Im Tal der Würm

Es war einmal im Lande Bayern ein schöner Sommerabend. An diesem schlenderte zwischen Starenberg und Gauting, an den Gestaden der Würm, welche dem herrlichen See entfließt, ein einsamer Wandrer dahin, ohne sonderliche Eile, ohne andere Begleitung, als das sanfte Rauschen des vollen Baches. Dieses Wasser fließt rasch, doch nicht ungestüm, ist nicht so hell und blau wie ein Alpenbach, vielmehr etwas gebräunt oder ungefähr so, als wenn die Oreaden [Bergnymphen der griechischen sage] nach der Jagd sich in seinen Wellen gebadet hätten. Eine Menge kleiner, mit hohem Gras bewachsener, mit schönen Erlen besetzter Eilande ziert das Bett des Gewässers. Der schattige Wiesengrund an beiden Ufern, von dunklen Wäldern eingesäumt, war ehemals ein Lieblingsgang der hauptstädtischen Dichter, und man kann es wohl begreifen, dass dazumal, wo das Gebirge noch in beschwerlicher Ferne lag, die Münchner Empfindsamkeit in dem stillen Tal gar gerne ihre Selbstgespräche hielt.

Auf einsamer Stelle steht dort eine Mühle an der Würm, ein weißes Haus mit grünen Läden; der große strohgedeckte Stadel und einige andere Wirtschaftsgebäude niedern Ranges umgeben das Gebäude. Das Ganze bildet ein hübsches Gehöfte in der ruhigen abgelegenen Landschaft — von ferne nur schauen die Türme von Gauting herüber.


Der Wanderer trat in die klappernde Mühle, wo vier Mahlgänge rüstig an der Arbeit waren. Fast noch neu und sehr reinlich gehalten machte sie einen angenehmen Eindruck. Ein Müllerbursche stand nicht ferne und war wohlgestalt und freundlich. Der Pilger winkte ihm des Klapperns halber unter die Türe und als er gefolgt war, fragte jener: Wißt Ihr wohl, wer da geboren ist? Kaiser Karl der Große, gab dieser ohne Bedenken zur Antwort. Hier ist nämlich die Reismühle, in welcher nach der alten Überlieferung jener glorreiche Held das Licht der Welt erblickt haben soll.

