war, das Kloster Göß bei Leoben stiftete und später als Erzbischof zu Mainz Leben und Geschlecht beschloß.

Die Grafen, die einst auf der Burg zu Seon geblüht, waren aber auch unten in der Steiermark zu Haus, und standen ihnen dort viele Huben, Feld und Wiesen, Wald und Weide, gebautes und ungebautes Land, Fischnutzen und Waidwerk zu. Wer jetzt von der Steiermark zu lesen kommt, dem fällt zunächst die schöne Musik von dem Dachstein und mancher andere steirische Jodler ein, was aus sanften Fräuleinskehlen so wehmütig klingt und so sehnsuchtsvoll an die Salondecke hinaufwirbelt — auch die steirischen Gämsenjäger mischen sich vielleicht in das Gefühl und die grünen Hütchen mit dem breiten grünen Bande, wie sie der ehemalige Reichsverweser trug — der Geschäftsmann denkt an das steirische Eisen, der Jüngling an die steirischen Mädchen — 's ist gleichwohl nicht alles, was man schönes von der Steiermark erwähnen könnte, aber dass diese deutsch geworden, das verdanken wir zum guten Teil den Nachkommen Aribos, den Herren zu Seon. Sie waren unter den vordersten und ersten, welche die deutsche Ostmark und jene an der Steier, vielmehr das heutige Österreich gründeten, welches immerhin ein herrliches Land ist, mag es auch zeitenweise der Art regiert worden sein, dass weder die Österreicher noch andere Leute eine Freude daran hatten.

Freilich sind seit jenen Tagen neunhundert Jahre vergangen, und die Leute, die damals berühmt waren, sind es jetzt nicht alle mehr. Sie verließen sich auf die cantilenae [mehrstimmiger Liedsatz] des Volkes, auf Dichter und Bänkelsänger, dachten in den Liedern fortzuleben und hielten dagegen ihre Schreibereien und Registraturen in gar schlechter Ordnung. Auch führten sie meist die nämlichen Namen, legten sich aber nicht, wie die Fürsten von Reuß und andere Potentaten [Machthaber] wohlweislich tun, fortlaufende Nummern bei, so dass man, wie schon an einem andern Ort gesagt, von einem dieser Häuptlinge nur selten mit Bestimmtheit weiß, ob Er selbst, sein Vater, sein Sohn, sein Neffe oder Geschwisterkind gewesen. Aber es bleibt eine Wahrheit immerdar: sie waren verdiente Männer und allezeit Mehrer des Reichs, so dass sie zu Ehren baiwarischer Leistungen immerhin etliche Morgenstunden unserer historischen Erstlingsforscher in Anspruch nehmen dürften. Dabei könnten diese nebst andern auch die interessante Frage untersuchen: warum die alten bayerischen Grafen der Ostmark in den Liedern fortlebten, während sich doch jetzt kein namhafter Poet entschließen kann, unsern Markgrafen in der rheinischen Westmark oder gar die bekannte Zelebrität zu Z** ausführlich zu besingen, so dass sich beide wohl begnügen müssen, in anerkennenden Schnaderhüpfeln auf die Nachwelt zu gelangen.

