Kiefersfelden und seine dramtische Schmiede

Kiefersfelden nennt sich eine bayerische Ortschaft, welche an der tirolischen Grenze, fast unter den Kanonen der hohen Feste Kufstein, etwa acht Stunden von dem freundlichen Rosenheim gelegen ist. Die letzten Häuschen gegen Osten verhüllen sich in dem Buschwerk des Inns, die letzten gegen Westen stehen auf' den grünen Füßen des Hochgebirges. In der Anlage ist die Ortschaft weit auseinander geworfen, was aber ihrer Zierlichkeit nicht entgegenwirkt, da die einzelnen Höfe in den verschiedensten Stellungen umherlagern, meist in niedlichen Gärten unter dem Schatten reichbelaubter Obstbäume.

Kiefersfelden gehört noch nicht zu jenen Alpendörfern, die in der ganzen deutschen Welt bekannt sind, wie etwa Tegernsee oder Berchtesgaden, vielmehr ist es selbst den eigenen Landsleuten erst neuerlich näher gerückt worden, nämlich seitdem sich die Eisenbahn vorüberschlängelt und ein Stationsgebäude sich auftut. Sommerfrischler bleiben aber noch ferne und nur Herr Professor Pettenkofer hat, den mächtigen Reiz der Landschaft wohl erkennend, ein reinliches Häuschen auf der Anhöhe zu seiner Villegiatura gewählt. Die Gegend ist allerdings wunderschön oder eigentlich großartig, da gerade drüben über dem Inn der ungeheure Kaiser aufsteigt, ein wilder, langer, tief ins Land hineinreichender und schauerlich zerklüfteter Felsstock, welcher seinen Namen deswegen erhalten hat, weil er einem liegenden römischen Kaiser ähnlich sehen soll — obgleich man noch nicht sicher weiß, von welcher Seite das Gebirge betrachtet werden muss, um dem Beschauer diesen seltsamen Anblick zu gewähren. Der geeignetste Standpunkt scheint immerhin die Klause zu sein, ein zum Teil in den Berg hineingebautes Haus, das erste auf Tirolerboden, aber nicht blos gewöhnliches Haus, sondern berühmtes Wirtshaus mit einem vortrefflichen Felsenkeller, aus welchem ein sehr angenehmer Wein hervorgeht, der dann bei guter Witterung in dem duftenden Garten getrunken wird. Dieser, auf hoher Terrasse angelegt, gewährt einen herrlichen Blick auf den mächtigen Innstrom und Kufsteins erhabene Zinnen und die himmelhohen Wände des wilden Kaisers. Der Garten mit seinen schönen Blumen und seinem Springbrunnen und seiner rebenumgürteten Veranda ist auch voll süßer Erinnerungen an Freundschaft und Liebe der Sterblichen, da hier die benachbarten Brüder aus Österreich und Bayern, letztere bis von Rosenheim und Aibling, ja von München her, gern und oft zusammenkommen und sich in der freudigen Betrachtung ergehen, dass sie jetzt in derselben Landschaft fröhlich miteinander pokulieren können, wo sie früher so unbarmherzig aufeinander geschossen haben. Deswegen wird auch der Garten zu den leidstillenden Orten gerechnet, wo jene Menschenkinder, die zwar gut, aber mit Sorgen und Kummer beladen sind, wenigstens für etliche Stunden von denselben frei zu werden und sich glücklich zu fühlen vermögen. Es ist übrigens nicht zu leugnen, dass auch zwei hübsche und freundliche Mädchen zu den stillen Reizen dieser Niederlassung gehören, nämlich die Töchter des Hausherrn, der seinerseits wieder jenen eigenen Typus eines Tirolerwirtes darstellt, welcher schlau und überlegen, mit trockenem Witze begabt, dem Gaste leicht eins abgewinnt, sich selber aber nie etwas vergibt. Aus allen diesen Gründen ist schon mancher überrascht worden, der ohne gehörige Vorbereitung in der Klause einkehrte, namentlich aber meine drei Reisegefährten vom vorigen Jahre.


Eines Abends im Herbste kamen nämlich zu Bayrisch-Zell, jenseits der Audorfer Almen, im Wirtshause vier Fremdlinge zusammen, d. h. der Geheime Rat Hanßen von Berlin und Herr Professor Helfrich von Göttingen einerseits, der Dichter Melchior Meyr, der Rieser Dorfgeschichten rühmlicher Verfasser, und ich selber andererseits. Nachdem sich in Bayrisch-Zell niemand finden wollte, der uns gegenseitig vorstellen konnte, so schlossen wir bald auf eigene Wag und Gefahr vorläufige Bekanntschaft, plauderten immer vertraulicher den Abend entlang und gaben uns zuletzt das Wort, am andern Morgen miteinander über die Almen zu gehen.

Und als der andere Morgen anbrach, griffen wir auch insgesamt zum Wanderstabe und machten uns auf den Weg, stiegen den steilen Pfad bei Bayrisch-Zell hinan und kamen allmählich in die Aschau. Die Aschau ist eine ruhige Alpengegend, in welcher eine kleine Schenke aufgeschlagen ist, die eine sehr schöne Fernsicht beherrscht und wie wir später hören werden, eine interessante Geschichte hat. Viele haben schon einmal gewünscht, dass man da immer ein frisches Beefsteak, eine gute Regensburger Wurst, einen würdigen Schinken finden möchte, und es soll dies auch wirklich nicht selten der Fall sein, aber dazumal war daselbst, wie es sich in bayerischen Wirtshäusern öfter zuträgt, fast alles ausgegangen und nichts andres übrig geblieben als Bier, Brot und Käse. Für ein Alpenfrühstück mochte dies genügen, aber nachhaltige Wirkung konnte es nicht in Anspruch nehmen. Die Witterung war auch so trübe und die grauen Nebel hingen ihren nassen Teppich weit über die Bergwälder und bis ins tiefe Tal hinab, aus welchem der Gießbach melancholisch heraufrauschte. Die Ermüdung meldete sich, als wir drei und vier Stunden gegangen waren, ebenfalls mit fühlbarer Schwere und wuchs mit jedem Schritte. Was soll ans uns werden? fragten die Freunde, wo ist hier eine Herberge, die uns durch wohlwollende Aufnahme und liebevolle Pflege diesen saueren Tag versüßen wird? — Unseren Umständen, entgegnete ich mit Sachkenntnis, entspricht nur die Klause bei Kufstein und sonst nichts anderes; dorthin haben wir aber noch anderthalb Stunden zu gehen. Die Freunde hatten allererst an dieser Aussicht wenig Gefallen, ergaben sich aber allmählich darein und so wankten wir ausdauernd, jedoch mehr und mehr ermattend, dem fernen Ziele zu. Endlich war's auch erreicht und als sich Marie und Anna zeigten, der alte Wirt mit seinem trocknen Humor, auch der Sohn, ein sehr wohlgestalteter junger Mann, als alle sich in großer Freundlichkeit uns näherten und jenen edlen Wein einschenkten, der gewöhnlich den müden Trinkern aus Deutschland gereicht wird, die am Verlechzen sind, da ermunterte sich auch bald das trübe Antlitz unserer Gesellschaft, indem es eine erwartungsvolle Heiterkeit annahm. Und bald darnach, als das Mahl aufgetragen wurde, brachen die vielgeprüften Wanderer sogar in ein freudiges Erstaunen aus, überließen sich ungekünstelter Bewunderung und riefen: Ach, wer hätte das gedacht! welch schöne Forellen, welch groß angelegte Hühner! — Sonderbar, sagte da einer der norddeutschen Reisegefährten, indem er mir warm die Hand drückte, sonderbar! Als Sie dort oben am Berge von der Klause sprachen, dachte ich, Sie würden uns zu einem alten Eremiten führen, der in seiner Hütte von Quellwasser, Heuschrecken und Wurzeln lebe — und nun — wie lieblich ist's hier, wie angenehm und erquickend! Hätte ich doch in allen Nöten meines Lebens einen so verlässigen Führer an der Hand! fänd' ich doch immer, so oft mir die Welt zuwider wird, eine so heimliche Klause!

