Benediktbeueren und die Carmina burana

In den Ländern links der Isar, nicht ferne von der langsam fließenden Loisach, am Rande einer sumpfigen Fläche, über welche aber gegen Mittag ein stolzes Gebirge aufsteigt, erhebt sich das uralte Kloster Benediktbeuern. Es wurde schon unter Herzog Odilo von den drei edeln Brüdern Lantfried, Waltram und Eliland gegründet und von St. Bonifazius zu Ehren des heiligen Benedikt und des Apostel Jakobus im Jahre 740 eingeweiht. Die weitere Geschichte der reichen Abtei bis zu ihrer Aufhebung im Jahre 1803 wollen wir aber hier nicht wieder erzählen, da wir davon, so weit als notwendig war, schon an einem andern Orte gehandelt haben.

Vielmehr haben wir für dieses Mal nichts weiter im Sinne, als ein literarisches Denkmal hohen Alters zu besprechen, welches zwar in dem Kloster seinen Ursprung und von demselben seinen Namen empfangen hat, aber doch im engern Vaterlande noch sehr wenig bekannt zu sein scheint.


Als man nämlich das fromme Stift zu Beuern damals der Weltlichkeit überlieferte und St. Benedikts-Jünger aus den Zellen jagte, wurde auch ein alter, im dreizehnten Jahrhundert zusammengeschriebener Codex aufgefunden, der unter besonderem Verschlusse verwahrt und in den Katalogen der Klosterbibliothek nirgends verzeichnet war. Man öffnete das hochbetagte Buch, blätterte die vergilbten Pergamentseiten durch und entdeckte über zweihundert Lieder darin, meist lateinisch, doch auch mit manchen deutschen durchsprengt, deren eine Hälfte ebenso ernsthaft und entsagend ist, als die andre lebenslustig und leichtfertig. Dass letztere Gattung einiges Befremden erregte, versteht sich von selbst. Manche Stücke daraus wurden einzeln schon bald nach der Entdeckung veröffentlicht, worauf sich dann das gelehrte Deutschland so gespannt und neugierig auf das Ganze erwies, dass endlich unser Schmeller dem allgemeinen Wunsche entgegenkam und die vielbesprochene Handschrift dem Drucke übergab.*) In der Vorrede dazu sagt er mit Geist und Wahrheit, wenn bei fast allen dichterischen Werken, welche die ältere deutsche Literatur aufzählt, deren Verfasser selber auf lateinische Vorbilder hinweisen, so möge sich wohl auch der deutsche Minnegesang nach einem lateinischen gebildet haben, der zumeist von den Klerikern, wenn auch in bescheidener Stille, betrieben und vervollkommnt wurde. Ungerecht würden wir also gegen unsere frühere Literatur sein, wollten wir ihr nur, was in deutscher Sprache geschrieben, zugerechnet wissen; mit gutem Grunde dürften wir vielmehr auch die lateinischen Erzeugnisse der deutschen Poeten des Mittelalters als Vätergut und Hinterlassenschaft betrachten, da sie uns trotz der entlehnten Sprache von der Ahnen Art zu denken und zu fühlen nicht minder treue Kunde geben.

*)Carmina burana. Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart. XVI. 1847. Buron, Burum, Bura nannten die Mönche das Kloster, wenn sie lateinisch schrieben.