Dieses wollen wir aber nur vorausgeschickt haben; denn eigentlich müssen wir wieder auf Aribo, den tapfern Grenzgrafen zurückgehen und auf die von ihm mitgekämpfte und mitverlorne große unglückliche Schlacht des Jahres 907 an der Donau, darin der Markgraf Luitpold, der Stammvater der Schyren, Scheyern, die wir heute noch als Wittelsbacher verehren, und die Bischöfe von Salzburg, Freising und Seben mit dem Kern des bayerischen Heeres unter der ungarischen Übermacht dahinsanken. Seit jenem Tage lag nämlich auf lange Zeit alle Wehr darnieder, und wenn es auch da und dort zu siegreichen Treffen kam, so waren sie doch nicht entscheidend. Die Ungarn, so sie nicht etwa um Byzanz, um Capua und Otranto, in Aquitanien oder im mitternächtlichen Deutschland auf Raub aus waren, verwüsteten ohne Widerstand das offene bayerische Land, brannten Dörfer, Klöster, Städte nieder, schleppten unermessliche Beute davon, und Männer, Weiber, Kinder mit den Haaren zusammengebunden in die Knechtschaft. Sie tranken damals Blut, fraßen rohes Fleisch und schwelgten in jeder Grausamkeit. „Ihre tierische Rohheit,“ sagt z. B. Dümmler in der Schrift über den Bischof Pilgrin von Passau, „kann von den Zeitgenossen nicht schwarz genug geschildert werden; auch trieb sie nicht, wie einst die Germanen, das Bedürfnis, Land zu erringen, von dessen Bebauung sie leben könnten, sondern einzig und allein die Lust am Plündern, Brennen, Morden. Jene kolonisierten, diese verwüsteten. Wären sie doch nicht einmal im Stande gewesen, je ihr eigenes Land ohne fremde Hilfe aus einer Steppe in fruchtbringenden Acker zu verwandeln.“ König Geisa, solches wohl einsehend, gab daher seinem Sohn den väterlichen Rat, fremde Ankömmlinge auf das beste aufzunehmen, denn durch der Aeneaden Ankunft sei ja auch Rom so groß geworden. Nachmalen, als König Stephan, der Gemahl der bayerischen Gisela, das Christentum eingeführt, die bayerische Komitatsverfassung kopiert und die Deutschen eingeladen hatte, das Land zu menschlicher Sitte zu bringen, als es ihm gelungen war, eine wahre Blumenlese aus den germanischen Gesetzen und Einrichtungen nach Ungarn zu verpflanzen, nur nicht die Hochachtung der Frauen*), trat zwar eine Wendung zum Besseren ein, doch möchten die damaligen Einwanderer, die ihre Leute kannten, wohl eher geweissagt haben, dass der Magyar auch nach neunhundert Jahren noch die Juden prügeln und die Christen foltern, als dass er mit dem Homerischen Epithel „hochherzig“ in manchen deutschen Zeitungen herumziehen werde. Und ob die bayerischen Aeneaden, diese Erzieher und Wohltäter des rohen Volkes, wohl vorausgesehen haben, dass ihre Enkel etwa noch um neun Jahrhunderte später durch die ungarische Dankbarkeit dermaßen ins Gedränge kommen würden, dass sie selbst ihre deutschen Namen ändern und in fremder Verlarvung Schutz vor Brutalitäten suchen müßten?

*) Büdinger, österreichische Geschichte (S. 410), aus der wir auch einige andere Wahrheiten schöpften. Wie anerkannt, ein vortreffliches Buch.

Endlich nach der Schlacht auf dem Lechfeld (955), als die Macht des deutschen Imperiums weithin leuchtete und schreckte, als im Osten, im Donaulande wieder einige Sicherheit eintrat, finden wir also die Seoner wieder drunten an der Mur, in der schönen Steiermark. Nur selten verstrickt in die Händel „draußen im Reich,“ hatten sie sich einem segensreichen Kolonialberuf gewidmet, beschützten die deutschen Hinterwäldler, die biedern Chiemgauer, die ihnen gefolgt, vor den Einfällen der räuberischen Nachbarn, welche nach Stephans Tod alsbald wieder anhoben, bekehrten die Slowenen, die aus magyarischer unter bayerische Botmäßigkeit gekommen, und lehrten sie das Idiom der Nibelungen. Der Deutsche dachte damals noch so groß von sich, dass er es für ein Werk der Menschenliebe und Barmherzigkeit ansah, den Ungar, Tschechen, Wenden zu germanisieren und ihn so zu einem höhern Leben emporzuheben. Der Magyar und der Slave aber hatte damals noch so viele Selbsterkenntnis, dass er für solche Veredlung dankbar war.