Zwischen der Klause und Kiefersfelden steht an der Straße auch die Ottokapelle, ein schönes, im gotischen Stile erbautes Kirchlein, welches auf der Stelle errichtet wurde, wo am sechsten Dezember 1832 König Otto von Griechenland von seinem Vaterlande Abschied nahm. An eben der Stelle kam der Monarch, der sein zweifelhaftes Unglück übrigens mit Heiterkeit zu tragen scheint, wieder vorüber, als er jüngst seinem Königreiche Valet gesagt. Vielleicht geht's nicht mehr lange her, bis auch König Georgios diese kritische Stelle passiert, sofern er nämlich den kürzesten Weg nach seiner Heimath einschlagen wird.

Eine halbe Stunde von Kiefersfelden und auf sehr wechselreichem Wege zu finden, liegt tief in dem Waldgebirge der Hechtsee, dessen Wasser sich im Sommer angenehm zum Bade bietet. Hoch herunter blickt von seinem ragenden Felsen das alte halbverfallene Schloß Thierberg, welches jetzt sammt zwei schönen Bauernhöfen einem wackeren Handelsmann aus München gehört — in alter Zeit sollen es die Freundsberger erbaut haben. Wer kennt nicht den ritterlichen Georg von Freundsberg, den tapfern Vorkämpfer der deutschen Landsknechte?

Der Hechtsee steht übrigens in unmittelbarer Beziehung zu Lissabon. Als nämlich diese ferne Hauptstadt Portugals am ersten November 1755 durch jenes zerstörende Erdbeben heimgesucht wurde, erhob der See einen so furchtbaren Aufruhr, dass er mit wildem Brausen seine Wellen zu nie gesehener Höhe aufjagte, eine Menge Schlamm auswarf und selbst mehrere Schritte über seine Ufer trat. Der Himmel war dabei heiter und alle Winde schwiegen. Dies Ereignis schien sämmtlichen Nachbarn unerklärlich und gab viel zu reden. Zwar hörte man damals bald von dem Vorgange zu Lissabon, aber da die Entfernung so ungeheuer und der See auch wenigstens achtzehnhundert Fuß über dem Meeresspiegel liegt, so wagte man doch nicht die beiden Phänomene miteinander in Zusammenhang zu bringen, bis endlich am 31. März 1761 der See abermals zu toben anfing, die Eisdecke, die noch über ihm lag, zersprengte und haushohe Wellen aufschlug. Als man nun bald darauf in der Augsburger Ordinari Postzeitung las, dass am nämlichen Tage das ganze Königreich Portugal, vornehmlich aber dessen Hauptstadt von einem heftigen, jedoch unschädlichen Erdbeben in die größte Angst versetzt worden sei, — da schien es außer Zweifel (und so gilt es auch bisher), dass zwischen diesem verlorenen Bergsee und dem Meeresgrunde bei Lissabon eine Sympathie stattfinde, vermöge deren sie alle Paroxysmen miteinander teilen müssen.

Bei einem gelehrten Volke, als welches nun einmal die Deutschen und selbst jene an der tirolisch-bayerischen Grenze zu betrachten sind, darf es keineswegs auffallen, dass über den Hechtsee auch eine kleine Literatur vorhanden ist. Die seltsame Naturerscheinung, deren wir oben gedacht, veranlaßte schon im Jahre 1761 den berühmten Jesuiten Joseph Unterrichter, ordentlichen Professor zu Innsbruck, ein lateinisches Büchlein zu schreiben und zwar unter dem Titel: Zwiegespräch zwischen Philosoph und Fischer über die Wallungen des Hechtsees (de aestu lacus Lucii) in Tirol. Der Philosoph und der Fischer vom Hechtsee sprechen da in der Sprache Latiums über die letzte Begebenheit, welche jener durch viele andere zu illustrieren weiß. So hänge ja auch, wie der gelehrte Perser Paradies berichte, das Kaspische Meer mit dem Schwarzen zusammen und in letztern: erscheinen oft die Trümmer von Schiffen, welche in ersterem gebaut worden. Ebenso stehe das Mittelländische Meer mit dem Rothen in einer Verbindung, zu deren Beweis der ägyptische Geschichtsschreiber Abul Hassan eine berühmte Geschichte erzähle. Der Pascha von Sues habe sich nämlich eines Tages am Fischfang ergötzt und unter anderer Beute auch einen Delphin von ungewöhnlicher Größe im Netze gefunden, welchem er als einem Wundertiere zwar wieder die Freiheit geschenkt, aber zugleich ein messingenes Täfelchen angehängt mit den Worten: Ahmed Abdallah, der Pascha von Sues, schenkt dir das Leben im Jahre der Hegira 720. Der Delphin habe sich sofort wieder in die tiefsten Schlünde des Abgrundes verloren, sei aber bald darauf von den Fischern des Mittelländischen Meeres gefangen und an dem Täfelchen erkannt worden. Ebenso, erzählt der Philosoph, entspringe der Niger in Afrika aus dem Nilsee und ströme lange unterirdisch dahin; auch der Tigris in Asien fließe eine gute Strecke unsichtbar unter dem Kaukasus durch. In dem See auf dem Stellaberg in Spanien habe man schon öfter Stücke schiffbrüchiger Fahrzeuge gefunden, obgleich in ihm keine Schiffbrüche vorkommen und es könnten jene also nur durch unterirdische Kanäle aus dem Meere dort hinauf ihren Weg gefunden haben. Dieses will der Fischer gleichwohl nicht gerne glauben und meint eher, es seien Trümmer von der Arche Noah gewesen. Allmählich aber gelingt es dem überlegenen Genius des Philosophen, seinen naiven Landsmann von dem Zusammenhange des Hechtsees mit dem Atlantischen Ocean zu überzeugen und sie gehen zuletzt, der Fischer nicht ohne das Bekenntnis, viel Schönes gelernt zu haben, als gute Freunde auseinander.

Ein anderes Heftchen, lithographiert und zwanzig Seiten stark, ist auch nicht ganz zu verachten. Es ist „Der Hechtsee“ überschrieben und erzählt eine Geschichte von der schönen Fee Hechta, welche einem jungen Hirten ihre Minne schenkte, einen herrlichen Liebesfrühling mit ihm verlebte, ihm aber, als er im Herbste seine Herde wieder ins Tal hinuntertrieb, verkündete, dass sie sich jetzt drei Jahre meiden müßten. Sie gab ihm als Talisman einen goldenen Ring mit und erklärte dabei, solange dieser hell und rein erglänze, sei alles gut, wenn er ihr aber etwa die Treue brechen sollte, so werde der Ring schwarz und düster erscheinen und dann nahe der schreckliche Tag der Rache.

Zwei Jahre waren glücklich vorübergegangen, aber im dritten kam eine Hochzeit aus, drüben im Mühlgraben jenseits des Inns, und der junge Hirte, der auch geladen war, lernte dort das junge Elslein, der Wirtin Tochter, kennen und vergaß darüber die Fee auf der Alm. Als er nun andern Tages aufwacht und seinen Ring beschaut, hat dieser seinen Glanz verloren und zeigt sich schwarz und düster. Der Hirte ahnt, was ihm bevorstehe, und geht zerrüttet zu dem Einsiedler, der damals bei Audorf seine Klause hatte, wo jetzt der Weber an der Wand, obwohl in schönster Aussicht, ein herabgekommenes Wirtshäuslein hält. Aber der fromme Mann wußte keine Hilfe. Wer mit den Geistern zu tun gehabt, der sei ihnen verfallen — er möge sich nur wie ein Sterbender zum Tode bereiten, vielleicht, dass wenigstens seine Seele noch gerettet werden könne. Der arme Junge stieg darauf wieder in die Höhe zu der Almenfee, die ihn wehmütig empfing und anredete, meinend, wenn sie allein zu entscheiden hätte, so würde sie ihm gleichwohl das Leben schenken, aber eine höhere Macht habe seinen Untergang für unentbehrlich erachtet. Darauf stampfte sie mit dem Fuße auf die Erde und ringsum sprudelte Quell auf Quell und immer tiefer sank das Erdreich und höher schwollen die Fluten. Und als der grüne Plan gewandelt war in einen tiefen See, da verschwand auch die arme betrogene Hechta und der Hirtenknabe lag ertrunken tief unten auf dem Grunde und die Wässer standen hoch über ihm.