Was nun die ernsthafte Hälfte dieser Hinterlassenschaft betrifft, so besteht sie aus Betrachtungen über das Erdenleben und das Jenseits, aus Klagen über die Schlechtigkeit der Menschen, über den Geiz und die Habsucht des römischen Hofes u. dgl. Unsere Mitlebenden mögen daraus entnehmen, dass man sich auch schon im dreizehnten Jahrhunderte nach der guten alten Zeit zurücksehnte, wie in unsern Tagen. Ferner folgen Anmahnungen, das Kreuz zu nehmen und Trauerlieder über die Siege Saladins. Die meisten dieser Dichtungen sind in gereimten Trochäen abgefasst, einige jedoch auch in klassischen Versmaßen, so z. B. ein satyrisches Gedicht auf das Geld, welches nicht anders klingt, als wenn es in unserm Jahrhundert der materiellen Interessen entstanden wäre. Das Geld, heißt es da, sei jetzt der höchste Herrscher, bewundert von den Königen, geehrt von den Großen; ihm neige sich günstig der feile Stand der Priester zu, es verführe die Weiber und mache selbst die kaiserlichen Hofdamen gefällig.*) Scheint es nach solchen Reden nicht, als hätten die Berner Pfennige und die Regensburger Schillinge damaliger Zeit trotz ihres rohen Gepräges und plumpen Aussehens schon eben solche Wunder gewirkt wie die feinen Kremnitzer Dukaten und die glänzenden Napoleone in unsern Tagen! Auch dem Neide wird ein Häuflein Verse gewidmet, aus welchem zu erhellen scheint, dass sich der Deutsche des dreizehnten Jahrhunderts durch jene Eigenschaft nicht minder ausgezeichnet als durch Treu' und Redlichkeit, wie man das ungefähr auch noch von dem Germanen unsrer Zeit behaupten könnte. Endlich erscheint ein Schauspiel (ludus scenicus) von der Geburt Christi und ein Osterspiel (ludus paschalis) von dem Leiden des Herrn.

*) In terra nummerus rex est hoc tempore summus.
Nummum mirantur reges, proceres venerantur.
Nummus in errorem mulierum ducit amorem.
Nummus venales dominas facit imperales.


Letzteres zumal ist sehr bedeutsam und man kann nicht wissen, ob sich die Passion zu Ammergau, wenn ihre Urgeschichte besser bekannt wäre, nicht unmittelbar an dieses Osterspiel anknüpfen ließe. Beider Inhalt ist wenigstens ganz derselbe. Das alte Osterspiel ist aber in lateinischer Sprache abgefasst, und nur einzelne Personen, wie die Mutter des Herrn, Joseph von Arimathäa, Longinus und Maria Magdalena sprechen deutsch. Letztere tritt, als Buhlerin, sehr interessant auf, und singt zuerst ein lateinisch Liedlein über die Freuden der Welt, denen sie sich fürderhin mit vollem Herzen hingeben wolle. Auch ihren Leib gedenke sie nunmehr mit verschiedenen Farben zu verschönern und reizend zu machen. Nach diesem hebt sie deutsch an:

Kramer, gib die Farbe mir,
Die mein Mängel röthe,
Damit ich den jungen Mann
Wider Will zur Minnenliebe nöthe.

Der Krämer gibt die Farbe her, worauf Magdalena einschläft. Nunmehr erscheint ihr aber im Traumgesichte ein Engel und sie erwacht als Büßerin, singt dann ein lateinisch Lied der Reue und bald darauf einen deutschen Bußgesang. Übrigens könnte man aus den obigen Verslein entnehmen, dass das, was die Franzosen Zivilisation nennen, in Benediktbeuern während der letzten sechshundert Jahre nur Rückschritte gemacht, denn der dortige Krämer würde jetzt schwerlich mehr eine Farbe auf dem Lager haben, wie sie Magdalena gewünscht, und überhaupt ist der Gebrauch der Schminke bei den Schönen dieser Gegend ganz und gar abgekommen.

Gehen wir also zu den Liebesliedern über, von denen wir aber auch nur weniges und mit Bescheidenheit berichten wollen. Es ist nicht zu leugnen, dass manche derselben ganz lieblich und in ihren gereimten Trochäen sehr wohllautend und singbar sind. Die ganze Weise leidet jedoch, wie schon oben angedeutet, vielmehr an weltlichem Mutwillen als an klösterlicher Befangenheit, ja manche Stellen hat der züchtige Schmeller als zu bedenklich gar nicht abdrucken lassen. Wenn wir also nicht, wie bei dem hohen Liede Salomonis, einen mystischen Sinn annehmen wollen, welcher sich übrigens auch nur sehr schwer finden lassen dürfte, so stehen diese Lieder wirklich in einem unerklärlichen Gegensatze zu den Gelübden, welche die Jünger des heiligen Benedikt auf sich genommen hatten. Dass es gelehrte Dichter waren, die hier ihre süßen Triebe verewigten, zeigen die häufigen Anspielungen auf die heidnische Götterwelt, auf Jupiter und Juno, Phöbus, Pallas, Orpheus, Philomele, zumal auf Venus, die in allen ihren Prädikaten, als Cypris, Cytherea, Amathusia usw. gefeiert wird. Obgleich die Sänger in ihrem Trachten meistenteils glücklich gewesen zu sein scheinen, so bleibt doch auch das Leid verschmähter Liebe nicht ganz unbesungen. Einmal finden wir sogar, dass eine Schäferin ohne Gleichen (pastorella sine pari) das Wehen des Liebenden mit der Entschuldigung zurückweist, dass ihre Eltern Schwaben seien*) — eine Ausrede, die jetzt wohl wenig mehr gebraucht wird.