Von demselben Aribo, dem berühmten, dem Markgrafen in der Ostmark, welchen der Wisent erstochen, stammen auch die Grafen im Traungau ab, die gefeierten Ottokare, ein friedfertiges, aber kluges und kraftvolles Geschlecht. Einer derselben baute da, wo die Enns und die Steyer sich vereinen, in reizender Gegend, um 980 die Styrapurg, unter deren Schutz sich bald die Stadt Steyer erhob. In dieser vielbesungenen Burg war viel ritterliches Leben, in ihrem Rosengarten wandelten schöne Frauen, in der Halle klang der Lieder voller Schall, und von den Wänden glänzte reiche farbige Malerei. Fahrende Dichter kehrten da gerne ein, um von den alten Recken zu singen und zu sagen, vom alten Dietrich, vom Zwergen Luarin, von Biterolf und Dietleib und der Rabenschlacht. Ist es doch kaum mehr bestritten, dass alle diese Lieder hier entstanden sind, und vielleicht hat auch das Lied der Nibelungen auf der Styrapurg jene Herrichtung erfahren, in der wir's jetzt am liebsten lesen. Dass der Dichter die Donau viel besser kennt als den Rhein, ist schon eine alte Beobachtung.

Aber zum Geschlechte desselben Aribo zählten auch die andern Grafen im Salzburg- und im Chiemgau. Aus dieser Sippschaft ging der hochsinnige Erzbischof Friedrich hervor, dessen schlauer Neffe, Herr Pilgrim, Bischof von Passau, sein ganzes Dichten und Trachten darauf verwendete, mit Evangelienbuch, Schwert und Pflug, auch mit etwas Hinterlist, durch Fertigung falscher Urkunden u. dgl., wozu der gläubige Sinn der Zeit ermunterte, das Osterland der magyarischen Verwüstung zu entreißen, dem Stuhl von Passau zu unterwerfen und ein festes Bollwerk des deutschen Reichs daraus zu bilden. Darum auch wollte dieser „großartige und heilige Mann,“ wie ihn Zeitgenossen nannten, für den Nachfolger der Metropoliten von Lorch erachtet werden, als welche einst ganz Pannonien in kirchlicher Ordnung gehalten haben sollten. Den Pflegern der deutschen Literaturgeschichte ist der hochwürdigste Bischof bekanntlich deswegen lieb und wert, weil er die Sage von den Nibelungen durch seinen Schreiber Konrad aufzeichnen ließ, welcher ihn denn auch aus Verehrung in das burgundische Königshaus versetzte und zu Kriemhilds Oheim empordichtete. Dass ihn aber auch der liebe Gott für einen ausgezeichneten Mann gehalten, zeigten die vielen Wunder, welche später an seinem Grabe geschahen.

Und so, nicht minder als die Laien, ging damals die Priesterschaft an das Werk. Bischof Abraham von Freising versandte sein bayerisches Christentum weit hinunter ins Kärntnerland, und die Münchner Bibliothek bewahrt noch jetzt das Buch Freisingischer Missionäre mit den slavischen Übersetzungen ihrer Gebete. Abrahams rüstige Nachfolger blieben seinem Gedanken anhänglich und kolonisierten mit Macht auch bis ins Marchfeld. Nicht minder saß in solchen Planen der heilige Wolfgang, ein ritterlicher liederkundiger Schwabe aus Pfullingen, später Bischof von Regensburg, ein Freund des Seoner Aribo und seiner Gemahlin Adala, gar gerne auf seiner Beste zu Pechlarn, die dem Hochstift Ludwig der Deutsche geschenkt, und in der altberühmten Harlungenburg, welche mit Weiteneck am linken Donauufer und Wieselburg im Erlafftal ein kleines Festungsviereck bildeten, das der Ostmark lange guten Schutz gewährte. Auch die bayerischen Klöster, Tegernsee zumal und Niederaltaich, sandten ihre Mönchlein aus mit Spaten und mit Hacke, um jenseits des Wienerwaldes Kirchen zu bauen, Weinberge anzulegen und das Deutschtum zu begründen.

