Der Irschenberg

Nachdem wir nun von Reichenhall und den Ufern der Salach über die Länder am Chiemsee und am Innstrom bis in die Nähe der Isar vorgedrungen, so wollen wir doch, ehe wir diese überschreiten und in der uralten Abtei zu Benediktbeuern auftreten, auch noch des Irschenbergs gedenken, der als ein Ausläufer des hohen Wendelsteins über der Mangfall liegt und im letzten Frühling an einem wunderschönen Tag besucht wurde.

Der Irschenberg bedeutete den Wanderern ehedem viel mehr als jetzt. Wenn wir vormals, der Hauptstadt entfliehend, von der Peißer Höhe herniederkamen, so fiel er uns dort schon in die Augen als die große Vorwacht der Alpen, und die weiße Kirche auf der Spitze leuchtete wie ein Pharus, bis uns endlich hinter Aibling im moorigen Walde dieser Anblick durch die Bäume wieder verstellt wurde. Einem Gesellen, der so anhänglich über vier Stunden lang nebenhergeht, pflegt man immerhin einige Aufmerksamkeit zu widmen; man will wenigstens hören, wie er sich nennt. Dieses hat denn der fremde Wanderer meines Wissens auch immer ohne Anstand erfahren, aber gewöhnlich die Nachricht mit in den Kauf nehmen müssen, dass einem Pfarrer von Irschenberg trotz seines hohen, den irdischen Dingen fast entrückten Wohnorts schon einmal Haberfeld getrieben worden sei. Selten oder nie war dagegen von dem heiligen Marinus und seinem Freunde, dem heiligen Anianus die Rede, obwohl gerade sie dem Berge seine kirchliche Bedeutung verliehen und schon manches Forscherauge zu seiner waldigen Höhe emporgezogen haben.


Aber, wie gesagt, der Irschenberg ist nicht mehr, was er war, vielmehr durch die Eisenbahn in eine ganz falsche Stellung geraten. Man sieht ihn nicht mehr als grüne Pyramide, als Wahrzeichen der Landschaft über der Ebene stehen; man fährt nur rasch an seiner Flanke dahin und misst ihn auf keinem Punkte in jener stolzen Größe wie ehemals auf der Aiblinger Landstraße. Niemand fragt mehr, wie dort die Kirche heiße und selbst das alte Skandal scheint ganz in Vergessenheit zu verfallen.

Was mich betrifft, so gestehe ich aufrichtig, dass ich diesen Berg im letzten Sommer zum ersten Male bestiegen habe. Der schlechte Ruf des schlechten Wirtshauses, welches seine Krone schmückt, hat ihn unter den gebildeten Ständen nie recht beliebt werden lassen. Wer nicht besondere Zwecke hatte, betrachtete die waldige Höhe, die etwa sechshundert Fuß über die Mangfall emporragt, viel lieber von unten, und ließ ihren Gipfel weislich unbesucht.