*) Quae respondet verbo brevi:
ludos viri non assuevi,
sunt parentes mihi Suevi;
mater longioris aevi
irascetur pro re levi ;
parce nunc in hora.


Übrigens sind es nicht immer Schäferinnen, von denen die geistlichen Sänger schwärmen und träumen, sondern viel häufiger richten sich die Trochäen an schöne Edelfräulein (puellae nobiles), deren Reize sehr anmutig geschildert werden.

Wie viel Wahrheit, wie viel Dichtung dabei mitunterlaufe, und ob man wirklich deswegen auf die damalige Tugend der Töchter höherer Stände in Oberbayern einen Stein werfen dürfe, wer wagt dies jetzt nach sechshundert Jahren noch zu entscheiden? Dass übrigens der Mutwille der Zeit selbst Königinnen nicht unbehelligt ließ, zeigt jenes bekannte, auch hier vorkommende, damals in Deutschland viel gehörte Liedlein, wohl von einem Kreuzfahrer ausgedacht, von lustigen Mönchlein aber gerne nachgesungen und lautend:

Wäre die Welt alle mein
Von dem Meere bis an dm Rhein,
Deß wollt' ich mich darben,
Wenn die Königin von Engelland
Läge in meinen Armen.

Es ist der deutschen Forschung, die sich um alles kümmert, nicht lange verborgen geblieben, dass die hier anonym besungene Huldin jene Eleonore von Poitou, später die Gemahlin Heinrich II. von England, war, deren galante Schönheit den ganzen zweiten Kreuzzug durchleuchtete. Aus Liebe zu Gott hat sie das Kreuz genommen, aber aus Liebe zum andern Geschlecht den bessern Teil ihres guten Rufs fast gänzlich dabei eingebüßt, so dass sie nicht unverdient die Zielscheibe oberbayerischer Anzüglichkeiten geworden ist.

Sehr angenehm zu lesen, ja in seiner Art ganz trefflich ist ein poetisches Zwiegespräch zwischen zwei edlen Mädchen, Phyllis und Flora, welche an einem schönen Frühlingstage lustwandeln gehen und sich unter einer geräumigen Fichte am Gestade eines geschwätzigen Bächleins niederlassen. Nach dem herrlichen Eindruck ihrer Erscheinung heißt sie der Dichter Königinnen und ihre Gestalten nennt er geradezu göttlich. Nicht lange währt es, bis Phyllis ihre Flora über einem Seufzer betrifft, aber fast zur selben Zeit nimmt Flora das gleiche Phänomen an ihrer Phyllis wahr. Endlich bricht diese in sehnsüchtige Worte aus, welche wir, etwas unbeholfen zwar, in folgender Weise wiedergeben möchten:

Trauter Ritter, reich an Ruhm,
Meine Liebe, Günther!
Wo auf Erden kämpfst du jetzt
Nach dem langen Winter?
O du edler Kriegerstand,
Leben ohne Gleichen,
Dir nur ziemt' s in Lieb' und Luft
Alles zu erreichen.*)

*) Miles, inquit, inclyte,
mea cura, Paris,
ubi modo militas,
vel ubi moraris?
O vita militiae,
vita singularis,
sola digna gaudio
Dionaei laris!


Flora entgegnet darauf lächelnd, dass ihr für Lieb' und Lust der geistliche Stand gleichwohl noch den Vorzug zu verdienen scheine, und damit beginnt denn eine lebhafte Erörterung der beiderseitigen Thesen, welcher wir etwas folgen wollen.