So ist also beinahe das ganze Osterland eine Errungenschaft des Fleißes und des Muts der alten Bayern. Noch heutzutage beweist dies die Gleichheit der Sitten und des Volkscharakters deutlicher als die Urkunden; noch heute reicht dieselbe Mundart mit auffallender Unveränderlichkeil bis über den Wienerwald hinunter, ja nach Pesth und Ofen und in zahlreichen Sprachinseln bis vor die Tore von Belgrad. Ein schönes Stammgebiet fürwahr vom Lech bis an die Leitha, vom Fichtelgebirge bis nach Istrien — im Norden das reiche, fruchtbare Hügelland, von der Donau durchströmt, im Süden die herrlichen Alpen und über diesen die warmen Länder an der Etsch, das bojoarische Hesperien. Dazu ein Überfluss an kraftvollen Männern in der Priesterschaft sowohl als im Kriegerstande, große Erinnerungen aus der Zeit der letzten Karolinger, da Bayern das deutsche Hauptland gewesen, auch die schönsten Anlagen im Volk, wie bald die Maler und Baukünstler in den Klöstern und die Sänger in der Ostmark und im tirolischen Gebirge zeigten. Leider dass der Stamm nicht länger beisammen blieb und sich fremder Fürsten wegen spalten musste, als gerade die rühmlichsten Zeichen seiner geistigen Begabung ans Licht traten. Lange ist es allerdings her, aber Schade ist es vielleicht noch zu dieser Stunde um den achten Herbstmonat 1156, um den Tag bei Regensburg, den letzten Todeshieb, als Kaiser Friedrich aus des bayerischen Adams Rippe das reizende Herzogtum Österreich bildete und die Länder schied für ewige Zeiten. Die schönere, bald auch die größere Hälfte ward so den ruhmreichen Herren des neuen Wiens zu Teil; das minder anmutige Flachland blieb bei dem alten Namen, aber ohne die alte Kraft, noch auf Jahrhunderte hin durch Teilungen und innere Kriege zerklüftet. Mit jenem Tag also ist die Einheit des Stamms gebrochen worden und der Trost nur darin zu finden, dass es den andern deutschen Stämmen auch nicht besser ging. Aus dem alten kolossalen Granitfindling sind zwei Mühlsteine geworden, die sich beständig aneinander rieben. Kein Stamm hat sich aus dynastischen Interessen selber so mißhandelt, wie der bojoarische, und zwar so arg, dass man wirklich kaum mehr sagen kann: „Was sich liebt, das neckt sich.“ Welcher Hass war früher zwischen unseren Leuten und den Tirolern, Österreichern andrerseits! Wie viel Jammer und Not, wie viel Blut und Tod führt beiden Hälften die Geschichte der vergangenen Zeiten vor! — Was das geistige Kapital betrifft, das damals in den mittelhochdeutschen Dichtungen und Kunstbestrebungen angelegt war, so reichte dies gleichwohl in günstigen Wetteifer mit dem übrigen Deutschland bis nach der Zeit der Reformation. In jenen Tagen legte sich allerdings der Genius der Völker, welcher vom Lech bis an die Leitha wohnen, zu einem zweihundertjährigen Schlafe nieder. Die geistige Genügsamkeit, die man nicht widersprechen kann, die aber auch auf dem Mangel an Städten und dem Übergewicht des Bauernstandes beruht, sie ist dem Stamme gleichwohl mehr angezogen als angeboren. Dass es nicht blos ein gutes Bauernvolk, sondern auch wohl geeignet sei, am rechten Ort eine ungeheure Metropole herzustellen, das zeigt sich die Weltstadt an der Donau, das einzige Wien.*)

*) Den Münchner Ehrengästen der löblichen Ostbahn sind bei dem letzten Besuche Wiens außer manchen großen Erscheinungen besonders drei kleinere aufgefallen: nämlich erstens, dass in Gast-, Wirts-, und Weinhäusern der Eintretende mit unübertrefflicher Sorgfalt und Schnelligkeit bedient wird, während man in München nur dann zufrieden sein kann, wenn man erst zehnmal gerufen und sich später die Sache selbst geholt hat; zweitens, dass den Nervenschwachen und Kranken das grausame Spiel des Zapfenstreiches schon längst geopfert worden; drittens, dass die Löschanstalten so verlässig sind, dass nur die allernächsten Nachbarn sich um einen Brand kümmern. Die Pompiers fahren auf ihren Wagen ohne Glockenschlag, Trommelwirbel und Posaunentöne rasch durch die durch Straßen, und kein Mensch sieht ihnen nach. Etliche Ehrengäste, welche nach heimischer Weise fragten: Wo brennts? wurden schnell als Münchner erkannt. Dass man, wenn bei uns in Giesing Nachts ein Hundestall brennt, die Leidenden und Wöchnerinnen bis nach Nymphenburg hinaus durch unsinnigen Lärm zu erschrecken sucht, würde man in Wien kaum glauben und verstehen. (Nach Aufklärungen, die ich seitdem von zulässiger Seite erhalten, ist auch bei uns jener unsinnige Lärm nicht mehr reglementmäßig, sondern entsteht nur zuweilen durch Übereilung und überspannten Pflichteifer.)