Wenn diese Geschichte nicht so kurz wäre, hätte ich sie übrigens gar nicht erzählt, denn es ist eigentlich nicht viel daran. Erstens hat man sie schon an zwanzig anderen Orten gelesen und zweitens besteht noch ein großer Zweifel, ob sie am Hechtsee nur auch vorkommt, denn man weiß schon aus vielen traurigen Beispielen, wie leicht die Sagen von gelehrten und halbgelehrten Leuten, unter welchen namentlich die Schullehrer zu verstehen, von einem Orte zum andern vertragen und oft an Stellen niedergelegt werden, wo sie gar nicht hingehören. Hat ja sogar mein guter Freund, Professor Felix Dahn, jetzt zu Würzburg, die schöne Sage von dem Tiroler Herzog Friedrich mit der leeren Tasche, wie er nämlich zu Landeck in einem Bauernspiele seine eigene Geschichte verkleidet vorträgt, dem König Alfred von England unterlegt, was mich sehr ärgerte, weil der Dichter hätte wissen sollen, dass die Tiroler ihre Sagen selber brauchen und dass die Engländer deren so viele haben, dass sie keiner Zufuhr aus dem Oberinntal bedürfen. Auch sind im bayerisch-tirolischen Gebirge bisher noch keine Feen aufgefunden worden, sondern nur „wilde“ oder „selige Fräulein“, von denen man allerdings am Untersberg und im Ötztal manche liebliche Mähr zu erzählen weiß. Nur die niederösterreichischen Volksdichter haben sich erlaubt, die Wiener Almen mit Feen zu bevölkern, was ihnen aber auch nicht jedermann dankt.

Die Stadt Kufstein ist der Hauptsache nach eine von schönen Häusern besetzte, aufsteigende Straße. Am Eingange dicht bei der Brücke, die über den Inn führt, steht der ansehnliche Gasthof zur Post, links etwas weiter oben in der Stadt Herrn Aurachers gemütliche Herberge. Dort ist auch eine Art Casino oder Liederkran; und in diesem eine große Anzahl bemerkenswerter Tafeln, andeutend, in wie vielen und welcherlei Gesang- und anderen Vereinen der viel und weit beliebte Herbergsvater Mitglied, ja meistens Ehrenmitglied geworden.

Die Festung von Kufstein heißt eigentlich Geroldseck und steht auf einem rings abgeschrofften Felsen, der nur mit Genehmigung des Kommandanten zugänglich ist. Manche Neugierige haben in den letzten Jahren diese Erlaubnis schon deswegen mit Eifer nachgesucht, weil dort oben zur Zeit der berüchtigte Räuberhauptmann Rosa Sandor, der ungarische Rinaldo Rinaldini, zu sehen. Auch viele Militärsträflinge werden hier verwahrt, welche in weißen Trilch gekleidet und mit klingenden Ketten aneinander geheftet, nicht selten in der Stadt gesehen werden, was jedoch dieser nicht zur Zierde gereicht, vielmehr einen traurigen Anblick bietet.

Die Gegend ist übrigens prächtig, und das Städtchen wäre vielleicht schon längst ein „Löwe“ geworden, wenn ihm nicht eben seine Festung und die armen gefesselten Büßer einen Charakter verliehen, der dem frohen Lebensgenus, welchen die Sommerfrischler suchen, nicht ganz förderlich ist.

Nunmehr aber zurück nach Kiefersfelden, welches an dem Klausenbache liegt, der oft als ein wilder Alpenstrom verheerend aus dem Gebirge bricht, in der Regel aber durch manche Dämme und Schleusen bezähmt, in dienstfertiger Bereitwilligkeit verschiedene Mühlen, Hämmer und andere Werke treibt. Hier in diesem Dorfe ist auch der Sitz eines bedeutenden Eisenwerkes, die Kiefer genannt. Dass nun die Schmiede vor anderen Handwerkern immer etwas vorausgehabt, ist allen bekannt, welche die Geschichte derselben von der alten Sagenzeit, wo Hephästus und Dädalus glänzen, bis zum alten deutschen Wieland und von diesem bis auf die neuere Zeit verfolgt haben. Wie ihr Gewerbe ein poetisches, zwischen Wasserstürzen und Feueröfen eingekeiltes, auf die Stärke des Armes gebautes ist, so sind auch ihre Geister für dichterische Erregungen leicht zu gewinnen und unter ihren rußigen Fürtüchern schlägt leicht ein phantastisches Herz. Mehr noch als anderswo ist dies aber, wie wir schon früher erwähnt, bei den Schmieden in der Kiefer der Fall, welche schon vorlängst sich mit dramatischer Kunst beschäftigt haben, und an ihrer Hand, wie wir später sehen werden, oft ganz tief in die Fabelwelt des Mittelalters eingedrungen sind. Nun wurde ihnen zwar seiner Zeit auch das Theaterspielen untersagt, wie es allen übrigen Anwohnern des bayerischen Gebirges trotz unsrer konstitutionellen Freiheiten, welche wenigstens den Umgang mit den Musen erlauben sollten, verboten worden ist. Die Schmiede von Kiefersfelden grämte aber diese Beschränkung ihres Bildungstriebes gar über die Maßen und zwar um so mehr, als auf dem tirolischen Boden, obwohl derselbe unter der aufmerksamsten weltlichen Polizei und geistlichen Überwachung steht, in allen Dörfern, die sich diesem Kunstbetriebe zuwenden wollen, die Bühne in lebhafter Tätigkeit ist. So standen sie denn einst vor drei Jahren zusammen und ließen eine Schrift verfassen, welche sie dem Ministerium überreichten. Sie suchte darzustellen, welch vorteilhaften Einfluß das Theater auf die Bildung des Volkes zu äußern berufen sei und schloß mit der Bitte, den Männern, Frauen und Jungfrauen von Kiefersfelden diese ihre Volksbelustigung wieder frei zu geben. Hohen Ortes nahm man solches Ansuchen nicht ungnädig auf, gab jedoch, um die Sache gründlich zu behandeln, sämmtlichen Landrichtern im Gebirge den Auftrag, sie sollten sich eingehend äußern, was ihre Gedanken von dem ländlichen Schauspiele seien und wessen sie sich von Wiedergestattung desselben versehen würden. Darauf, erzählt man, habe die ganze Bureaukratie sich in dramatische Studien eingelassen und wieder einmal nach einem gewissen Schiller gegriffen, in welchem ihr ein Aufsatz verraten worden, der manche hieher bezügliche und brauchbare Ansichten enthalten solle. Es wäre vielleicht nicht ohne Interesse, die Berichte zu lesen, welche die ernsten Würdenträger über Wesen und Wirken der bäuerlichen Kunst nach München gesandt, aber sie sind leider der Öffentlichkeit entzogen und können daher keinen Gegenstand unserer Besprechung bilden. So viel aber ist richtig, dass endlich nach dem Schlusse der Untersuchungen den biederen Schmieden von Kiefersfelden die Erlaubnis, ihre Bühne zu eröffnen, erteilt wurde, und dass sich diese über die Errungenschaft kindlich und herzlich erfreuten.