Phyllis behauptet, dem Mönche*) dem Schüler Epicurs, sei alle Eleganz versagt, denn selbst seine Gestalt werde durch Fett und Schwerfälligkeit widerlich entstellt. Er sehne sich nur nach Essen, Trinken und nach dem Schlafe.**) Der Ritter dagegen sei immer mit dem Nötigsten zufrieden. Für volle Tische und volle Becher böten ihm Jugend und Liebe reichlichen Ersatz. Er sei dem edlen Waffenspiel ergeben, der Mönch nur den sinnlichen Tafelfreuden. Der Ritter sei immer bereit, freigebig zu schenken, der andre sei nur gewohnt zu nehmen.***) Dagegen wird erinnert:

*) Clericus heißt es im Original, was nach mittelalterlichem Sprachgebrauch „Pfaffe,“ nach heutigem eigentlich ein Geistlicher wäre; doch scheint der Dichter hauptsächlich die Freuden des Mönchslebens schildern zu wollen, so dass wir auch clericus wohl schicklicher durch Mönch übersetzen. Miles war damals bekanntlich das lateinische Wort für Ritter.

**) Nihil elegantiae
clerico concedo,
cujus implent latera
moles et pinguedo.
A castris Cupidinis
Cor habet remotum,
Qui somnum desiderat
Et cibum et potum.

***) meus novit ludere,
tuus epulari ;
meo semper proprium
dare, tuo dari.


In dieser Weise habe noch immer der Neid die Redlichkeit beschrieben. Freilich diene dem Mönche alles, was erschaffen worden, Nein und Honig, Gold und Edelgestein, aber in diesem süßen Überflusse fächle und fliege mit doppeltem Gefieder seine nie rastende, unsterbliche Liebe.*) Bleich und mager gehe dagegen der Rittersmann einher, arm und kaum mit einem Mäntelchen bedeckt, das selbst den Schmuck des Pelzes entbehre. Eine solche Roth, die dem Trauten immer über dem Haupte hange, sei aber entehrend, und was werde der darbende Krieger wohl dem bittenden Liebchen schenken können? Der Mönch dagegen gebe mit vollen Händen aus seinen Reichtümern und seinem Überflusse.**) (Diese Strophen sind sehr auffallend und werfen seltsame Streiflichter ans die damaligen Vermögensverhältnisse der Gegend.

*) In tam dulci copia
vitae clericalis,
quod non potest aliqua
pingi voce talis,
volat, et duplicibus
semper plaudit alis
amor indeficiens,
amor immortalis.

**) Turpis est pauperies
immenens amanti ;
quid praestare poterit
miles postulanti?
Sed dat multa clericus
Et ex abundanti,
tantae sunt divitiac
redditusque tanti.


Sollten im dreizehnten Jahrhunderte Lycisariens *) Paladine wirklich nichts gehabt haben? Wenn dem so wäre, so könnte man sich nur freuen über den Umschwung der Zeiten, da jetzt die Ritter und Edelknechte an der Loisach wie an der Isar, am Würm- und Ammersee sehr gut gestellt sind und sich an den Tafelfreuden eben so wenig abdarben dürfen, wie ehemals die Mönche von Benediktbeuern). Die schöne Phyllis wird auf jene Bemerkungen etwas heftig und sagt mitunter Dinge, die wir weder deutsch noch lateinisch mittheilen wollen. Sie lobt dabei neuerdings das Heldenleben und schildert mit Wärme, wie ihr Ritter mitten im Schlachtgewühls nur ihrer gedenke und wie er dann bei dem festlichen Einzug nach erkämpftem Siege den Helm zurückwerfe und sie mit den Augen minniglich grüße. Hierauf stellt aber Flora die Frage, ob denn die Liebe den Ritter tapfer mache und wild! Nein, sagt sie, sondern die Armut und der Mangel. **) Herrlich dagegen stehe der Mönch vor den Augen der Menschheit, ihm erweise sich alles untertan; selbst die Tonsur sei nur eine Krone, ein Zeichen der Weltherrschaft. Er verachte gemeine und harte Dienste; sein Geist über gehe in der Geschichte den Großtaten herrlicher Fürsten nach oder schwinge sich zum Himmel auf, um die Natur der Dinge und die Wege der Vorsehung zu ergründen; er schreibe, denke, forsche — doch Alles nur um der Freundin willen und auf diese Weise gelinge es ihm mit Amors Hilfe aus einem gemeinen Mönche ein hoher, hehrer Ritter Aphroditens zu werden! —

*) Lycisarien — wo liegt das? — Sollte man denn aber die drei namenlosen Teile des bayerischen Oberlandes zwischen Lech und Isar, Isar und Inn, Inn und Salzach (Ivarus) nicht nach den alten Namen dieser Flüsse Lycisarien, Isaroenien, Oenivarien nennen können oder dürfen? Wenn man diese Namen erst etliche Male im Spaß gebraucht hat, kommen sie einem zuletzt ganz ernst gemeint und praktisch vor.