Einstweilen sollte aber nur erinnert werden, welch' alter Blutsverwandtschaft wir „Südostdeutsche“ verfallen sind. Wie lebhaft dieses gemeinsame Stammgefühl im günstigen Augenblick wieder aufwacht, das war vor fünf Jahren, als die Österreicher durch ihre bayerische Urheimat hindurch in den Krieg zogen, leicht zu gewahren. Noch streiten die Weisen: ob es nicht besser gewesen, wenn ganz Deutschland damals mitgegangen wäre — wir lassen aber die interessante Frage lieber fallen, durchaus nicht geneigt, den Hader der Parteien auch in die Seoner Sommerfrische hereinzuziehen.

Da wir aber einmal an so ernsthaften Dingen sind — die Mehrzahl der Leser wird sich ohne dies schon verflüchtigt haben, und ich sehe im Geiste nur noch ein kleines, aber anhängliches Häuflein über dieser Seite sitzen — so mag auch erwähnt werden, dass in neuerer Zeit ein bedeutendes Rätsel aus Seons frühesten Tagen gelöst worden ist.

Kaiser Otto III. sagt nämlich in einem Diplom, welches er zu Gunsten der Stiftung erteilte: es seien die Gebeine des heiligen Bischofs Lampert bis an den Grenzsaum des parthischen Volkes verbracht, dort aber
göttliche Fügung entdeckt, nach Bayern zurückgeführt und von dem Grafen Aribo frommen Sinnes in seinem Sitz zu Seon aufgenommen worden.

Dieser wunderlichen Angabe sind schon manche Studien gewidmet worden. Man erfand mit Heranziehung der fränkischen Araberkriege in Spanien eine Reiseroute für die heiligen Gebeine, welche zwar geistreich, aber doch auch unglaublich war. Karl Martell, der sie angeblich mitgeführt, sollte sie nämlich in Spanien an die Ungläubigen verloren, diese sie über die Meerenge von Gibraltar an die parthische Grenze nach Asien verschleppt, dort einem Christen überlassen, und letzterer sie wieder nach Bayern gebracht haben. Nun muss man aber bedenken, dass die gelehrten Mönche damaliger Zeit für die ungläubigen Nachbarvölker jeden beliebigen Barbarennamen aus hebräischer, griechischer und römischer Geschichte zu verwenden liebten. Die Carmina Burana, welche Schmeller herausgegeben, enthalten z. B. ein Klagelied über das Mißgeschick der Christen im gelobten Lande, welches unter den Heerscharen, die Saladin gegen Jerusalem führt, auch Szythen, Massageten[waren ein indoeuropäisches Reitervolk aus dem 6. Jahrhundert v. Chr.], Sarmaten, Vandalen und, was für Dr. Quitzmann interessant sein dürfte, selbst Quaden angibt. Wer damals im gebildeten Deutschland sich elegant ausdrücken wollte, vermied den noch zu modernen Namen der Ungarn und setzte dafür lieber mit klassischem Anstrich: die Parther. So erklärt sich auch, dass unter dem parthischen Grenzsaum nur die ungarische Grenze, damals unterhalb Melk, zu verstehen sei. Freilich, wie die Gebeine dorthin gekommen, bleibt uns immer noch unbekannt und muss weiteren Forschungen überlassen werden, die wir gerne unterstützen würden.