Mich aber zog es immer mächtiger hin zu den Ruhestätten der alten Heiligen, und so fuhr ich denn eines Tages nur zu diesem Ziele aus und ging zuerst von dem Heufeld nach Götting, einem kleinen Pfarrdorf, in dessen Sprengel vor drei Jahren nach langer Stille wieder ein bescheidenes Haberfeld getrieben wurde. Nach dem zahmen Gang der Handlung und der wenigen Mannschaft, die sich dabei beteiligte, glaubten manche wähnen zu dürfen, es sei dies das letzte Lebenszeichen der aussterbenden Sitte gewesen, bis sie bald darauf durch das pompöse Rügefest zu Tegernsee aus diesem Wahn gerissen wurden. Seitdem ist der alte Brauch wieder dermaßen in Übung gekommen, dass der Griffel der Geschichte den einzelnen Haberfeldern kaum mehr folgen konnte, bis diese seltsame Rechtspflege endlich zu fast allgemeiner Befriedigung und, wie es scheint, für immer an den strengen Maßregeln unterging, welche die Staatsverwaltung im letzten Winter gegen das heimliche Gericht ergriff. — Von Götting schlängelt sich dann das Sträßchen hinauf nach dem weithin sichtbaren Orte Irschenberg (2193 p. F.), der kleinen Hauptstätte jener ausgedehnten Hochebene, welche den gleichen Namen führt. Indem ich diesen Weg verfolgte, ersah ich denn auch, dass der Irschenberg, obwohl er von unten aus betrachtet, sehr waldig zu sein scheint, eine meist gelichtete, fast zu sonnige Fläche ist, mit Äckern und Wiesen und mit vielen Höfen bestanden. Der Forst wird nirgends mächtig, doch sind die tiefen „Gräben“, die Wildbachsschluchten, die den Berg da und dort durchrissen haben, gar schön mit Laub- und Nadelholz verkleidet. Die ganze Höhe ist aber wie eine Warte, wie ein ungeheures Belvedere; sieht man nicht in das Hochgebirge hinein, so sieht man in die Ebene hinaus, meistenteils aber sieht man sowohl hinein als hinaus. Die Alpenreihe, die da zu überschauen ist, erstreckt sich vom Gmundnersee bis an die Benediktenwand und der Kirchtürme zählt das Auge Einhundert neun und zwanzig. Von dem erwähnten Hauptorte geht man in einer Viertelstunde nach dem einschickten Gotteshause zu Wilpating. Hier ist also die Stelle, wo im grauesten Altertum St. Marinus, der Bischof, den Irschenbergern das Evangelium gepredigt hat, und es bezeichnet die runde Kapelle, welche hinter der Kirche zu finden, noch jetzt den Ort, wo einst seine Hütte stand. Mit ihm war aus Hibernien auch Anianus, der Diakonus, gekommen, und hatte zu seinem Wohnsitz das nahe Alb erkoren. Lange Jahre wirkten sie hier zusammen, bis einmal Marinus, während er die heilige Messe las, eine himmlische Stimme hörte, welche ihm den unseren Martertod weissagte. Bald erschien denn auch eine wandernde Vandalenhorde, die (zu den Zeiten der Könige Pipin und Karlmann) das Hüttlein ausraubte und den frommen Einsiedler verbrannte. Am selben Tage gab auch St. Aman zu Alb seinen Geist auf. Der Priester Priamus begrub sie. Der fünfzehnte November, der Mareinstag, wird noch jährlich als Gedächtnisfeier der beiden Heiligen unter großem Zulauf des Volkes festlich begangen.