**) Facit amor militem
strenuum aut ferum?
Non, immo pauperies
Et defectus rerum.


Indessen die edlen Fräulein können sich auch nach längerem Hin- und Widerreden nicht vergleichen, und so ziehen sie beritten in herrlichem Schmucke, um höhere Entscheidung einzuholen, nach den seligen und reizend geschilderten Gefilden, wo im Schalle der lieblichsten Symphonien und umgeben von den tanzenden Chören der schönsten Jünglinge und Jungfrauen der Gott der Liebe seinen königlichen Hof hält. Dieser nimmt sie sehr freundlich auf und bestellt auf ihre Bitte sogleich ein Minnegericht, welches dann, wie wohl zu erwarten, unter Bezug auf Natur und Herkommen den Wahrspruch erfließen läßt, dass des Mönches Liebe in jedem Betrachte würdiger (hochwürdiger dürfte man vielleicht sagen) erscheine, als die des Ritters.

In der Sammlung finden sich übrigens auch manche Trinklieder, welche zeigen, dass über dem Sehnen und Schmachten nach schöner Frauen Minne des edlen Weines keineswegs vergessen wurde, wie denn überhaupt die Herrschaft des Bacchus für eben so allgemein und unausweichlich erachtet wird, wie die Gewalt Cupidos.*)

*) Nach folgenden Strophen zu schließen:

Bibit hera, bibit herus,
bibit miles, bibit clerus,
bibit ille, bibit illa,
bibit servus cum ancilla,
bibit velox, bibit piger,
bibit albus, bibit niger,
bibit constans, bibit vagus,
bibit rudis, bibit magus,
bibit pauper et aegrotus,
bibit exul et ignotus,
bibit puer, bibit canus,
bibit praesul et decanus
bibit soror, bibit frater,
bibit anus, bibit mater,
bibit ista, bibit ille,
bibunt centum, bibunt mille.

Militemus Veneri,
Nos qui sumus teneri;
Vincit Amor omnia etc.

(Laßt uns, die wir noch grünen,
Laßt uns Frau Venus dienen.
Nichts widersteht der Liebe!)


Es ist nicht in Abrede zu stellen, dass unsre Carmina Burana in dem Mönchsleben des Mittelalters manche dunkle Seite, die aus den Urkunden weniger Licht empfängt, zu erhellen wohl geeignet sind. Es begreift sich, dass Andacht und Entsagung in diese ständig durstenden Kehlen und liebesüchtigen Herzen nur schwer ihren Einzug halten konnten. Man versteht auch, warum z. B. im reichen Tegernsee so lange Zeit verging, ehe das Kloster im Innern zu Ruhe und Frieden gelangte, und warum so viele Äbte, welche dort Zucht und Ordnung einzuführen trachteten, von den unbotmäßigen Mönchen wieder unverrichteter Dinge verjagt wurden. Man kann sich auch wohl denken, wie es etwa dem ehrwürdigen Altmann, welcher damals von Ebersberg, und andern Reformatoren, welche aus andern Klöstern gekommen waren, um in jener Abtei einen neuen Boden zu legen, wie es ihnen zu Mute sein musste, wenn ihnen, sobald sie ins Refectorium traten, einhundert und fünfzig kräftige Bassstimmen den Refrain entgegenbrüllten:

(Über diese Carmina wäre wohl auch nachzulesen, was Dr. Holland in seiner jüngsterschienenen Geschichte der altdeutschen Dichtkunst in Bayern bei deren Erwähnung (S. 431) geistreich vorbringt. Er meint eben auch, „dass sie ein eigentümliches Licht auf die damalige Klosterzucht werfen, die man für eine sehr freisinnige und aufgeklärte zu halten versucht sein könnte.“ Der Volkssage nach waize und spuke aber ein guter Teil dieser ehemaligen Klosterinsassen noch auf der Benediktenwand, wohinauf sie wegen allerlei Versündigungen gebannt sein sollen).


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderung im bayrischen Gebirge