Dem sei aber wie ihm wolle — auch im letzten Jahr erfreute sich das Bad zu Seon wieder eines ununterbrochenen und ausgezeichneten Besuchs. (Wer dies liest, läuft vielleicht schon nächstes Jahr dahin, da der Mensch immer lieber nach jenen Orten trachtet, wo schon zu viele seiner Art beisammen sind und wo er überflüssig ist, als in die stille Waldeinsamkeit, wo er keine andere Ansprache hat, als sein eigenes Gemüt!) Zwar war ich auch schon im frühen Sommer dort, als sich nur erst die Anfänge des Badelebens bildeten und in den weiten Klostergängen ein nur selten gestörtes Schweigen herrschte. Doch erquickte die Stille und die Verlassenheit des blühenden Gartens, wo nun bald die schönsten Fräulein wandeln sollten, sowie die Öde des schattigen Sommerkellers, den nur der beredte Hausmeister und ich bevölkerten, während vier Wochen später die erlesensten Zecher sich hier zum Krüglein sammelten — denn diese Stille, Verlassenheit und Öde erfüllten gleichwohl das Herz mit guten Ahnungen einer schönern Zukunft. Mir zu Ehren, so glaubte man, hatte sich des Morgens ein neunpfündiger Waller fangen lassen, der, als er des Abends aufgetischt war, eine große Befriedigung und sichtliche Heiterkeit unter die kleine Gesellschaft brachte. Eine wohlbemessene Vereinigung von trefflichem Bier, ausgezeichneten Wallern, guten Matratzen und historischen Erinnerungen ist es ja eben, was unserm Seon sein eigentümliches Bouquet verleiht. Später aber, da ich im August, von Seebruck herüberkommend, wieder nachsah, war die Abtei zum Brechen voll, kein Kajütchen mehr zur Verfügung, und außen wie innen lauter Leben, Vergnügtheit und fröhlicher Lärm. Annoch liefern das gebildete München und die Landgerichtssitze der Nachbarschaft die meisten der Gäste — nur ausnahmsweise lassen sich auch die Leute der deutschen Mitte und des kühleren Nordens hier nieder, bereuen es aber keineswegs, wenn sie es gethan. Der vornehmste unter denen, die an der einfachen, doch lobenswerten Tafel speisten, war längere Zeit auch unser Feldzeugmeister von Lüder, der im März 1862 verstorben ist. Es sind nun gerade dreißig Jahre, seitdem er ein scharfer Kommandant von Nauplia [Hafenstadt am Argolischen Golf auf dem Peloponnes] gewesen, unter dessen Kanonen ich als Jüngling wohlbehütet im Schreibezimmer der hohen Regentschaft saß, um für das griechische Schulwesen zu arbeiten, wonach er dann, von einer Staffel der Ehre zur andern steigend, jetzt glücklich in jener Sonnennähe angekommen ist, die unter Millionen oft nur einer erreicht. Aufmerksam habe ich stets seine Laufbahn von ferne betrachtet, doch immer neidlos, zumal wenn ich ihn mit seiner Rednergabe als Kriegsminister dem bayerischen Landtag gegenüber sah. (Jene ochenstiernische Weisheit, kraft deren die europäischen Reiche nachgerade so viele Millionen für Gewehre und Kanonen, Festungen, bewaffnete Lager und Rüstungen jeglicher Art dahingegeben, dass ihnen zum wirklichen Waffentanze kein Pfennig mehr überbleibt, sie erscheint natürlich dem friedfertigen Bürger in einem andern Licht, als dem für seinen Beruf begeisterten Kriegsmann.) Trotz der ungewöhnlichen Höhe, die er einnimmt, hat sich aber Herr von Lüder immer noch jenes anspruchslose Wesen bewahrt, welches wir auch von anderer Seite als einen Vorzug süddeutscher Feld- und Kriegsobristen gern anerkennen hören. Was Anmaßung, Dünkel und Hochmut betrifft, hält ein bayerischer Feldherr gar keinen Vergleich aus mit manchem angehenden Lieutenant zu, und will auch keinen aushalten. Darf man es in jetziger Zeit, ohne dienerhaften Sinnes beschuldigt zu werden, als eine Ehre betrachten, dass man mit solchen Herren gesprochen und sich unterhalten hat, so melde ich gern, dass wir des Nachmittags hinter der Kirchenmauer im stillen Schatten saßen, und von der lauten Seoner Welt geschieden mit wenigen andern durch die Rosenbüsche auf den spiegelnden See blickten, und als ehemalige Griechenfahrer unsere schönsten Erinnerungen — Freuden und Leiden hellenischen Lebens — vorüberziehen ließen. Mir ist eben leider noch eine Art Heimweh nach den klassischen Ufern des Jlissus im Herzen sitzen geblieben, das ich wahrscheinlich auf dieser Erde nicht mehr werde stillen können. Deutschland hat sich längst wieder abgewendet von seinem ehemaligen Schoßkind, während ich, vielleicht aus Romantik, noch immer einige Sympathie dafür bewahre. Eben deshalb möchte ich aber wohl mehr von dem schönen Lande hören, als was so die Zeitungen gewöhnlich bieten, Nachrichten über Kammerdebatten, Bewegung in der diplomatischen Welt und Reisen des Hofes. Wenn doch einmal einer unsrer lieben Freunde daselbst einen aufrichtigen Zustandsartikel heraussenden und in einem Journal erscheinen lassen wollte, einen Bericht, wie es mit der Zahl der Bevölkerung steht, wie die Städte gedeihen und wachsen, was für Unterricht, für Verkehrsmittel, für Straßen und derlei Angelegenheiten geschehen ist, was sie für Bücher schreiben und für Stücke aufs Theater bringen; ob sie sich eben so innig über unsere Befreiung von der nachmärzlichen Reaktion gefreut, wie wir einst über ihre Befreiung von der Türkenherrschaft usw.? Mir geschähe mit einem solchen Bericht ein großer Gefallen.

