V. Kapitel. Ein geschichtlicher Rückblick.

Jesuitenherrschaft in Paraguay. — Dr. Francia und der Freistaat. — Lopez. — Der jüngere Lopez. — Seine Studienreise nach Europa. — Eliza Lynch. — Krieg mit Brasilien. — Die Gewaltherrschaft der Lynch. — Lopez’ Ende. — Paraguay nach 1870. — Die englische Einwanderung. — Die Deutschen in Paraguay.




Ich fühle mich nicht berufen, eine geschichtliche Abhandlung zu schreiben über diejenigen Länder, die ich auf meinen langen Reisen durch kurzen oder längeren Aufenthalt kennen gelernt habe. Dagegen möchte ich hier — im Zusammenhang mit der im vorigen Kapitel gegebenen Schilderung der gegenwärtigen politischen Verhältnisse — einen kurzen Hinweis auf die Entwicklungsgeschichte von Paraguay einfügen, das ohne Frage zu den herrlichsten und von der Natur bevorzugtesten Ländern unserer Erde zählt.

Gegen Ende der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ist Asuncion gegründet, als erste Stadt in dem gesamten La Plata-Gebiete. Bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts blieb Paraguay Provinz unter der Oberhoheit des in Lima ansässigen Unterkönigs. Im Jahre 1775 wurde es dem neuerrichteten Vice-Königreich Buenos Aires unterstellt. In den ersten Jahren des 17. Jahrhunderts beschloss Philipp der Dritte von Spanien, das Christentum durch die Jesuiten unter den Indianern in Südamerika einzuführen. Mit seltenem Geschick hat dieser Orden es verstanden, aus den kriegerischen Leuten sesshafte Völker zu bilden, ohne jede Gewalt, ausschließlich dadurch, dass man den Indianern Freudenfeste, Zerstreuungen und Lustbarkeiten aller Art in den Grenzen, wie die gute Sitte sie zieht, im reichsten Masse bot. Des ferneren waren die Jesuiten bestrebt, eine neue Völkerart durch Vermischung der weißen Rasse mit den Indianern zu schaffen. Zwar ist bis heute die vorschriftsmäßige Landessprache die spanische, die Mundart des Umganges dagegen im ganzen Lande das Guarani, also die Sprache der eingeborenen Indianer mit einzelnen spanischen Zusätzen. Die Jünger Loyolas haben das Land eigentlich beherrscht von der Mitte des 16. bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts und zwar in einer für seine Entwicklung durchaus förderlichen und wohltuenden Art.