Und eines Sonntags im vorletzten Sommer war ich gerade auf einem lustigen Pfade vom Erler Berg hernieder gestiegen und über den Inn gefahren und saß zu Kiefersfelden unter der großen Linde vor dem Wirtshause, sehr ermüdet und fast schläfrig, als plötzlich von hinten mich eine fremde Hand erfasste, so dass ich überrascht auffuhr und den Herrn Martin Goldschmid, den Hüttenamtschreiber, vor mir sah, welcher verweisend sprach: „Warum denn jetzt hier sitzen, lieber Herr! am Wirtshause, während dort drüben schon das Spiel begonnen hat, die schöne Helena, die Tochter des mächtigen Kaisers Antonius von Griechenland! Macht euch doch auf und folgt mir nach!“

Herr Martin Goldschmid schreibt eine hübsche Hand, ja selbst einen zierlichen Brief, und deswegen ist ihm das wichtige Amt des Bühnenschreibers und Theaterintendanten von selbst in den Schoß gefallen. Er macht die Honneurs der Gesellschaft, beteiligt sich aber sonst nicht an ihren Leistungen. Gleichwohl hat er die Geschichte der ländlichen Kunst, so weit Menschengedenken zu reichen vermag, ganz gut im Kopfe, und es ist angenehm, darüber mit ihm zu reden. Dabei kann man nebenher manche gute Bemerkung über das ländliche Publikum vernehmen, welch letzteres auch studiert und begriffen sein will, wenn der Dichter unter den Bauern seines Eindrucks sicher zu sein begehrt. In manchen Stücken vielleicht schwerer zu befriedigen als das der Städte, hätte es doch namentlich für die dramatischen Poeten unserer Tage, welche den Schluß so schwer zu finden wissen, den erheblichen Vorzug, dass ihm nicht leicht ein Drama zu lange wird. Vor dem Ammergauer Spiel sitzt es ja bekanntlich von sieben Uhr morgens bis um fünf Uhr abends, und es ist eine Seltenheit, wenn selbst in der letzten Stunde sich ein gähnender Mund auftut, oder ein eingeschlummertes Haupt zu schnarchen beginnt. Und die Leute im Inntale sind geistig ungefähr ebenso gebaut und angelegt, wie jene langen Menschensäulen, welche alle zehn Jahre zum Passionsfeste in Ammergau pilgern. Ein Jägermeßlein, eine kurze Predigt genügt ihnen leicht, aber vor den Brettern, die die Welt bedeuten, harren sie still und beschaulich der Stunden vier oder fünf, am heißen Nachmittag, im engen, qualmenden Raume. Gleichwohl gefallen ihnen nur jene großartigen, mit zentnerschwerem Schritt dahinwallenden Haupt- und Staatsaktionen aus alten verschollenen Jahrhunderten, nicht die Verschlingungen und Lösungen des neuern Lustspiels, nicht der alltägliche Jammer der bürgerlichen Tragödie. Minna von Barnhelm oder Kabale und Liebe sind bei den Bauern am Inn bisher noch nicht zu Ehren gekommen und nur die Räuber von Schiller sollen einmal wenigstens einen succès d'estime erlebt haben. Als eigentlicher Sonntagsschmaus und wohlverdienter Leckerbissen, der für die schweren Mühen der Woche entschädigt, gilt nur das hohe Ritterschauspiel; es soll reich sein an Leiden, Nöten und Gefahren, doch muss der Ausgang sich glücklich gestalten. Das gute Herz der Zuschauer will ein Wiederfinden, eine Versöhnung, eine Hochzeit, nicht blutende Leichname, über die zuletzt der Vorhang fällt, ,,um uns von den Leidenschaften zu reinigen“. Einige Mordtaten und Enthauptungen, die im Laufe der Handlung vorkommen, werden als feinere Würze gleichwohl nicht ungern hingenommen und sind am Ende des Stückes auch schon wiederum vergessen.

Woher diese Vorliebe für Kaiser und Könige auf der Bühne, für Herzoge, Mark- und Gaugrafen und den gewappneten Zug der Vasallen? Wir glauben, sie rührt ganz einfach daher, dass der Landmann das Alltägliche, das ihn an den Wochentagen umgibt, nicht auch am Sonntage wiedersehen will, sondern mehr Vergnügen findet an der phantastischen Welt fabelhafter und nie dagewesener Zeiten. Dass sein eigenes Herz ein hinfällig Ding, das weiß der Bursche vom Thierberg so gut als das Mädchen in der Schöffau aus vielfältiger Erfahrung; aber dass auch Kaiser und Könige ihre schwachen Stunden haben, ihren Leidenschaften verfallen, unglücklich, flüchtig, arm und brotlos werden, das stellt ihnen, da sie sonst der Weltgeschichte nicht viel nachgehen können, nur das Theater vor Augen. Nur dort empfangen sie das tröstliche Gefühl, dass wir alle aus einem Holze geschnitten sind, und dass unglückliches Lieben, Dulden und Leiden den Kaiser von Griechenland eben so gut treffen können, als den Hüttenarbeiter in der Kiefer oder den Holzknecht am wilden Klausenbach.

An schönen Stücken, welche diese Beruhigung gewähren, scheint es auch nicht zu fehlen. Man hört viele glänzende Titel nennen und sieht manches hochverehrte Manuskript in schweinsledernem Einbande durch die Hände der Schauspieler gehen. Fragt man nun neugierig, wer und wo sind die Dichter, die euch diese Andenken gewidmet? so hört man dann etwa, dass einmal vor manchen Jahren ein wenig bekannter Bauern-Shakespeare im Unterinntal gelebt und in üppiger Fruchtbarkeit gewirkt habe. Seines Zeichens war er ein Kohlenbrenner und nannte sich Joseph Schmalz. Man weiß nicht viel mehr von ihm, als dass er bei Brixlegg geboren und vor einem halben Menschenalter gestorben ist. Sein Name lebt halbvergessen nur in seinen Werken fort. Er dichtete wie jener andere, große, dem wir ihn verglichen, nach alten Fabeln und Märlein, wie sie auf den Jahrmärkten feil stehen „gedruckt in diesem Jahr“. Er hat die vier Haimonskinder, die Frau Melusine, die schöne Magelone und vieles andere mehr dramatisch bearbeitet. Ihm war, wie man sagt, kein Stoff zu schwierig, er dichtete, wenn ihm die Muse nahe trat, ohne Unterlass und war auch immer gar bald fertig. Wenn irgend ein Liebhaber der Schaubühne eine Geschichte, die ihm gefällig schien, dramatisieren lassen wollte, so schrieb er dem Kohlenbrenner die Fabel auf oder schickte ihm eines von jenen gedruckten Büchlein zu und in drei Wochen überkam er gewöhnlich ein fünfaktiges Manuskript gegen kargen Ehrensold von etlichen Gulden.

Als wir nun damals vor den Komödienstadel traten, fanden wir mit Vergnügen, dass ein Stück im Anzug sei, welches, nach dem Titel zu schließen, sehr viel Gutes und Erbauliches enthalten konnte. Jener lautete nämlich: „Helena, die Tochter des mächtigen Kaisers Antonius von Griechenland, oder: Rache, Reue und Versöhnung“. Erwartungsvoll betraten wir das düstere Haus, auf dessen Sitzen sich eine ansehnliche Menschenmenge drängte. Auch das andere Geschlecht war zahlreich vertreten, meist in dunklem Gewande mit niederen breitkrempigen Hüten, welche auf das Tal des Innstroms deuten, während die helleren Farben und die schmalkrempigen höheren Hütchen mit den mächtigen Goldquasten bemessen ließen, inwiefern sich die Gegend von Miesbach und Schliers an der Schau beteiligte.

Feine Geigen, eine Bratsche und der Kontrabass spielten liebliche Weisen auf und bereiteten das Gemüt gar angenehm auf das Kommende vor. Auch das ahnungsvolle Dunkel des von wenigen matten Kerzen erleuchteten Gehäuses machte fast einen feierlichen Eindruck. Bald rauscht der Vorhang auf und mit Erstaunen erblicken wir alle die entseelte Kaiserin von Griechenland, welche auf dem Paradebett liegt. Ihr hoher Gemahl betrauert sie zwar aus tiefem Herzen, fühlt aber bald eine unerlaubte Neigung zu seiner einzigen Tochter, der wunderschönen Helena, und wartet auch nicht lange, um sie auszusprechen. Zu dieser Zeit nun belagern die Sarazenen die Stadt Neapel und der Patriarch daselbst, der ein Bruder des Kaisers Antonius ist, ein feiner Mann, mit Augengläsern, rotem Käppchen und schwarzem Gehrock, der Patriarch beruft also seinen mächtigen Bruder, welcher unverzüglich die Sarazenen aufs Haupt schlägt, sofort den Kirchenfürsten in seiner Angelegenheit um ein Fürwort beim heiligen Vater ersucht, dann aber, nachdem sich dieser kluger Weise Bedenkzeit ausgebeten, wieder heimzieht und der schönen Helena einen falschen Brief überreicht, laut dessen ihr der hochwürdige Oheim zu Neapel die Ehe mit ihrem Vater erlaubt.