Die Vandalen am Irschenberg sind übrigens sehr bedenklich und müsste, wenn man diesem Namen vertrauen wollte, der Vorgang spätestens ins Jahr 406 verlegt werden, wo dieselben aus Deutschland fortgezogen sind, aber damals war von Pipin und Karlmann noch nichts zu hören. Man übersetzt daher die Vandali (wie nach damaligem Sprachgebrauch allerdings erlaubt ist,) mit Wenden und verlegt die Begebenheit ins siebente Jahrhundert, was gleichwohl immer noch zu früh ist für jene beiden Könige. Aber nicht allein Zeit und Herkunft selbiger Vandalen ist unsicher, sondern auch die Echtheit der Reliquien, die auf dem Irschenberg verehrt werden, war lange Zeit sehr bestritten. Die heiligen Leichname sollen freilich zu Wilpating begraben sein, aber das Kloster Rott am Inn nahm seit Jahrhunderten gleichen Ruhm für sich in Anspruch, behauptend, die ehrwürdigen Gebeine seien schon in alten Tagen aus dem Gebirge herausgetragen und seinen Heiligtümern einverleibt worden. Auch begannen die Gemeinde Irschenberg und das benannte Kloster im vorigen Jahrhundert deßhalb zu Rom einen Prozess miteinander, der eben so lang dauerte, als wenn er bei dem Reichskammergericht zu Wetzlar geführt worden wäre und gleichwohl nicht zu Ende kam. (Doch soll sich späterhin der heilige Vater für die Irschenberger ausgesprochen haben.) Nun begab sich aber eines Tages Ludwig Joseph, der Fürstbischof von Freising, selbst auf den Weg nach Wilpating, um die Gebeine wieder zu prüfen und in neue Schreine zu legen. Dazumal (es war 1776) erhielt auch das Kloster Rott den Befehl, dorthin zur Einsicht zu senden, was es an verlässigen Überbleibseln der heiligen Einsiedler etwa zu besitzen vermeine. Deswegen erschien auch an dieser Stelle vor dem hohen Kirchenfürsten ein Vater jenes Stifts am Inn und wies schüchtern den Teil eines Schädels vor, den einst St. Marinus getragen haben sollte, der aber sogleich als apokryph [fälschlich] erklärt und verworfen wurde. Der Protomedikus des Bischofs erkannte nämlich, dass selbst dieses Knochenbruchstück nur künstlich zusammengeflickt und ohne allen kirchlichen Wert sei. Nichtsdestoweniger war derselbe Schädel Jahrhunderte lang zu Rott als St. Marini Hirnschale ausgestellt gewesen; es hatten die Wallfahrer geweihten Wein durch silberne Röhren daraus geschlürft, und dabei gleichwohl in leiblichen und geistigen Leiden Heilung genug gefunden! Man sieht daraus nur neuerdings, welch' ein einziges Gut der Glaube ist. Übrigens findet sich die Meinung nicht selten, dass der liebe Gott die Gebeine berühmter Martyrer zum Besten der Gläubigen auch vervielfältigen könne und dieses schon öfter getan habe. Es wäre daher besser, die göttliche Allmacht zu bewundern, als über frommen Betrug zu schreien, wenn man zum Beispiel hört, dass die Hirnschale des heiligen Blutzeugen Sebastian eben so gut zu Ebersberg in Oberbayern als zu Soissons in Frankreich gezeigt wird. Merkwürdig ist es auch, dass die Wallfahrer an beiden Orten, wie zu Rott am Inn, durch silberne Röhrchen aus dem Schädel wunderkräftigen Wein zu trinken pflegen, worin man nahezu ein altes heidnisches Erbstück sehen könnte.

Die Gemeinde ließ darauf über den geweihten Schreinen aus rotem Marmor ein kleines Grabmal errichten, welches noch zu sehen. Außerdem erinnern an die beiden Einsiedler ihre halberhabenen Bilder an der hintern Wand der Kirche, welche Steinarbeiten aus den letzten Zeiten des fünfzehnten Jahrhunderts und Stücke eines früheren Denkmales sind. Eine eiserne Glocke, wie eine Schale gestaltet, geht wohl noch ins vorige Jahrtausend zurück. Die Wände sind mit vielen Votivtafeln überdeckt und mit einer Bilderreihe geziert, welche das Martyrium des heiligen Kirchenpatrons darstellt. Diese Bilder sind etwa hundert Jahre alt und die mehrerwähnten Vandalen werden da schon ganz unbefangen Slaven genannt.

Neben der Kirche steht ein einsamer, aber schöner Bauernhof und wohnt darinnen der Maier von Wilpating, vieler Kinder ehrsamer Vater und Mesner in dem Gotteshaus. Der Maier sieht sehr reputierlich drein und trägt jenes schnurrbartige Forstmeistergesicht, welches man bei den Bauern des Oberlandes nicht selten antrifft. Dieser zeigte uns Alles mit großem Fleiß und sichtlichem Vergnügen, so aufmerksame und teilnehmende Gäste — wir waren nämlich unser drei — in seiner Kirche herumführen zu können. Auch gab er uns noch mehrere hundert Schritte freundlich das Geleit, und als ich ihm für seine Mühewaltung etliche Gröschlein reichen wollte, schob er meine Hand lächelnd zurück und sagte: das braucht's nicht; es langt schon bei mir; mich freut's, wenn recht viele Leute kommen und mein Kirchlein anschauen. — Ich war etwas überrascht, denn solche Mesner pflegen zwar bei uns nie etwas zu verlangen, nehmen dagegen nicht ungern, was man freiwillig bietet — aber ein ortskundiger Priester benahm mir nachher das Erstaunen, indem er mir mitteilte, der Maier von Wilpating sei ein steinreicher Herr und eigentlich der „Rothschild vom Irschenberg.“