Wer es nie gewußt oder schon wieder vergessen haben sollte, dem wollen wir nur in Kürze erzählen, dass nach der bayerischen Sage der Frankenkönig Pipin einst zu Weihenstephan bei Freising sein fürstliches Hoflager hielt, und des Königs Tochter von Karlingen, Bertha, sich zur Gemahlin erkoren hatte. Der Hofmeister aber, der sie einzuholen ausgesendet war, verstieß sie bei der Reismühle in den finstern, endlosen Wald und brachte sein eigenes Töchterlein als des Königs Braut nach Weihenstephan. — Etliche Jahre darnach kam aber Pipin von Waidwerks wegen selber in die Gegend an der Würm, verirrte sich, fand Aufnahme in der Reismühle, entdeckte dort die wahre Bertha wieder — am Brautringe hatte er sie erkannt — blieb eine Nacht in der einsamen Mühle und so wurde die Königstochter von Karlingen die Mutter des großen Karl. Es war im Jahre 1803, als Christoph von Aretin die alte Sage aus der Handschrift von Weihenstephan seinen Landsleuten wieder vor die Augen legte. Die Aufzeichnung mag aus dem vierzehnten Jahrhundert stammen, der Inhalt aber soll, wie man neuerdings gefunden haben will, auf das noch ältere Karlslied des Strickers zurückzuführen sein. Der Stricker, ein Reimer des dreizehnten Jahrhunderts, erwähnt nun allerdings die Geschichte, aber nur in fünf oder sechs Zeilen, also nur nach den knappsten Umrissen, und zwar so, dass dem König Pipin seine Frau verwechselt ward und dass er dann kam auf eine Fahrt, da er die Teure wieder fand. „Wie aber das Ding alles erging,“ die näheren Umstände des Hergangs, das wäre, meint er, zu sagen viel „zu lanch.“ Darnach wissen wir denn auch nicht, wohin er den Schauplatz etwa verlegt haben würde, wenn er zur Stillung unsrer Wissbegierde auf die Erzählung näher eingegangen wäre. Der Herausgeber der Weihenstephaner Handschrift gab sich übrigens manche Mühe, um darzuthun, dass deren Inhalt mit der beglaubigten Geschichte wenigstens in keinem Widerspruche stehe. Seit seinem Schriftchen ist indes auf bayerischem Boden nichts Erhebliches mehr in dieser Sache geschehen. Beachtenswert scheint es immerhin, dass bei der Reismühle auch der Karlsberg liegt, auf dem in früheren Zeiten eine Burg stand und ein ritterlich Geschlecht, die Karlsberger, blühte. Ja, Aventin meint, der Kaiser sei oben in dieser Burg zur Welt gekommen. Herr Bibliothekar Föringer hat ferner gefunden, dass auch die Insel Wörth im Würmsee früher Karlsburg geheißen. Wenn nun auch das Tal der Würm nicht die Geburtsstätte des Kaisers gewesen, wie nur wenige mehr glauben, so scheint doch zwischen beiden irgend ein nahes oder inniges Verhältnis bestanden zu haben, dessen eigentliche Natur wir allerdings nicht erraten können. Sind ja auch die Pipine bei uns nicht spurlos verschwunden, da noch heutzutage die Dörfer Piping und Pipinsried an sie erinnern. Ersteres liegt zudem nicht fern von der Reismühle, nämlich zwei Stunden unterhalb an der Würm. Ein beachtenswertes Zweiglein derselben Sage ist es auch, wenn die Handschrift von Weihenstephan erzählt, der junge Karl habe auf dem Schloß zu Pähl, welches weiter oben in der Nähe des Ammersees gelegen, seine Knabenjahre verlebt, dort bei einem guten Ritter das Waffenwerk erlernt und an demselben Orte sein Schwert vergraben, um es dereinstens wieder zu holen, wenn er aus dem Untersberg zur Herstellung des deutschen Reiches ausziehen werde.

Eine andere Sage, welche gleichwohl der bayerischen sehr nahe steht, ist in einer alten Chronik der Stadt Bremen aufbewahrt. Nach dieser ist Berthas Vater der König Theoderich von Schwaben, Bayern und Österreich. Die Wildnis aber und die Mühle liegen nicht an der Würm, sondern dort, wo jetzt Karlstadt am Main sein stilles Leben führt. Die älteren Dichtungen und Romane der Franzosen, Italiener und Spanier wissen sämtlich auch davon, dass Bertha in einen Wald verstoßen worden, aber sie verlegen alles in romanische Lande, nur dass sie die Erinnerung an den Mainstrom, Le Magne, beibehalten, geben auch sonst der Erzählung einen ganz andern Gang. Unter diesen Erzeugnissen einer fabelhaften Muse ist das berühmteste der Roman de Berte aux grand pieds, welchen Adenez le Roi, der Minstrel Heinrich III., Herzogs von Brabant, im dreizehnten Jahrhundert gedichtet hat. Nach ihm sind Berthas Eltern Flor und Blancheflor von Ungarland, ein Königspaar, welches in damaligen Rittergeschichten ebenfalls viel besungen und gefeiert wurde, ohne dass es je gelebt hat. Nebenbei gesagt, erzählt, die schöne Braut des fränkischen Pipins in jenem Roman, dass zu ihrer Zeit in deutschen Landen jeder große Seigneur, Graf oder Marquis sich französische Leute hielt, um die Kinder französisch lernen zu lassen, und so hätten denn auch, fährt der Dichter fort, der König wie die Königin von Ungarn und ihre Tochter das Französische von Paris eben so gut gesprochen, als wenn sie in St. Denis geboren gewesen wären.*) Jene deutsche Sitte hat sich bekanntlich bis auf den heutigen Tag erhalten, wo noch vornehme, ja selbst alltägliche Handelsmanns- und gewöhnliche Beamtensfrauen mit zarter Sorgfalt darüber wachen, dass ihre Kinder nicht zu früh mit der Muttersprache vertraut werden und dadurch jenen Anstrich von Gemeinheit gewinnen, dessen sie selbst so gerne los wären — ein Vorurteil, welches wenigstens Friedrich der Rothbart, der große Kaiser, vollkommen überwunden hatte, so dass er sich, seine edle deutsche Sprache über alles setzend, immer nur durch Dolmetscher mit fremden Botschaftern verständigte, auch wenn er ihre Mundart selber wohl zu reden wußte. Übrigens scheint, wie oben angedeutet, auch jener Minstrel des Herzogs von Brabant weder von Karlstadt noch von der Reismühle je gehört zu haben. Selbst die alten deutschen, freilich aus französischer Quelle sprudelnden Dichtungen von des Kaisers Jugend, die unter dem Namen Karlmainet bekannt sind, wissen nichts vom Tale der Würm.