Die Tochter schenkt jedoch dem Briefe keinen Glauben und flieht in der Nacht zu Schiff nach Flandern. Während sie nun auf der Fahrt ist, werden wir mit einer Gesellschaft von Seeräubern bekannt gemacht, welche auf einer wüsten Insel landen, um da auf einen Fang zu lauern. Sie singen eine Arie, welche, jedoch nur von ferne, an das Räuberlied bei Schiller erinnert. Das Lied ist kaum zu Ende, als sich die griechische Galeere zeigt, welche harmlos vorübersegeln will, aber sofort mit gewaffneter Hand überfallen und genommen wird. Ihre Besatzung liegt in der kürzesten Zeit ermordet umher, ausgenommen die schöne Helena, welche den Hauptmann der Seeräuber alsbald zu unreiner Liebe entflammt, so dass er sie mit auf sein Schiff schleppt. In Folge ihres Gebetes entsteht aber augenblicklich ein Ungewitter, der Blitz fährt in das Fahrzeug der Piraten, es versinkt und alle ertrinken, ausgenommen die schöne Helena, welche gegen die englische Küste hingetrieben wird, dort einen Baumast erfaßt und sich daran aus dem Wasser zieht. Sie verfällt dann in tiefen Schlummer, während dessen der König Heinrich von England, der eben auf der Jagd ist, vorüberkommt. Er betrachtet mit Bewunderung die schöne Schläferin, die er dann, als sie erwacht, in seine Pflege nimmt. Bald bietet er der Lieblichen, von ihrem Reiz bezwungen, Hand und Krone an. Vermählung und Krönung folgen auf dem Theater; doch ahnt der Zuschauer allbereits, dass es noch mehr Unglück geben wird. Denn Prinz William, des Königs Bruder, der Helenen vorher seine Liebe angetragen, aber verschmäht worden, sprüht bereits Rache. Alsbald wird Heinrich nach Sizilien abgerufen, dessen König ebenfalls von den Sarazenen mit Übermacht bedrängt wird. Unterdessen genest die tugendreiche Helena zweier schöner Knäblein — Herzog William aber tut dem König zu wissen, es seien zwei Ungetüme, die den Hunden glichen, und sorgt auch dafür, dass der (gefälschte) Befehl nach England kommt, die Königin sammt der Ausgeburt zu verbrennen. Der treue Herzog von Glocester läßt aber nur drei künstliche Gebilde in das Feuer werfen und entsendet die Königin mit den zwei Knäblein auf einem Schifflein hinaus ins weite Meer. Sie landet auf einem Eiland, welches ein Eremit bewohnt, und fällt abermals in tiefen Schlummer. Diesen benützt ein Löwe, welcher ebenfalls die Insel bewohnt, um eines der Kinder fortzutragen. Bald darauf erscheint ein Wolf und nimmt das andere dahin. Helena erwacht und läuft voll Entsetzen den geraubten Kindern nach, jedoch ohne sie zu finden, während der Eremit mit seinem Speere sowohl Wolf wie Leuen erlegt und so die Knaben rettet. Helena, welche hievon keine Kunde hat, dagegen von dem unsteten Wanderer, den wir später noch zu erwähnen haben, angesprochen wird, läßt sich auf dessen Rat abermals von einem vorübersegelnden Fahrzeug einnehmen und kommt so nach Nantes. Unterdessen erreicht auch König Heinrich wieder sieggekrönt sein Land, hört, dass seine Gemahlin sammt zwei wunderschönen Prinzen verbrannt worden sei und wird wütend. Zuerst will er den Herzog von Glocester töten, findet aber bald hinlänglichen Verdacht gegen seinen eigenen Bruder William, welcher um ein Gottesurteil bittet. Sofort geht ein prächtig Turnier an unsern Augen vorüber; die K?mpfer stampfen wie ungeduldige Schlachtrosse mit den Füßen, stürzen auf einander, stoßen sich mit den Schilden, kreuzen die Schwerter und schlagen sich mit meisterlicher Fertigkeit, bis endlich William fällt und seine Missetaten bekennend verendet. Gleich darauf kommt Kaiser Antonius, der mittlerweile nur seiner Tochter nachgegangen, in England an. Wenige Worte mit dessen Beherrscher genügen, um ihn zu überzeugen, dass die schöne Helena, die der König beweine, die nämliche sei, die er selber suche. Beide bejammern ihr Unglück und beschließen, auf Wanderschaft zu gehen, um die Verlorene zu finden. In der nächsten Szene begegnen wir nun dem braven Eremiten wieder, der einst die Kinder vom Tode gerettet und sie bisher, sechszehn Jahre lang, auf seinem Eiland mit Kräutern und Wurzeln auferzogen. Er entdeckt ihnen, dass er nicht ihr Vater sei, übergibt ihnen Siegel und Ringe, die er einst in ihren Windeln gefunden, und entsendet sie in die weite Welt. Sie gehen auf ein Schiff, das an ihrer verschollenen Insel Wasser nimmt (Schiffe sind immer zur Hand), fahren dahin und kommen nach Nantes, das eben von den Mohren belagert wird und überdies ihre unglückliche Mutter als unbekannte Bettlerin beherbergt. Allonson, einer der Mohren, dessen Ruhm „durch ganz Abessinien und halb Afrika“ geht, fordert die Ritter in der Stadt zum Zweikampfe heraus. Die beiden Königssöhne begeben sich vor das Tor, an welchem Helena krank und bettelnd liegt. Jeder meint, es sei ihm, als wenn dies die Mutter wäre, während sie sich ebenso zu den jungen Rittern hingezogen fühlt, welche sie reichlich mit Almosen beschenken. Bald sehen wir nun auch den Kampf der beiden Jünglinge mit dem Mohren und seinem Schildträger, welche beide nach harter Wehr erliegen. Die Sieger werden nun von dem Herzog von Glocester, der auch zur Stelle, an ihren Ringen erkannt; König Heinrich, Kaiser Antonius, welche noch immer die schöne Helena suchend auf der Irrfahrt sind, treffen ebenfalls ein und zeigen sich über die Massen froh, dass wenigstens die Knaben wieder hervorgekommen, hoffen auch deren Mutter noch zu finden und reisen nach Neapel. Die schöne Helena, welche zu Nantes Vater, Gemahl und Kinder gesehen und sich ihrem Anblick — man weiß nicht recht warum — entziehen will, ist aber ebenfalls nach Neapel gegangen und lebt als Magd im Hause des Patriarchen. Endlich begegnet sie ihrem Gatten in dem Garten, kann ihm nicht mehr ausweichen, gibt sich zu erkennen und fällt ihm verzeihend in die Arme. Dann also große rührende Szenen, wo der Vater seine Söhne der Mutter vorführt, der Kaiser seiner Tochter reuevoll zu Füßen fällt, endlich auch der rettende Eremit als ein edler englischer Mylord sich zu erkennen gibt, den der König einst auf falsche Anklagen hin ins Elend gejagt hat, nun aber wieder in seine Würden einsetzt. Und am Schlusse erhebt sich die Hintergardine und der unstete Wanderer, von welchem zu reden aber noch immer nicht die Zeit ist, schließt das Stück, indem er in weißem Unschuldskleid, von bengalischem Feuer umglänzt, heraustritt und eine seltsame Rede hält.