Durch einen tiefen, steilen, doch malerischen Tobel, in welchem die Kalte, mitunter ein böser Wildbach, dahinfließt, gingen wir nach Alb, wo ein zweites Kirchlein St. Anians, des Diakonus, ehemalige Siedelei verrät. Bischof Dietrich von Salona, Weihbischof zu Freising, hat dasselbe (capellam in alpius nennt er's) im Jahre 1373 eingeweiht. Auch hier wohnt ein Bauer in einem nahen Hause, der den Mesnerdienst versieht und uns sehr angenehm aufnahm. Ja, in dem Bauernhaus beim Alber gab's damals Butter und Brot, gedörrtes Obst, „Kerschengeist“ und freundliche Gesichter obendrein. Der Alber und die Alberin ermunterten uns auch immerdar, ihren Gaben eine Ehre anzutun und die beiden Kinder, der Feiertagsschule angehörig, schauten uns neugierig zu. Das Mädchen, in eines großen Strohhuts ländlichem Schatten, schien besonders aufgeweckt und entging nicht lange meiner Frage: was sie denn in der Schule eigentlich gelernt habe. Unter andern Gegenständen hob sie sofort die Geographie hervor, was mir sehr zusagte. Nun so nenne einmal, sprach ich, alle die Kaisertümer und Königreiche, welche unsern Weltteil schmücken, worauf sie aber sogleich neben hinaus und zu entschwinden trachtete, auch nur durch der Mutter strenge Rede zurückgehalten wurde. Nach einigen weitern, doch anmutigen Zierereien entschloß sie sich endlich, ihre Kenntnisse an den Tag zu legen, faltete die Hände über dem Bäuchlein, neigte das Haupt, so dass der breite Strohhut das Gesicht zu ganz verdeckte und benannte unter anderm Frankreich mit der Hauptstadt Paris, Schweiz mit den drei Hauptstädten Bern, Luzern, Zürich; Griechenland mit der Hauptstadt Athen, Türkei mit der Hauptstadt Kopenhagen, welch' letzteres wohl ein Irrtum, doch schwerlich eine Anspielung. Was die Exegese [Wissenschaft der Erklärung und Auslegung eines Textes] dieser Namen betrifft, so gab das Mädchen gerne zu, dass sie Länder und Städte bedeuten, allein über deren Lage und sonstige Beschaffenheit war ihr nichts abzufragen; man sah leider wieder, wie unverdaut und bildlos ihr die ganze Wissenschaft im Kopfe lag. Mit der Historie des Vaterlands wird es bekanntlich ebenso gehalten — die Kinder lernen die Worte, verstehen aber den Sinn nicht, ebenso wie die Ministrantenknaben bei der Messe die lateinischen Gebete heruntersagen, ohne je daran zu denken, was sie etwa bedeuten könnten. Und doch sind gerade Erdbeschreibung und Geschichte diejenigen Gegenstände, an denen sich die Wissbegierde der Jugend am ehesten entzünden, ihre Fassungsgabe sich am leichtesten entwickeln möchte. Aber, wie es scheint, finden sich die Lehrer nicht, die auf das Verständnis des Gelernten einen Wert legen und dasselbe zu bewirken wissen. Und so lange dieses Gebresten nicht entfernt wird, besteht der ganze Nutzen unsrer Landschule lediglich in der Überlieferung der Buchstabenschrift, deren Hebung und Gebrauch sehr viele Schüler (und namentlich die Bauernkinder der Ebene), wenn sie älter werden, wieder nahezu oder ganz verkommen lassen, während nur wenige, welche früh in Handel und Verkehr oder ins städtische Leben hineingerissen worden, mit Bestimmtheit sagen können, dass sie ihnen einen erheblichen Vorteil gebracht. Während wir beim Alber Unterricht trieben, machte aber auch ein Anachoret [Einsiedler] seine Aufwartung, ein starkgliedriger, doch gemütlicher Mann Gottes in härenem Gewande, früher Jäger und Bahnwärter, jetzt Karmeliterbruder, welchen die Väter von Reisach bei Audorf eigens hieher gesendet hatten, um das Einsiedlerleben zu betreiben. Er war