Zu den ersten Staaten, die zu Anfang unseres Jahrhunderts ihre Unabhängigkeit in Süd-Amerika durchsetzten, zählt Paraguay. Der ungemein tatkräftige Dr. Francia verstand es, den gegenwärtigen Freistaat zu begründen und seine Entwicklung unter den neuen Verhältnissen ungemein schneller weiter zu fuhren, als sie unter spanischer Herrschaft möglich gewesen wäre. Im Jahre 1815 wurde Francia zum „Supremo“ ernannt. Manchen Gefahren war der junge Freistaat, zumal durch seinen großen Nachbar, Brasilien, ausgesetzt. Der Aufgabe, sie abzuwenden, war der im übrigen bis zur Grausamkeit rücksichtslose Dr. Francia gewachsen. Der Supremo regierte im Sinne der Jesuiten, obgleich er für angezeigt erachtete, alles Eigentum der Kirche zum Vorteil des Staates einzuziehen, sowie den Priestern allen und jeden Verkehr mit Rom unter härtesten Strafen zu untersagen. Die Heilighaltung der Ehe wurde nicht aufgehoben, aber den natürlichen Neigungen eines Volks von erwachsenen Kindern entsprechend milder aufgefasst. Es mag vornehmlich diesen Umständen zuzuschreiben sein, dass in den Wohnungen der Priester bis auf den heutigen Tag der Kindersegen nicht geringer ist als in den Ranchos auf dem Lande. Als im Jahre 1840 der 85 Jahre alte Supremo starb, umstand das ganze Volk weinend seine Leiche. Im Jahre 1844 übertrug man dem Antonio Lopez die Präsidentschaft auf zehn Jahre, später auf Lebenszeit. Er war ebenso wie der Supremo Francia aus dem Rechtsgelehrtenstande hervorgegangen und verstand es mit nicht geringerem Geschick als dieser, sein Land durch alle Angriffe von außen sicher zu geleiten und in einer staunenerregenden Weise die wirtschaftlichen Hilfsquellen auszunutzen. Obgleich er, ebenso wie sein großer Vorgänger und die Jesuiten, sein Land möglichst von der Außenwelt abzuschließen suchte, brachte er es doch dahin, dass gegen Ende der vierziger Jahre der Bau einer Eisenbahn in Angriff genommen wurde, ein Unternehmen, das derzeit in Süd- und Mittelamerika nicht seinesgleichen fand. Seine Hauptstütze in der Entwicklung des Landes bestand in einer Sparsamkeit, welche diejenige eines Friedrich Wilhelm I. übertreffen konnte; niemals soll er seine außergewöhnliche Macht zur Bereicherung seiner Person oder der ihm in der Regierung Nahestehenden benutzt haben. Da es ihm auf Grund seiner vorgerückten Jahre nicht beschieden sein konnte, sein Land bis zu dem mustergültigen Zustand zu bringen, den er sich als Ziel seiner Herrschaft gesetzt hatte, gab er sich der Hoffnung hin, dass diese seine Herzenswünsche später durch seinen Sohn zur Ausführung gelangen möchten.

Selten sind in der Geschichte einem Herrscher von frühester Jugend an solche Glücks- und Machtmittel auf den Weg gegeben worden, wie dem jüngeren Lopez. Im Jahre 1827 geboren, erhielt Solano Lopez eine nach südamerikanischen Begriffen sorgfältige Erziehung. Schon früh zog der alte Lopez seinen Sohn zum Staatsdienst heran. Mit der Vollendung seines 18. Jahres wurde der junge Mann zum General ernannt und wenige Jahre darauf nach Rio de Janeiro, später nach Paris geschickt. Am brasilischen Hofe reifte in ihm der Gedanke, alle südlich und westlich von Brasilien liegenden Staaten zu einem zweiten Kaiserreich zu vereinigen, und als Solano Lopez 1853 von Napoleon III. ungefähr wie der Sohn eines mächtigen Fürsten aufgenommen wurde, bereitete er sich in Paris zu der Aufgabe vor, aus einem Freistaat ein Kaiserreich zu bilden. Durch die damaligen Rüstungen zum Krimkriege angeregt, hielt er zur Durchführung seiner Zwecke eine militärische Macht für das erste Erfordernis. Sein Eifer für die Sache ging soweit, dass er selbst die Herstellung der zum Kriege erforderlichen Ausrüstungen zu erlernen suchte. In diesem Zeitraum erfasste ihn sein Geschick in Gestalt einer Eliza Lynch. Ohne Frage musste ein Mann von der Stellung und den Fähigkeiten eines Solano Lopez in Paris Aufsehen erregen. Jene schöne Irländerin, die ihrem Gatten, einem englischen Arzt, entlaufen war, um sich in der Seinestadt allen ausschweifenden Genüssen, wie die zweite Kaiserzeit sie mit sich brachte, hinzugeben, heftete sich an seine Fersen, um ihn bis an sein Ende nicht wieder zu verlassen. Der Name „Eliza Lynch“ sollte der Geschichte erhalten bleiben!