Woher ist dieses Stück, vielmehr wer hat die Fabel von der schönen Helena erfunden und der Nachwelt schriftlich aufbewahrt? Dass wir sie lediglich der Phantasie des alten Kohlenbrenners verdanken, wollte ich schon von Anfang an nicht recht glauben, hielt daher emsige Umfrage bei allen Forschern des gelehrten Münchens, wußte mir aber keiner eine passende Antwort zu geben. Darauf ging ich an Dunlop's History of fiction, die mir besonders gelobt worden war, und fand auch in dieser nichts von unserer Geschichte, freilich nur des schlechten Indexes halber, denn wer die rechte Seite wüsste, der fände sie auch dort erwähnt. Aber so wenig König Heinrich von England und Kaiser Antonius von Griechenland, als sie ihre Gemahlin und Tochter suchten, die Geduld verloren, eben so wenig wollte ich letztere aufgeben, ehe ich sie, die schone Helena, gefunden. Und eines gewöhnlichen Morgens im vorletzten Frühjahr, als ich voll anderer Gedanken im Schatten des ehemaligen Landgerichts Au jenseits du Isar stand, in welchem ich so viele liebe und gebildete Assessoren kennen gelernt, und einen verdrießlichen Blick in die lärmenden Gassen der hochaufbrausenden Dult hineinwarf (denn der Jahrmarktslärm ist mir schon seit vielen Jahren zuwider und nur die Einsamkeit noch lieb), sah ich plötzlich, an die Wand des weißen Gebäudes gelehnt, ein kleines Ständlein, vielmehr einen Schragen mit drei Brettern darüber, alles voll populärer Schriften und mit einer vollständigen Auswahl der landläufigen Volksbücher. Und plötzlich sielen meine Augen auf ein kleines Büchlein und trug dasselbe den Titel: „Geschichte der geduldigen Helena, Tochter des mächtigen Königs (nicht Kaisers) Antonius usw., dem schönen Geschlecht zum Beispiel, den lüsternen Männern aber zum Schrecken in den Druck gegeben. München in der Wild'schen Buchdruckern (Parkus).“ Innigst vergnügt langte ich nach der schönen Helena, sah schon aus der Titelvignette, wo sie schläft, während der Löwe und der Wolf die Kinder davon tragen, dass dies keine andere als meine Helena sei, erstand sie für zwei Dreier, und trug sie in der Tasche getrost nach Hause, vielleicht nicht ganz so wonneselig, wie einst König Heinrich und der Kaiser Antonius, als sie die ihrige gefunden, aber doch mit einer großen Beruhigung, dass ich endlich dem Kohlenbrenner auf seine Schliche gekommen. Mehrere Monate später sammelte sich aber noch mehr Licht, denn als ich statt des englischen Dunlop die vermehrte Übersetzung seines Buches von Felix Liebrecht um Rath fragte, fand ich auf Seite 265 erfreulichen Aufschluss, dahin lautend, dass dieser Stoff schon von dem alten englischen Dichter Chaucer und nach ihm auch von italienischen und französischen Novellisten mehrfach bearbeitet worden sei. Damals aber schrieb ich zunächst an die Kiefersfelder, sofern sie es entbehren könnten, sollten sie mir ihr Textbuch schicken, was sie auch, weil sie voll Freundlichkeit sind, sogleich taten, und nun begann ich mit großer Neugier ein ästhetisches Studium, nämlich die vergleichende Anatomie der beiden Darstellungen. Je mehr ich mich darin vertiefte, desto höher stieg aber meine Achtung vor dem Talent des Kohlenbrenners, denn dieser arme, unbekannte Dichter hat wirklich Bedeutendes geleistet. Es ist z. B. ein schöner Zug seines Gemütes, dass er aus der den Germanen eigenen Achtung vor den Frauen jene Intrige, welche die schöne Helena beinahe in den Feuertod gestürzt hätte, einem von ihm selbst erdachten Königsbruder, William, beilegt, da sie doch die gedruckte Quelle der bösen Schwiegermutter, der Altkönigin von England, zuschreibt. Auch sonst findet man auf der Wanderung durch den anmutigen Park des Stückes gar oft die Spuren einer liebenden Hand, die da einen störenden Ast, dort ein überflüssiges Gewächs beseitigt, langweilige Fußwege mit Blumenbeeten und Buschwerk besetzt, und überall auf Zusammenhang und Ordnung, hin und wieder auch auf schöne Aussichten und großartige Eindrücke bedacht ist. Oder soll man es nicht einen höchst bedeutenden Einfall nennen, dass das Drama gleich mit einer Kaiserin auf dem Paradebett anhebt, während das Büchlein schon sechzehn Jahre früher, nämlich mit der Geburt der schönen Helena beginnt! Ferner hat der Dichter, ganz nach Shakespeare'scher Weise, den hohen Potentaten und dem ganzen noblen Personal aus freiem eigenem Entschlusse ein komisches Pärchen gegenüber gestellt, Kuratsch, den Knappen des Kaisers, und Ursel, seine Geliebte, deren streng realistisches Trachten dem Idealismus der vornehmen Welt als höchst wirksame Folie dient. Sie allein sind es, die in gereimten Alexandrinern sprechen, während die großen Herren im Stücke sich mit einer Prosa begnügen, welche zwar keine besonderen Schönheiten entwickelt, aber überall dem Bedürfnisse genügt. Das Eigentümlichste an der ganzen Schöpfung ist aber der „unstete Wanderer,“ den der Kohlenbrenner auch wieder nur sich selbst verdankt. Diese geheimnisvolle Erscheinung ist ein schlanker, wohlgebauter Jüngling, der im Stücke das kommende Schicksal vorhersagt. Er trägt ein dunkles Gewand mit einem roten Gürtel, und über sein Haupt fällt ein schwarzer Schleier herab. So naht er z. B. dem Sultan der Sarazenen und sagt ihm mutig seinen Untergang voraus. Befragt, wer er sei, antwortet er: „Ich bin der unstete Wanderer.“ Der Sultan befiehlt seinen Trabanten, ihn zu greifen, aber der unstete Wanderer schlägt den Schleier auf und zeigt einen gräßlichen Totenschädel, so dass Alles erstarrt zurückweicht und er selber ruhig abtreten kann. In gleicher Weise warnt er den mächtigen Kaiser Antonius, von seinem unseligen Trachten abzustehen, und erschreckt ihn ebenfalls durch feinen Anblick, während er ihm die nach England segelnde Helena im Gesichte zeigt — so nämlich, dass das Mittelstück der Hintergardine aufgeht und ein Schiff gesehen wird, in welchem die unglückliche Dulderin schlummert. Mehrmals erscheint er aber auch in freundlicher Gestalt, wie z. B. später dem edlen Eremiten, dem er, ebenfalls als lebendes Bild, seine Pflegesöhne weist, wie sie ihr Vater gefunden hat und liebend umarmt. Endlich aber am Schlusse und in letzter Szene tritt er — und dies war allen unerwartet, und musste aufs Höchste überraschen — endlich, als alle die Wiedergefundenen versammelt sind und sich in der Runde aufgestellt, als der Patriarch eben die Worte gesprochen: Versöhnung sei uns allen — tritt er, wie schon erwähnt, in weißem Unschuldskleide, von bengalischem Feuer erleuchtet, aus der Gardine heraus, und verkündet, anknüpfend an jenen Spruch, dass ihn gerade diese nämlichen Worte von der irdischen Wanderschaft in das ewige Leben rufen. Er sei ein Prinz des altgriechischen Kaiserstammes, habe vor Jahrhunderten in seiner Jugend ein großes Verbrechen begangen, sei bald darauf gestorben und verdammt worden, solange auf Erden herum zu wandeln, bis ein griechischer Kaiser seine eigene Tochter ehelichen wolle und so weiter, und Reue und Versöhnung in die Herzen der Schuldigen und Unschuldigen eingezogen sei — damit sei auch seine Versöhnung bewirkt und er fahre jetzt in die ewig verheißene Wohnung. Hierauf legt er den beiden jungen Helden Kränze auf das Haupt, prophezeit ihnen, dass sie einst die Throne von England und Griechenland besteigen werden, und fährt dann unter Glanz in die Ewigkeit, während die übrigen niederknien und ein Finale singen.