noch nicht sehr menschenscheu, noch kein Griesgram wie St. Paphnutius, sondern lachte gemütlich mit altem Waidmannsfrohsinn aus seinem Barte heraus, der aber vorerst nur dünn und seiner neuen Stellung kaum ebenbürtig zu nennen war. Sein Aussehen schien eine ganz verlässige Gesundheit und ein Alter von wenig mehr als vierzig Frühlingen zu verraten, was fast noch zu jung ist für einen Bahnwärter der Eremit, für einen Jäger der Einsiedler geworden, und damit plötzlich der düstern galiläischen Aufgabe der Entsagung verfallen war, welche, wie die Weltgeschichte lehrt, so schwierig zu lösen ist. Beim Alber sah man gleichwohl mit Vergnügen auf den neuen Hausfreund und versprach sich viele Kurzweil von ihm in den langen Winterabenden. Auch uns flößte er Vertrauen ein und wir gingen auf seine Einladung willig mit in seine Klause, die ein kleines Gehäuse ist, vorne an die Kirche angebaut, in älteren Zeiten stets von Eremiten, den Nachfolgern des heiligen Aman, bewohnt und erst in den letzten fünfzig Jahren verlassen. Das Gemach ist eigentlich keine Stube, sondern ein ungeheurer Ofen, um welchen sich ein kleiner, von kleinen Fenstern erhellter Raum zum Sitzen und Atmen schmiegt. In dem Ofen steckt aber, um mit Riehl zu reden, eine ganze Geschichte, nämlich die Geschichte, wie wohlfeil einst das Holz gewesen und wie viel unsre Vorfahren Hitze ertragen konnten. Jetzt hat diese Geschichte vollkommen ausgespielt und der Einsiedler kämpft nunmehr mit seinem Kachelofen, wie der Ritter auf Rhodos mit seinem Drachen, indem er ihm eine Lende nach der andern einschlägt, wird ihn auch bald vollkommen vertilgt haben, so dass dann auf dem weiten Bette, wo der feuerspeiende Lindwurm gelegen, ein schmächtiges Eisenrohr errichtet und auf diese Weise Raum geschafft wird für ein halb Dutzend Wallfahrer, welche das Wort Gottes und die Weisheit der Welt von den Lippen des kräftigen Karmeliters en famille vernehmen wollen. Auch eine kleine Schule soll ihm, wenn mir recht ist, anvertraut werden — immerhin eine Wohltat für die nächsten Bauernhöfe, wenn sie ihre Kinder zur Winterszeit nicht mehr durch den wilden Tobel nach Irschenberg schicken müssen. Nachdem wir alles dieses aufmerksam betrachtet, nahmen wir Abschied von dem Alber und seinem Hauswesen und sprachen auch noch einige wohlgemeinte Worte zu dem Anachoreten, zu Aman dem jüngern, dem Jäger, Bahnwärter, Karmeliter und vierzig, jährigen Einsiedler, ihn warnend, er möge einesteils in der Selbstpeinigung nicht zu weit gehen, sich keine Quälereien, keine Ketten, Eisenringe oder Stachelgürtel auflegen, keinen Rosenkranz mit ausgespannten Armen beten, wie es weiland unser Abel bei konstitutionellen Gewissensbissen zu unternehmen pflegte, sich keine unnatürlichen, schmerzhaften Körperstellungen aufzwingen und nicht etwa, wie Simeon Stylites dreißig Jahre auf einer Säule stand, sich für seine übrige Lebensdauer auf des Albers Maibaum stellen, denn, wenn auch jener darüber heilig geworden, so hätten sich doch die Wege in den Himmel zu kommen in Folge der neuern Aufklärung viel anständiger gestaltet oder mehr verflacht. Dass man an der Mangfall nicht wie am Jordan von Heuschrecken und Honigwaben leben könne, werde er selbst bald finden. Er möge nur die goldene Mitte suchen zwischen thebaischer [altgriechische Bezeichnung für das Gebiet um die ägyptische Stadt Theben] Abtötung mit Brunnenwasser, Holzäpfeln und mitternächtlichen Bußgesängen — eine Richtung, welche neben Braunbier, Schmalznudeln und abendlichen Schnaderhüpfeln ohnedem