(Obwohl es jetzt nach den Ereignissen der jüngsten Zeit nicht recht patriotisch erscheint, dem eiteln und wankelmütigen Volk der Gräcoslaven noch ein entschuldigendes Wörtlein zu widmen, do drängt es mich doch, über die Ursachen, welche das arme dürre Griechenland so weit gebracht haben, hier eine Meinung niederzulegen. Erstens hatte also das Land, zumal im Anfang an mehreren hundert Zelebritäten zu leiden, lauter Heroen aus dem Freiheitskriege, die nicht lesen und nicht schreiben konnten, überhaupt nichts arbeiten, sondern nur in heldenhafter Bärenhäuterei jene schönen Pensionen genießen wollten, die das befreite Vaterland ihnen schuldig sei. Jeder dieser Recken hatte dann wieder eine zahlreiche Sippschaft hinter sich, die mit ihm und Kraft seiner Verdienste im Reiche emporkommen und Stellen erhalten wollte. Es war unmöglich, allen diesen Forderungen gerecht zu werden, allein die alternden Helden nahmen keine Vernunft an, sondern wenn sie wieder etliche Monate in den Antichambren [Vorzimmer eines Vorgesetzten] zu Athen gesessen und nichts erreicht hatten, so pflegten sie nach Messenien oder nach Akarnanien zu gehen und dort zu näherer Begründung ihre Ansprüche einen jener zahllosen Aufstände zu veranstalten, die das Land in beständiger Unruhe hielten. Jetzt sind die alten Häuptlinge zwar meist dahingegangen, aber ihr Geist schwebt noch über den griechischen Bergen und die alte Kleftenwirtschaft hat noch lange nicht abgeblüht. — Ferner leidet das Ländchen sehr schmerzlich an der Hochschule zu Athen. Es war ein schöner Traum der deutschen Philhellenen, dass in der alten Stadt der Weisen ein Bildungsherd für das ganze Morgenland entstehen und die männliche Jugend der dortigen Christenheit bis zu den Höhen des Hämus, von den Grenzen Nubiens und Mesopotamiens zusammenströmen, in den akademischen Hainen am Cephissus neuerdings Philosophie betreiben und dann gebildet, erleuchtet und veredelt wieder in die umnachtete Heimath zurückkehren solle, um dort Bildung, Licht und edlere Menschlichkeit zu verbreiten — allein in der Praxis hat sich dies ganz anders gestaltet. Die Jungen kommen wohl aus allen Winkeln dort zusammen, lernen aber nicht viel und bleiben, statt in die umnachtete langweilige Heimath zurückzukehren, lieber in dem lustigen Athen, sitzen den ganzen Tag in den Kaffeehäusern, halten sich zu den höchsten Würden sowohl berufen als geeignet, klagen bei erreichter Volljährigkeit über den Blödsinn des Vaterlandes, das ihren Genius nicht zu verwerten, über den Despoten, der für seine Minister nie die rechte Wahl zu treffen wisse, hetzen in den zahllosen Journalen das Volk gegen die Obrigkeit, deren Tugenden allerdings auch nicht sehr hoch anzuschlagen, geben jede Mörderbande, die sich im Lande herumtreibt, für die ächten Enkel des Harmodius und Aristogitons aus und brüllen mit bei jedem Pronunziamiento [Aufruf zum Sturz einer Regierung], auch wenn deren in jedem Monat dreißig wären. Diese Hypertrophie [Überzogenheit] der Bildung ist jetzt fast ein größeres Übel geworden, als die Unwissenheit, die Amathia, über