*)Avoit une coustume ens el tyois pais,
Que tout li grant seignor, le conte et li marchis
Avoient, entour aus (eux), gent françoise tous dis (toujours)
Pour apprendre françois leur filles et leur fils.
Li rois et la royne et Berte o le cler vis (au clair visage)
Sorent pres d'aussi bien le françois de Paris,
Com se il fussent nés el bour à Saint-Denis.


Aber wenn der große Karl nicht auf der Reismühle geboren ist, wie der Müllersknecht behauptete, und nicht zu Karlstadt, und wenn den Sagen, welche sich alle widersprechen, überhaupt nicht zu trauen ist, wo hat er denn eigentlich das Licht der Welt erblickt? Wer so in dem stillen Tale der Würm zwischen Fluren, Wald und Rinderherden als Uneingeweihter dahinpilgert, der ahnt wohl kaum, wie viel über diese Frage schon geschrieben worden ist — nicht zwar im Landgericht Starnberg, nicht in Dachau oder Bruck, wo man die Sache abwarten zu wollen scheint, sondern draußen in der großen Welt, in Franken, Lothringen und Burgund, diesseits und jenseits des Rheins. Und doch ist die Frage noch immer nicht beantwortet, wird auch vielleicht nie eine ganz sichere Lösung erhalten. — Seltsam klingt es allerdings, wenn der gleichzeitige Einhard, des Kaisers Geheimschreiber, uns berichtet, über dessen Geburt und Jugend habe er nichts erfahren können, da sich in den Schriften hierüber keine Aufzeichnung finde, und von jenen, die davon Kenntniß gehabt, keiner mehr übrig sei. Man hat diesen Worten schon lange die Deutung gegeben, dass der ehrerbietige Biograph nicht sagen wollte, was er wußte. Als sicher gilt, dass Karls Mutter, Pipins Gemahlin, Bertha oder Bertrada geheißen habe, eine Tochter des Grafen Heribert von Laon gewesen, und dass der Kaiser am 2. April 742 geboren sei, aber der Ort wird von den Schriftstellern seines Jahrhunderts nirgends angegeben; keiner verliert ein Wort über jene Frage, die der Sage so teuer geworden. Spätere behaupteten nun, er sei in Paris zur Welt gekommen, andre, in Brabant. Die meisten Stimmen sind gleichwohl für Deutschland, darunter mehrere für Ingelheim am Rhein, andre für die damalige Hauptstadt Aachen. Es fehlt ferner nicht an solchen, welche das wenig bekannte Vargel an der Unstrut in Thüringen dieser Ehre für würdig halten, aber auch das nibelungische Worms wird hin und wieder genannt. Eine alte Überlieferung kämpft endlich für Lüttich oder dessen Umgegend, und die Akademie zu Brüssel schrieb 1854 auf Anregung eines unbekannten Wohltäters sogar die Preisaufgabe aus: Charlemagne est il né dans la province Liège? Eine deutsche Abhandlung, welche Herr Dr. Hahn in Berlin überreicht hatte, erhielt den Vorzug vor sieben andern, wurde aber doch nicht preiswürdig befunden, weil die Frage nicht, wie gefordert worden, mit entschiedenem Ja oder Nein beantwortet war. Herr Polain, ein Mitglied der Akademie, welcher den gutachtlichen Bericht verfasste, stellte dagegen selbst die Ansicht auf, dass Karl nicht in Lüttich, sondern zu Chelles an der Oise geboren sei. Unabhängig von der Preisfrage hat sich der gelehrte Ferdinand Henaux, ein Lütticher, mit dem Gegenstande beschäftigt, und im Jahre 1847 ein Schriftchen darüber herausgegeben, welches wegen der großen Teilnahme, die es erregte, bis 1859 vier Auflagen erlebt hat, ein Glück, das in Bojoarien wohl kaum irgend einer historischen Untersuchung zu Teil werden möchte, auch nicht, wenn sie das große, vielfach besprochene Ursprungsrätsel siegreich lösen, nicht wenn sie den Stammbaum der Scheyern bis auf den neuerlich herausgeforschten Vannius I., den Urkönig der Baiwaren, mit mathematischer Sicherheit hinaufführen würde.