Als dies gesungen war, ging ich damals sehr befriedigt aus dem Schauspielhause. Ich hatte nichts von jener Sehnsucht nach dem Ende empfunden, welche mich schon manchmal überfiel, wenn ich im Hoftheater zu München vor einem Preisstücke oder einem Freundesdrama saß. Soll ich's dem Mangel an kritischen Fähigkeiten danken oder der innern Trefflichkeit des Stückes oder seinen äußeren Reizen? In der Tat kommt der Zuschauer auch nie recht zur Besinnung, denn von dem mehrerwähnten Paradebett der Kaiserin bis zum bengalischen Feuer, in welchem der unstete Wanderer verschwindet, wechseln die Eindrücke immerdar und in raschester Folge. Auch die einzelnen Auftritte hat der Kohlenbrenner sehr kurz gehalten; er war kein Freund der langen Monologe und endlosen Zwiegespräche, hatte aber gleichwohl die Sprache so sehr in seiner Gewalt, dass er mit wenigen Worten sagen konnte, was andere minder begabte Dichter oft nicht mit vielen Phrasen auszudrücken vermögen. Die Dekorationen, deren allerdings sehr wenige, sind daher in beständigem Wechsel begriffen; das Lager der Sarazenen vor Neapel verschwindet rasch und es erscheint dafür der Hafen von Konstantinopel mit seinen Schiffen, an denen der Kapitän Villory mit brennender Pfeife auf und abspaziert. Bald tut sich eine Folterkammer auf, in welcher Clarissa, Helenens Freundin, weil sie ihr zur Flucht verholfen, mittels eines Fallbeiles geschickt enthauptet wird. Nicht selten öffnet sich ein Viereck in der Hintergardine und man sieht in die Zukunft, welche, wie schon angedeutet, durch lebende Bilder dargestellt wird; dann gleich wieder Wald mit Löwe und Wolf, dann Seegefechte, Turniere, landende Schiffe, Triumphzüge, kurz ein Reichtum von seltsamen und großartigen Eindrücken, wie sie sonst nur in den Meyerbeer'schen Opern geboten werden.

Was die Schauspieler betrifft, so suchten sie ihre schwere Aufgabe mit Besonnenheit zu lösen. Waren ihnen auch nach dem, was sie bisher erlebt, Sprache und Manieren der hohen Personen, die sie vertraten, nicht eben nahe gelegt, so taten sie doch das Mögliche, um durch Intuition zu erreichen, was ihnen an sinnlicher Anschauung fehlte. Wenn sie manchmal zu erliegen schienen, so mahnte es mich an den alten Spruch, dass der Mensch im Kampfe mit den Schwierigkeiten seiner Lage ein Schauspiel selbst für die Götter sei, und warum nicht um so mehr auch für den anspruchslosen Zuschauer eines Dorftheaters?

Vergleicht man überhaupt die poetische Leistung, welche zu Kiefersfelden an uns vorüberging, mit jener zu Seebruck am Chiemsee, die schöne Helena mit der heiligen Genovefa, welche ein unbekannter Dichter zu Höselwang zu Tage gefördert, so muss man zugeben, dass der tirolische Kohlenbrenner einen weit höhern Rang im Reich der Geister einnimmt, als sein bayerischer Kollege. Das schmucklose, wortkarge, urzeitliche Genovefastück verhält sich zu der schönen Helena in ihrem reichen romantischen Glanze wie ein uraltes einfaches Dorfkirchlein mit seinem Sattelturm zum phantastischen Dom zu Köln.

Wer weiß, wenn wir wieder einmal auf das Bauerntheater zu sprechen kommen, und deswegen wollen wir hier, so es auch zu einiger Ermüdung des Lesers gereichen möchte, gleichwohl noch anführen, dass wir letztes Jahr demselben schon wieder unsere Aufmerksamkeit bezeigt, und zwar am Sonntag vor dem Feste der heiligen Apostelfürsten Peter und Paul, nämlich am 28. Juni. Man gab aber nicht mehr die schöne Helena, sondern Valentin und Ursinus, die Zwillingsbrüder, oder das Diamantenkreuz. Der Schauplatz war wieder dicht angefüllt mit Liebhabern und Liebhaberinnen der dramatischen Kunst. Die meisten derselben schienen den Einwohnern von Kiefersfelden unbekannt und es war daher anzunehmen, dass sie von dem Ruf der dortigen Bühne angelockt, ans Tirol oder aus ferneren Gegenden des Bayerlandes herangekommen. Die Hitze war sehr groß, aber ebenso groß die Ausdauer der vergnügten Zuschauer, welche auch Kopf und Herz am rechten Flecke zu haben schienen, denn als einige Stadtherren, die gleichfalls auf den Bänken saßen, den Bären, der allerdings sehr gut spielte, zu beklatschen begannen, erhoben die Landleute ein gewaltiges Zischen, als ein Zeichen, dass nach ihrem ästhetischen Gewissen Beifallsbezeugungen zwar den menschlichen Histrionen, nicht aber den vierfüßigen gespendet werden dürfen, worin sie eigentlich ganz und gar mit der Anschauung unseres Altmeisters Goethe zusammensielen, welcher ja auch dem Hund des Aubry de Montdidier keinen Triumph vergönnte. Außerhalb des Stadels unter den Bäumen war in den Zwischenakten auch ein gar fröhliches Leben, da ein Fäßlein mit Bier und andere billige Erfrischungen aufgestellt waren, welchen bei solcher Temperatur viele Beachtung zu Teil wurde.

Das „große heroische griechische Schauspiel“ Valentin und Ursinus ist nach einem französischen Roman gebildet, welcher, wie bei Größe zu lesen, 1495 zum ersten Male zu Lyon gedruckt wurde. Die Fabel verfolgt aber fast den gleichen Gang wie die Geschichte der Helena und ist kaum mehr als eine geschickte Periphrase derselben. Belisanze, die schöne Kaiserin von Griechenland, des Königs von Frankreich Schwester, erst wenige Monate glücklich verheiratet, wird nämlich, wie die schöne Helena, von ihrem Schwager Wartur begehrt, dann, als sie tugendhaft bleibt, verleumdet, zum Tode verurteilt, endlich gleichwohl des Landes verwiesen, während der junge und gute Graf Rudolf von Angyr, welchen jener fälschlich beschuldigt, das Leben lassen muss und, wie dort Clarissa, auf offener Bühne guillotiniert wird. Im dritten Akt finden wir die verstoßene Belisanze in einer Wildnis auf französischem Boden, in höchster Verlassenheit mit zwei kleinen Prinzen, die sie mittlerweile geboren. Hier tritt nun statt des Löwen ein Bär auf, dessen Kostüm eine wirkliche Bärenhaut ist von einem Exemplar, das man vor dreißig Jahren bei Häring in Tirol erlegt hat, und raubt, während Belisanze ohnmächtig unter einen Baum gesunken, den einen der Zwillinge. Die Kaiserin erwacht an seinem Brüllen und eilt ihm mutig nach, ohne jedoch etwas auszurichten.