Lopez kehrte in Gesellschaft seiner Pariser Freundin und eines Trosses ihrer Verehrer nach Paraguay zurück. Als man dort diese maßlos verschwenderische Dirne in gerechter Entrüstung abwies, soll sie nach zuverlässigen Aussagen geschworen haben, an dem ganzen Lande furchtbare Rache zu nehmen. 1862 starb der alte Lopez, der seinen Sohn Solano zum Nachfolger bestimmt hatte. Auf Veranlassung der Irländerin benutzte der neue Präsident, der sich wie Dr. Francia den Titel „Supremo“ beilegen ließ, die ersten beiden Jahre seiner Regierung, Paläste und andere Gebäude in Asuncion zu errichten, die bei einem Einkommen, wie es der Zar von Russland bezieht, gerechtfertigt gewesen wären. Zur leichteren Durchführung seiner Kaiserpläne hatte Lopez beschlossen, sich mit einer der Töchter des brasilischen Herrschers zu vermählen; als er indessen um die Mitte 1864 vernahm, dass beide Mädchen mit europäischen Fürsten verlobt seien, hatte Eliza Lynch leichtes Spiel, den Supremo für die Folge nach jeder Richtung zu beeinflussen. Zu Anfang des Jahres 1864 hatte Lopez das stehende Heer auf 60.000 Mann zu bringen vermocht. Er besaß eigene Anlagen zur Anfertigung von Gewehren und, was bis zur Gegenwart anderweitig in Südamerika noch nicht vorhanden ist, eine eigene Kanonengießerei. Die Nachricht von der Verlobung der beiden brasilischen Prinzessinnen beantwortete er damit, dass eins seiner Kriegsschiffe ein brasilisches Postschiff auf dem Paranáfluss aufbrachte. Damit war der Krieg gegen Brasilien leichtfertig vom Zaun gebrochen. Dies Land stand bald nicht allein, Argentinien und Uruguay schlössen sich ihm an. Man vergegenwärtige sich als ähnlichen Fall, dass Belgien Krieg fuhren wollte mit Deutschland, Frankreich, England und Italien!

Der Aufgabe, den Krieg selbst eingehend zu beschreiben, würde ich nicht gewachsen sein, dagegen will ich versuchen, die Stellung des Lopez und der Lynch zum Lande und zum Volke des Supremo kurz zu kennzeichnen.

Ganz ohne Frage hat Lopez einen ansehnlichen Teil der militärischen Fähigkeiten und des Scharfsinns eines Bonaparte besessen. Der Einfluss, den er auf seine Truppen und Unterthanen ausübte, nahezu bis an das Ende des 6 Jahre währenden Krieges, grenzte an das Wunderbare und Unfassliche. Zu Beginn des Kampfes war es seine und der Lynch Absicht, mit Waffengewalt den ursprünglichen Plan auszufuhren, nämlich das südliche und westliche Südamerika zu einem Kaiserreich zu vereinigen. Fehlte nun einmal die auf Grund erhoffter verwandtschaftlicher Beziehungen erwartete Hilfe Brasiliens, so vermass sich Lopez, mit seinem für südamerikanische Verhältnisse freilich unerreicht vorzüglichen Heere Brasilien, Argentinien und Uruguay als Gegner zu bekämpfen. Bolivien kam einstweilen nicht in Frage.