Henauxs Büchlein liest sich sehr angenehm, und da es die neueste Arbeit auf diesem Felde ist, so wollen wir bei ihm doch etwas länger verweilen. Nicht ungern entnimmt man daraus, dass der Verfasser fast lieber ein Deutscher wäre, als ein Franzose, und der Spruch eines alten Lüttichers: ,,Nos Germani sumus, non Galli comati.“ (Bischof Wilibald schrieb so im Jahre 1149) steht als Wahrzeichen gleich auf dem Titelblatte — ein kleiner Ersatz für die guten deutschen Meister der Schneiderkunst und der Schuhmacherei zu Ofen-Pesth und an andern Sitzen deutscher Kultur in Ungarn, welche jetzt in den Zeitungen ausschreiben, dass sie mit nächstem Neujahr nicht mehr Vordermayer oder Hinterhuber heißen werden, sondern Hirlapok oder Retötö. Als seine eigentlichen und gefährlichen Gegner sieht Herr Henaux auch nur die Franzosen an, welche, wie er sagt, alle schönen Einzelheiten der Geschichte zu ihrem Vorteile konfiszieren, alles nach Frankreich verlegen und auch aus dem großen Kaiser, dessen Copie und Nachdruck zu scheinen selbst ihr Napoleon nicht zu stolz gewesen, einen Pariser machen wollen, während jener doch, genau betrachtet, die jetzige Metropole der Zivilisation nur einmal in seinem Leben und zwar im Jahre 779 betreten habe. Die Schreiber an den Ufern der Seine seien freilich nicht geeignet, den Lütticher Forschungen je gerecht zu werden, weil sie nicht zugeben wollen, dass das jetzige Frankreich nur ein abgerissenes Stück von Belgien sei. Gleichwohl könne Niemand leugnen, dass die verschiedenen Teile des französischen Gebiets allmälig von den Niederlanden aus, durch Karl Martell, Pipin von Heristal und Karl den Großen, die ruhmreichen Belgier, erobert worden seien.