welche die vorfreiheitlichen Griechen Rhigas, Korais und andere so rührend zu klagen wußten. Hätte König Otto keine andern Staatsbürger zu regieren gehabt, als die mäßigen, arbeitsamen griechischen Bauern und Matrosen, so könnte er noch jetzt, von allen verehrt und geliebt, an den stillen Gestaden des Jlissus lustwandeln oder von seinem Schlosse aus leichte Tschibukiwölkchen über das vergnügte Athen hinblasen. — Das dritte Leiden sind die „wohltätigen Mächte“, Frankreich, Rußland und England, zumal letzteres, welches der griechischen Handelsmarine nie verzeihen wird, dass sie mit Zwiebeln, Oliven und Wasser durch die Meere kömmt, während seine Seehelden Beefsteak und Brandy verlangen, was die Spesen beträchtlich verteuert. Jeder dieser Wohltäter hält nun seine Sendlinge in dem Lande, jeder hat seine Partei, die er ködert und losgehen läßt, so oft es ihm ersprießlich scheint. Jede der drei wohltätigen Gesandtschaften ist nur ein Blasbalg, der in dem beständig brodelnden Vulkan des unglücklichen Landes nach Kräften schürt. Wer erinnert sich nicht an den edlen Don Pacifico, den Günstling des noch edleren Palmerston und an die letzte „königmachende“ Intrige des noblen Albion, das der alte Napoleon am Ende doch nicht unrichtig charakterisiert hat! Hätte man Griechenland gleich vom Anfang an dem Einfluß der wohltätigen Mächte entziehen und in ruhige, windstille Gegenden, etwa nach Pommern oder in die Uckermark verlegen können, so hätte es nicht so viele Millionen auf eine Armee und andere Schutzmittel, auf Bekämpfung von Revolutionen verwenden müssen, und sie wären wohl dem Straßenbau und anderen inneren Verbesserungen zugeflossen, und das kleine Hellas würde jetzt noch jenes Glücks genießen, dessen Schild der Bavarese gewesen und das in vielen Jahren nicht wiederkehren wird. Dieses glaubte ich für das verachtete Völklein hier sagen zu dürfen, für die modernen Gräculi, die zwar, wie die kleinen Dänen, eine lächerliche himmelstürmende Eitelkeit, außerdem aber viele liebenswürdige Eigenschaften besitzen, und deren Unglück doch zum Teil aus Ursachen hervorging, für welche sie selbst nicht verantwortlich sind.)

Hiemit schließt übrigens das vierte Kapitel hochländischer Reiseberichte, in welchem sich der Verfasser von alten Markgrafen, Nibelungen und Filzo-Pritzischen Stammbäumen gar zu weit in vergangene Jahrhunderte hinreißen ließ, so dass eine Arbeit entstanden ist, welche er nur tiefsinnigen Lesern zur Leetüre empfehlen kann, während ein oberflächlicher Geschmack, der nur flüchtige Unterhaltung sucht, vor derselben, wenn auch hier etwas spät, gewarnt zu werden verdient. Im nächsten Anlauf werden wir versuchen, durch unerwartete Mitteilungen über das alte Schloß zu Falkenstein und das Leben auf dem Petersberg, dann auch über die Bayrisch-Zeller, den Steffelbauer und die Wurzerburgel sowohl bei tief- als bei leichtsinnigen Lesern in gleichem Maße jene zufriedene und heitere Stimmung zu erwecken, deren Erzielung uns so sehr am Herzen liegt.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderung im bayrischen Gebirge