Während dessen aber erscheint in flottem Jagdgewande, in grünem Röckchen und weißem Hütchen, des Königs von Frankreich Schwester, Verina, hebt den andern Zwilling auf und nimmt ihn aus Mitleid in Wart und Pflege. So sind beide Kinder verloren, Belisanze aber fällt sofort in die Hände eines in dortiger Gegend hausenden Riesen, des fürchterlichen Unmenschen Sargand, welcher übrigens von dem Schauspieler sehr gut gegeben wurde. Der eine der griechischen Prinzen, den der Bär geraubt, wird mittlerweile von diesem in seiner Höhle erzogen, wird eine Art Kaspar Hauser, ein Waldmensch, haarig am ganzen Leibe, lernt nicht einmal reden und trägt eine ungeheure schwarze Perücke, deren Zotteln weit ins Gesicht herein und über den Rücken hinunterhängen. Der andere aber wächst am französischen Hofe zu einem tapfern und edlen Ritter heran und führt den Namen Valentin. Im weiteren Verlauf des Stückes wird dann Warturs Schlechtigkeit entdeckt und durch ein Turnier das Gottesurteil herbeigeführt. Valentin findet hierauf in der Wildnis seinen Bruder, den er natürlich nicht erkennt, in Gesellschaft des Bären. Der Bär und sein Zögling greifen ihn an, ersterer fällt im Kampfe, der Waldmensch wird besiegt und vorerst gebunden, aber im Umgang mit Valentin nimmt er bald menschliche Manier und Sprache an, und wird als Ursinus getauft, wobei der König von Frankreich Patenstelle übernimmt. Hierauf geht Valentin mit Ursinus auf Abenteuer aus, um seine Eltern zu suchen; beide geraten auf den fürchterlichen Riesen Sargand, der gegen ihre Mutter Belisanze eben folgende Drohung ausgestoßen hatte: „Zwanzig Jahre sind es nun, dass ich dir mit brennendem Langmut zugewartet, zwanzig Jahre widerstandest du meiner Liebe, aber heute will ich zu meinem Zweck gelangen.“ Ehe dieses möglich wird, greifen aber die Brüder den Unhold an, erlegen ihn nach heftigem Kampfe und befreien die gefangene Kaiserin. Nun beginnen die Erkennungen und folgen sich rasch und heiter, Belisanze erkennt ihren Valentin an einem silbernen Pfeil, den sie einst in seine Windeln gelegt. Auch Ursinum erkennt sie, welcher dann wieder Valentino als seinem Bruder in die Arme fällt. Ersterer verlobt sich auch alsbald mit Zireida, angeblich des Riesen Töchterlein, die sich aber dann als eine Prinzessin von England ausweist. O Geliebter, sagt sie, die auch in der Wildnis aufgewachsen war und des Bären Pflegekind schon früher gekannt hatte, o Geliebter, im Traume warst du allezeit mein Gegenstand, und beim Erwachen verfolgte dein Bild mich überall. Du warst mir eine unbekannte Liebe! worauf der ehemalige Kaspar Hauser, das glückliche Bärenkind, erwidert: Auch ich liebte dich schon von meiner Wildheit an und nur der Tod wird uns jetzt noch trennen.

Der Kaiser von Griechenland und der König von Frankreich, Belisanzes Bruder, kommen nun auch dazu, seine Schwester Verina läßt ebenfalls nicht lange auf sich warten — alles begrüßt, küßt, versöhnt sich. Ein schwarzer, geheimnisvoller Mann, ein Eremit und Waldastrologe, der ungefähr die Rolle spielt, wie im ändern Stück der unstete Wanderer, spricht dann den Epilog, erklärt, dass er jetzt hundert und dreizehn Jahre alt, auch der Großvater des Kaisers von Griechenland sei und gießt seinen Segen aus über Alle. Der König von Frankreich fühlt bald darauf, dass er der Regierung satt sei und übergibt seine Krone dem edlen Valentin; der Kaiser von Griechenland thut desgleichen und verzichtet zu Gunsten seines Sohnes Ursinus. Unter einem Lobgesang schließt das Stück.

Was das Diamantenkreuz anbelangt, das den zweiten Titel des Stücks abgibt, so stammt dasselbe von Kaiser Karl dem Großen und ist von Papst Leo II. geweiht worden. Es ist von unsäglicher Bedeutung, ohne dass man eigentlich erfährt warum. Der alte hundertjährige Kaiser von Griechenland war eigens ins Elend gegangen, weil er ein Gelübde gemacht, nicht eher wieder unter die Menschen zu treten, als bis er es wieder in seinen Händen habe. Im Stücke trägt es zuerst der Unmensch Sargand auf seiner Brust; nachdem er gefallen, verleiht es der alte Kaiser seinem Urenkel Ursinus. Ich habe, wie gesagt, nicht recht herausgebracht, was es eigentlich in dem Schauspiel zu tun und zu bedeuten habe, denn das Stück wäre ohne diese Zugabe schon unterhaltend und schön genug.

Der Stil des Ganzen ist zwar im Tone der schönen Helena, doch zeigt die Sprache — man weiß nicht, soll man sagen, mehr Jugend oder mehr gereifte Kraft. Von jeher haben sich die Dichter herausgenommen, ihre Muttersprache fortzubilden, und es ist nicht unangenehm zu bemerken, dass sich der Poet von Brixlegg dasselbe Recht genommen und dieselbe Aufgabe gestellt hat. So sagt der Kaiser zu dem verleumdeten Grafen, dem jungen Rudolf, der nicht begreifen will, warum man ihn vor fein Gericht geführt: O kühner Sprödling, dein Leugnen wird die Strafe nur vergrößern. Der Riese heißt einmal den geheimnisvollen Waldastrologen einen alten Sternenlümmel. Ein andermal rühmt Valentin des frühern Wilden geschwinde Zahmhaftigkeit, und einmal erzählt der König von Frankreich, dass er dem Bären nur zur Not entkommen sei, da ihm allmählich die Geläufigkeit versagt habe.

Gespielt wurde wieder mit ebenso viel Kraft und Lebendigkeit wie das erste Mal; nur machte ich an diesem Tage die feine Bemerkung, dass der Souffleur, dessen Mitwirkung übrigens weniger in Anspruch genommen wurde, als auf unserer Hofbühne, sich eine Zigarre beigelegt hatte, deren Rauchwölkchen mitunter an der Krinoline der Kaiserin halbverschämt hinaufquirlten, um an ihrem Busen in Ehrfurcht zu ersterben. Sonst ging das Ganze in ungestörter Ordnung vorüber und der Eindruck auf uns alle war ein so mächtiger, dass wir noch lange von dem Stücke sprachen, seine Vorzüge abzuwägen und die Bedingungen seiner Wirkung zu erforschen suchten. Nicht unerwähnt darf übrigens vorübergehen, dass ein Mitglied der Reisegesellschaft, ein sehr geschmackvoller Mann, sich von der ersten Aufführung, die er sah, so angezogen fand, dass er gleich beschloß, noch einen Tag in Kiefersfelden zu bleiben, um auch der folgenden, welche am Montag, dem Peter und Paulstag, stattfand, anwohnen zu können. Er behauptet auch noch zu dieser Stunde, dass es ihn nicht im Mindesten gereut habe.

Seltsam ist es aber gewiß, dass diese alten byzantinischfränkischen Mythen hier in dem stillen Kiefersfelden wie eine zweite Heimath gefunden und dass sie da durch die dramatische Kunst den Landleuten ganz geläufig werden, während sie den Städtern doch so viel wie unbekannt sind. Zu bedauern bleibt es aber immerhin, dass der Kohlenbrenner fast ausschließlich im Orient, in Frankreich und England herumschwärmte und dass er nie darauf versiel, feinen Stoff aus der Nähe zu nehmen und ein „heroisches Ritterschauspiel“ aus Bayern oder Tirol auf die Bühne zu bringen. Die alte Mär von dem letzten Grafen, der auf dem nahen Falkenstein saß und den sein ungetreues Weib im Bade erschlagen ließ, oder die andere betagte Geschichte von Herrn Markwart, welcher, als er mit der schönen Adelheid von Frontenhausen noch in den Flitterwochen lebte, von den Söhnen seiner früheren Buhlin — vielleicht seinen eigenen — auf der grünen Wiese bei Markwartstein erschossen wurde, diese oder ähnliche Stoffe wären dem Dichter gar nicht so ferne gelegen und es müsste interessant sein, zu sehen, wie er die allerdings sehr knappen Fabeln mit seiner Kunst erweitert und bereichert haben würde. Löblich wäre es auch und ehrenvoll, wenn unsere dramatischen Genien, die bei den Städtern nicht immer den Beifall finden, den sie wünschen, sich einmal herunterließen, für die Bauern schöpferisch zu sein. Die Triumphe, die ihnen diese dankbaren Zuschauer darbrächten, möchten sie leicht entschädigen für so manches Mißgeschick, das sie gegenüber dem übersättigten und blasierten Publikum der Städte unverdient erleiden.

Hiemit schließen wir den langen Bericht von Kiefersfelden. In unserem nächsten werden wir übrigens das Tal verlassen und ins Gebirg hinaufsteigen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderung im bayrischen Gebirge