Milder, aber doch auch ganz entschieden, tritt Herr Henaux gegen die Deutschen auf; indessen sei es, sagt er, eigentlich überflüssig, ihre Prätension, dass Karl zu Ingelheim geboren, ernsthaft zu bekämpfen, da sie von ihnen selbst schon wieder aufgegeben sei. Von der Reismühle bei Gauting ist ihm nie das Mindeste zu Ohren gekommen, wie ihm überhaupt alle germanistischen Studien, Schriften und Bücher in wunderbarer Ferne geblieben sind. Einige schriftstellerische Landsmänner, gelehrte Belgier, welche statt der späteren romanisierten die alten ächten fränkischen Personen- und Ortsnamen wieder angewendet, fährt er sogar ziemlich bitter an und bricht dabei seltsamer Weise, ohne an seine germanischen Sympathien zu denken, in die Worte aus: Laßt uns um Gotteswillen in Gallien gallisch sein, wie man jenseits des Rheines deutsch ist! Den Namen Karl hält er für wallonisch oder, wenn man wolle, auch für gallisch, und nichts, sagt er, sei weniger deutsch, als die Namen, welche Karl seinen Kindern gegeben. Der Kaiser hat nun aber seine Sprösslinge Pipin, Ludwig, Hruodrude, Bertha, Gisela, Theoderade, Hiltrude, Hruodheide usw. benannt, und dies sind lauter Klänge, welche unsre Germanisten, wie ich glaube, unmöglich fahren lassen können. Was Jakob Grimm, Simrock und andere Forscher aus der Bertha in der Mühle herausgedeutet,*) ist Herrn Henaux also auch ganz unbekannt geblieben. Wo unsere Erklärer mythische Motive finden, sieht er vielmehr die historischen Grundzüge einer glaubwürdigen Tradition, wo die unsrigen eine halbgöttliche Schwanenjungfrau wittern, erblickt er nur ein ganz menschliches Müllerstöchterlein. Es geht oder ging nämlich auch zu Lüttich einst die Sage, dass Pipin sein fürstlich Gemahl auf einer benachbarten Mühle kennen gelernt habe. Und warum, sagt Herr Henaux, sollte jene Bertha, deren Vater nach seiner Meinung ungewiss, nicht die reizende Tochter eines Lüttichers gewesen sein, welcher in der Gegend mehrere Mühlen betrieben hat? Die Pipiniden waren Parvenus und in der Wahl der Frauen wenig heikel. Warum sollte Pipin von Heristal (d. h. der Kurze) nicht auch ein Weib aus dem Volke sich beilegen, warum nicht die schöne Bertha, wenn auch die Tochter eines Mühlenbesitzers? — Und wenn es eine Zeit gegeben hat, da Pipin diese Bertha von sich stoßen wollte, was eigentlich nur Papst Stephanus verhinderte, soll man jene Absicht nicht dem Stolze des Heristalers zuschreiben, der sich unterweilen schämen mochte, eine Frau geheiratet zu haben, welche keine „geborene“ war. — Leiden ja doch die Worte Einhards selbst kaum eine andere Deutung, als dass die Geburt des Kaisers nicht mit derselben Pracht und Hoheit umgeben war, wie seine Mannesjahre.

*) Vergl. Bayrisches Hochland. S, 80.

Die deutschen und damit auch die bayerischen Ansprüche werden ferner mit dem schweren Satze niedergeschlagen, dass Pipin erst nach der Geburt des kleinen Karl über den Rhein gekommen sei, was aber nicht richtig ist, da jener, wie bei Ideler im Leben Karls des Großen (S. 134) zu lesen, allerdings schon im Jahre 741 nach Thüringen und Franken gezogen war, um der Investitur des Bischofs Burkhard von Würzburg beizuwohnen. Und da sich denn alle andern Behauptungen nicht begründen lassen, meint Herr Henaux, so sei es das Verlässigste, sich für Lüttich oder dessen Umgebung zu entscheiden. Es brauche dies auch keineswegs aufs Geratewohl zu geschehen, denn eben für jene Landschaft, mehr als für jede andre, sprächen eine Menge kleiner Winke und Andeutungen. Dort seien die Ursitze und Lieblingspfalzen der Pipiniden, Landen, Jupille und Heristal gelegen; dort seien Pipin von Landen, Karl Martell und Pipin von Heristal, dort die schöne Alpheide und die schöne Bertha (?) geboren. Und so habe denn auch Karl der Große das Land von Lüttich immer so betrachtet und gehalten, wie ein Mann nur seine Wiege und seine Heimat zu betrachten und zu halten pflege. Dort habe er am liebsten das erste Erwachen der Natur, den schönen Lenz, den rauhen Spätherbst abgewartet, dort am liebsten Ostern und Weihnachten gefeiert, dort Volksfesten beigewohnt und Hoftage abgehalten. Wenn er auch später Achen zu seiner Residenz gewählt zu haben scheine, so sei es nur geschehen, um den Anforderungen des Staates nachzugeben — so oft es ihm aber möglich gewesen, sei er in sein geliebtes Lüttich zurückgekehrt, wo er dann die Bürger durch glänzende Freibriefe ausgezeichnet, reiche Kirchen gestiftet und vieles andere mehr gethan, was hier zu wiederholen wohl zu weit führen möchte. Auch finde man schon früh und bei mehr als einem Schriftsteller die Meinung, dass Karl der Große in oder bei Lüttich geboren sei. Und so schließt Herr Henaux seine Schrift mit folgenden Worten: „Also glauben wir denn, dass die Autorität so vieler ausgezeichneter Gelehrten, die Bedeutung so achtungswerter Zeugnisse, volkstümliche Überlieferungen, so zahlreich und so wohl verbürgt, zu viel Gewicht haben, als dass man fürderhin leichtweg eine Meinung vorbringen dürfte, die der unsrigen entgegengesetzt wäre.“