nicht recht gedeihen könne — und hellenischer Lebensherrlichkeit mit Austern, Champagner und begeisternden Aspasien [Orchideen], was alles am Irschenberg nicht leicht aufzutreiben sei und sich auch nur für Börsenmänner, Baumwollenfabrikanten und Standesherren schicke, ja selbst den letzteren nicht immer gut tue. Anderseits aber solle er sich als Mitglied des ältesten Asketenordens der Christenheit, welchen schon St. Elias gestiftet, zu keiner Zeit von den bösen Leidenschaften, die im Menschen schlummern, überwältigen lassen, nicht so fanatisch sein wie die Tiroler Kuraten, nicht so unbarmherzig wie die barmherzigen Schwestern zu Wien und anderswo, nicht so grausam wie die ehemaligen Dominikaner, welche selbst die Menschen zu braten pflegten, auch wenn er die Schule versehe, nicht so tierisch wie viele katholische Schulbrüder in Frankreich und die Ignorantelli in Italien, denen man kein Mädchen und keinen Knaben zur Lehre anvertrauen könne, ohne das Abscheulichste fürchten zu müssen, ein Umstand, der für christliche Eltern nicht gleichgiltig sei und welchen ein gewisser hochwürdiger Autor bei seinen jüngst erschienenen unparteiischen Parallelen des Protestantismus und Katholizismus wohl auch hätte berücksichtigen dürfen, sintemalen derjenige, der nicht vom Fache sei, bei jeder Bekenntnisart am Ende frage, wie sie wirke? (how it works sagt der Engländer in seiner sonderbaren Sprache), was mitunter die bitterste Probe für die selbstzufriedensten Religionen sei. Jedenfalls, meinten wir damals auf dem Irschenberg, brauche das deutsche Ketzertum in seinem Familienleben, seinen Sitten und Leistungen, seinem Können und Wissen, einen Vergleich mit Italien, insonderheit mit dem verfaulten Kirchenstaate, mit Frankreich, Spanien, Südamerika usw. nicht sonderlich zu scheuen. Traurig sei es immerhin für einen denkenden Eremiten, sagten wir, und aufregend zugleich, dass hier in den Ländern mit bombenfestem Katechismus gleichwohl alles hinterwärts ging und sittlich verkam, während dort die Leute in der schauderhaftesten Konfusion des Lehrbegriffs ganz augenscheinlich gedeihen, eine Wahrnehmung, die leider den giftigen und immer zu bekämpfenden Zweifel nähre, ob der liebe Gott mit den Dogmen, die man seinem Einfluß zuschreibt, in der Tat auch auf die Perfektion der Menschheit wirken wollen und sie nicht etwa blos als dialektische Probleme für streitsüchtige Theologen und zur Lebsucht für harmlose Landpfarrer veröffentlicht habe.

(Der gute Eremit, obwohl damals von den besten Absichten beseelt, hat leider am Irschenberg doch nicht recht Wurzel fassen können. Es war nämlich nur kurze Zeit verflossen, als sich die Obrigkeit erinnerte, dass er früher, da er noch in den heimatlichen Bergen dem Waidwerk obgelegen, nicht ganz reinen Lebenswandels gewesen. Da er sich jetzt dem Bürgerstande gewidmet, so hätte man vielleicht ein Auge zudrücken können, aber das Pfarramt hielt gleichwohl für nöthig, ihm den Eremitendienst zu künden. Leichten Herzens verließ indes der Paphnutius vom Irschenberg das Pfarrhaus, schor sich seinen Einsiedlerbart und kam mit verjüngtem Antlitze, in der schmucken Jägerjoppe, um Abschied zu nehmen, in des Albers Wohnung, der ihn kaum erkannte und von diesem Umschlag wenig erbaut war. Später arbeitete der ehemalige Waldbruder in einem Ziegelstadel bei Miesbach, wo man ihn alle Sonntage mit einem niedlichen Dirnlein am Arme froh und munter zur Wirtshausfreude wandeln sah.)


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderung im bayrischen Gebirge