Freilich läßt sich bei alledem nur behaupten, dass zwar viele Anzeichen, aber nicht, dass volle Evidenz für die Ansprüche der Lütticher streiten, indessen sind diese so gespannt, ins Reine zu kommen, dass sie nun sogar im Archiv des Vatikans nachforschen lassen, von welchen Orten aus Pipin um 742 seine Briefe an den heiligen Vater geschrieben habe.

Seltener zwar als unsere Agnes Bernauer, aber doch schon mehrmals ist auch die Mähr von der schönen Bertha in deutscher Dichtkunst verwendet worden. So trat z. B. Friedrich de la Motte-Fouqué (Ist vielleicht ein Bild da)(1816) mit einem Ritterliede auf, welches „Karls des Großen Geburt und Jugendjahre“ überschrieben ist. Er hat die Reismühle als Schauplatz beibehalten und uns damit viele Ehre erwiesen. Ebenso, doch ohne ihren Namen zu nennen, O. F. Gruppe, welcher in seiner „Königin Bertha“ (Berlin 1848) die alten Bojoaren zwar als sehr unfeine Rüpel schildert, deswegen aber hier weiter nicht gekränkt werden soll, da wir darin nur eine poetische Lizenz erblicken, welche sich andre auch in Betreff der neuern schon genommen haben, eine Tätigkeit, die aber jetzt nahezu überflüssig ist, da wir in der Selbsterkenntnis; sehr unbefangen und stark geworden sind, uns auch den Spiegel mit viel weniger Schonung vorzuhalten wissen, als manche andre mehr eingebildete als gebildete Nationen Deutschlands. Dagegen meinte Karl Simrock, welcher „Bertha die Spinnerin“ gedichtet (184? und 1853), gewissenhafter zu handeln, wenn er die Geschichte nach der Leseart der Bremer Chronik auf die ehemalige Karlsburg am Main verlegte und auf die Mühle, die da gestanden, wo sich jetzt Karlstadt erhebt, während man doch zweifeln möchte, ob dort die Sage noch so lebendig als im Tal der Wurm. Uns unangesehenen Altbayern will eben nicht leicht jemand etwas gönnen, und wie der reisende Entomologe etwa am Wendelstein einen schönen Falter aufspießt und ihn forttragt, um ihn in fernem Lande, zu Göttingen oder Greifswalde in sein Kabinett zu stecken, so tragen die auswärtigen Dichter unsere Mythen aufgespießt über Berg und Tal davon, um sie an andern Gestaden wieder in den Boden zu senken und blühen zu lassen. — Aus diesem Grunde dürfte man vielleicht sagen, dass Simrocks Gedicht in Lycisarien und namentlich im Landgericht Starnberg mit Recht keine Leser gefunden, wenn man nur zu gleicher Zeit auch behaupten könnte, dass die beiden andern dort desto mehr bekannt geworden.

Um aber nach diesem langen Ausflug in den Garten der Sage und der Dichtung wieder in die Reismühle zurückzukehren, so suchte ich zwar an jenem Abend von dem Müllersknecht noch mehreres zu erfahren, allein er schien sich mit den deutschen Forschungen auch nicht inniger bekannt gemacht zu haben als Herr Henaux von Lüttich, und in der Tat nur so viel zu wissen, als er schon gesagt hatte. Dagegen wies er mich freundlich an seinen Herrn, der vielleicht ein Mehreres mittheilen könne und den ich wahrscheinlich drüben im Wohnhause finden würde. Ich ging also zur nächsten Türe und trat in die einfache, aber saubere Wohnstube, wo die Müllerin saß, die brave Mutter fünf frischer Kinder, die ihr jüngstes Büblein auf den Knien fröhlich schaukelte. Nach einigem Hin- und Herreden über die alte Mähr fragte ich, ob denn von dem Kaiser gar kein Andenken mehr übrig sei. „Was soll denn übrig sein?“ entgegnete die Müllerin neckend: „ein paar Kinderschuhe, ein gestrickter Nachtjanker?“ Aber auch dies Wenige ist nicht vorhanden — nur ein alter Kalender sei im Hause, in welchem die ganze Geschichte gedruckt zu finden. Sie wollte ihn aus dem Schranke nehmen, besann sich aber eben, dass der Müller den Schlüssel zu sich gesteckt und dieser sei jetzt mit Knechten und Dirnen der Ernte halber auf dem Felde. Zum Notbehelf verwies sie mich auf die Tafel, die im Wirtshause zu Gauting hängt und auf welcher die Geschichte in Kürze verzeichnet ist. Auf die Frage, ob mau nicht etwa das Zimmer zeige, in dem der Kaiser geboren sei, erwiderte sie, auch dieses wisse man nicht mehr, da die Mühle seitdem schon zwei Male abgebrannt. Im Scherze bemerkte ich, es sei doch nicht schön, dass der Kaiser gar nichts für seine Geburtsstätte getan — er hätte doch eine Brauerei oder ein Patrimonialgerichtchen daher stiften können, worauf die Müllerin aber ablehnend sagte, das sei nicht notwendig gewesen, es ginge ihnen schon so nicht schlecht. — Damit hat sie auch nur die Wahrheit gesagt, denn der Reismüller ist als fleißiger, unterrichteter und wohlhabender Ökonom im ganzen Landgericht bekannt. — Nach dem Manuskript von Weihenstephan hat Pipin die Mühle allerdings steuerfrei gemacht, allein der Herr Rentbeamte von Starnberg nimmt jetzt keine Rücksicht mehr darauf. — Den Müller und sein Gesinde bekam ich nicht zu sehen. Die Dirnen hätte ich freilich sehr gerne betrachtet, um zu prüfen, ob nicht vielleicht wieder eine versteckte Bertha darunter wäre, die etwa einem unsrer jagenden Prinzen gefallen und dann später zur Aufnahme des deutschen Vaterlandes aus der Reismühle einen großen Kaiser gebären möchte.

Hier aber am rauschenden Bache, an der berühmten, wenn auch fabelhaften Geburtsstätte des ersten Helden der Christenheit, hier befällt mich ein Gefühl, o Leser, als wenn wir scheiden sollten. Wenn ich nämlich auf die nächste Anhöhe steige, so kann ich dir in der Ferne schon die blauen Frauentürme von München zeigen, und diese mahnen uns, dass die Reise zu Ende geht. Wir haben zwar manches Stündlein miteinander zurückgelegt, aber ob dir mein Umgang sonderlich fördersam und lehrreich geworden, möchte ich fast bezweifeln. Darum gehe du hinfür nur wichtigeren Geschäften nach, denn wo jede Woche einen neuen Verfassungsentwurf für das deutsche Reich gebiert, ist es nicht rätlich, sich zu viel mit abgelegenen Almenhütten, Bergseen und Wasserfällen, mit alten Liederbüchern und märchenhaften Mühlen zu beschäftigen. Es sollte dir aber auch nur zur Ruhe und Erholung dienen, auf dass du in den wilden Stürmen, welche, wie man meint, das teure Vaterland demnächst erschüttern werden, desto frischer und kräftiger dich bewähren mögest. Und sollte das deutsche Volk später wirklich wahrnehmen, dass gerade die Leser dieser Wanderungen sich vor andern durch ausgeruhten Verstand (der leider täglich seltener wird) und verjüngte Tatkraft hervortun, so könnte der Verfasser immerhin mit einigem Fug behaupten, dass er sie nicht vergebens beschrieben habe — Ehre und Ruhm genug für seine bescheidene Muse!

(In neuester Zeit sind die Geschichtsforscher, namentlich auf Betrieb der Belgier, wieder mehrfach mit Zeit und Ort der Geburt des großen Karl beschäftigt gewesen. Nachdem diese Frage, wie oben erwähnt, keine entschiedene Antwort gefunden hatte, so änderte die Akademie zu Brüssel die Aufgabe und schrieb in Übereinstimmung mit dem anonymen Stifter des Preises einen historischen Wettkampf aus für eine „Geschichte der Karolinger in ihren Beziehungen zur nationalen (d. h. belgischen) Geschichte.“ Dieses Mal erlangten den Sieg die Herren Warnkönig und Gerard mit ihrer Schrift: Histoire des Carolingens (Brüssel 1862). Es versteht sich von selbst, dass sie darin auch auf die frühere Aufgabe zurückkamen und in diesen: Betreffe suchten sie neuerdings die Ansicht zu stützen, dass Karl am 2. April 742 zu Herstall geboren sei. Dagegen hat Dr. Heinrich Hahn in der Schrift, deren wir schon oben gedacht, und seitdem wieder in seinen Jahrbüchern des fränkischen Reichs mit Schärfe und Gründlichkeit dargetan, dass die kritische Geschichtsschreibung über jene Frage gar nichts Sicheres angeben könne. Weder stehe das Jahr der Geburt noch der Ort derselben fest. Karl möge eben so gut 742 als 743 oder 747, ebenso gut in Reustrien oder Australien, als in Alemannien oder Bayern das Licht der Welt erblickt haben. So kömmt der Forscher leider auf den Satz hinaus, dass über diese Frage noch immer die schlichten Worte Einhards gelten, nämlich : de cujus nativitate ateque infantia vel etiam pueritia, quia nec scriptis usquam aliquid declaratum est, nec quisquam modo superesse invenitur, qui horum se dicat habere notiam, scibere ineptum.

Unter solchen Umständen kann man es auch den Müllersleuten am Karlsberg nicht verübeln, wenn sie vor der Hand noch gläubig an ihrer Sage festhalten.

Wunderlich ist es übrigens, wie viel sich die jetzigen, längst romanisierten Belgier auf ihre Abkunft von den alten Franken einbilden und mit welcher Wärme sie die alten deutschen Karolinger als die eigensten Landsleute an ihr wallonisches Herz ziehen. So sagen zum Beispiel auch die beiden genannten Herren in der Vorrede: „Die Deutschen betrachten die Geschichte der Eroberer Galliens gerade so, als wäre es die ihrer Ahnen. Nun waren aber die Franken unsre Väter und uns Belgiern kommt der größte Teil ihrer Erbschaft zu. Was Deutschland anzusprechen hat, das ist die Geschichte der Sachsen, der Thüringer, der Bayern, der Schwaben und nur ein Teil der Geschichte der ripuarischen Franken. Diese Rolle ist so schön, dass es mit ihr zufrieden sein kann und die unsrige nicht zu usurpieren braucht. Belgien war nicht allein die Wiege der fränkischen Nation; auch die Quelle der politischen Institutionen und der Gesetzgebung der Franken ist nur in diesem Lande zu suchen. In Belgien endlich entstand auch das edle Geschlecht der Pipine, dem der Ruhm vorbehalten war, die gesellschaftliche Ordnung zu retten, als sie, kaum gegründet, sich wieder im Abgrund der Anarchie zu verlieren drohte.“

Es wäre wohl eine Querelle allemande zu nennen, wenn man mit den ehrenwerten Belgiern über solche Ansichten streiten wollte. Dem Deutschen kann es eher angenehm sein, dass sie mehr Vorliebe für die alten Franken zeigen und für die Karolinger, als für die Gallier und die — Napoleoniden. Bei alle dem darf man aber immerhin behaupten, dass die alten Franken und die Pipiniden, wenn sie heute wieder aus dem Grabe aufstünden, doch mehr Sympathie und landsmannschaftlichtes Gefühl für die deutschen Kölner und Aachener empfinden würden, als für die wallonischen Leute von Lüttich und Namur.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderung im bayrischen Gebirge