Nachdem innerhalb der ersten drei Kriegsjahre mehr als eine halbe Million Männer erfolglos gefallen war, begriffen sowohl der Supremo als die Lynch, dass ihr Spiel verloren sei. Diese dachte nunmehr nur noch an die Durchführung ihres Schwurs, das Land bis auf den letzten Mann zu vernichten. Dies war die Lage des Freistaates Paraguay im Jahre 1867. Die auf wenig mehr als 800 000 Einwohner zurückgegangene Bevölkerung kannte nur noch Not, Hunger und Elend. Dazu erlag in einem Jahre der fünfte Teil der übriggebliebenen Bevölkerung der Cholera. Aber rastlos wütete Eliza Lynch weiter. Unter allen Umständen musste der Krieg für ihre Pläne fortgeführt werden. Männer im Alter von 16 — 55 Jahren gab es um 1868 im Lande keine mehr, das Heer wurde aus Greisen und Knaben zusammengestellt. Ein neuer Gedanke war der Irländerin gekommen. Sie wollte alles im Lande vorhandene Metall und alle sonstigen Güter beiseite bringen, um von den Renten des ganzen Volksvermögens, nachdem in Paraguay alles verloren und das Land verwüstet sei, in Europa als Fürstin mit einem entsprechenden Hofstaat weiter zu leben. Ein Gerichtshof in Asuncion wurde aus ihren Geschöpfen zusammengesetzt. Jeder Greis, jede Frau, die noch Besitz hatten, wurden vor diesen Gerichtshof geschleppt und unter den denkbar furchtbarsten Folterqualen zu Geständnissen gezwungen, worauf sie des Landesverrats für überführt, ihres Vermögens verlustig erklärt und zum Tode verurteilt wurden. Mehr als 1000 der damals im Lande lebenden Ausländer, die nicht zu den Truppen herangezogen waren, wurden auf diese Weise aus der Welt geschafft. Man tötete sie, indem man ihnen Speere durch den Leib rannte.

Das so gewonnene Edelmetall konnte nicht den Fluss hinuntergeschafft werden. Die Kriegsschiffe der drei feindlichen Mächte bewachten den Strom, also wurden Knaben und Greise als Soldaten gedungen, um die Schätze unter Leitung der Irländerin selbst zu vergraben. Wenn die mit dieser Aufgabe betrauten Leute zurückkehrten, wurden sie auf dem Wege zur Stadt erschossen, ehe sie verraten haben konnten, wo die Schätze eingescharrt waren. Aber auch damit waren die Absichten der Lynch noch nicht durchgeführt. Unter den im Jahre 1869 noch Lebenden, welche die Irländerin bei ihrer Ankunft nicht hatten empfangen wollen, befanden sich in erster Linie die Mutter, die Schwestern und der Bruder des Supremo. Auch diese, die Lopez geschont hatte, sollten die Lynch kennen lernen. Der Bruder starb unter der Folter; die jüngste Schwester verstand es, eine der glühenden Kohlen, die zu ihren Qualen bereit standen, in den Mund zu schieben und ihre Zunge derartig zu versengen, dass es ihr unmöglich wurde, selbst unter der Folter zu sprechen. Ob die Mutter auf Befehl ihres Sohnes tatsächlich den Marterwerkzeugen ausgesetzt wurde, habe ich zuverlässig nicht erfahren können, gewiss ist indessen, dass die Frau monatelang im Kerker gelegen hat mit dem Urteil des Gerichtshofes, den Folterqualen unterzogen werden zu sollen.

Bei allen Kämpfen und in jeder Schlacht hatte Lopez verstanden, seine Person in Sicherheit zu bringen. Endlich im Jahre 1870 wurde er von brasilischen Reitern in eine Enge getrieben und niedergeschossen. Die Lynch suchte zu entkommen. Zur Deckung ihres Wagens begleiteten sie der älteste ihrer Söhne und einer ihrer Freunde. Beide erreichte das Schicksal des Supremo, sie starben in den Armen der Lynch, die als Gefangene nach Buenos Aires geschafft wurde.

Wenn ich nicht irre, lebt Mrs. Eliza Lynch, die in der Geschichte ihresgleichen nicht finden dürfte, noch heutigen Tages, und zwar unbehelligt im Überfluss in Paris. Der Zweitälteste ihrer Söhne wurde in Buenos Aires erzogen. Nach dem Tode des Lopez ergab eine Volkszählung, dass der Krieg dem Lande eine Million Menschen gekostet hatte. Erwähnt sei, dass während des letzten Jahres auch keine Greise und Knaben im Lande mehr zu finden gewesen waren, sodass Lopez die nur mit dem Hemd bekleideten Weiber in den Kampf führen lies gegen Heere mit Hinterladegewehren und allen neuzeitigen Kriegsausrüstungen. Dieser Krieg eines zweifellos befähigten, durch ein Weib zum Wahnsinnigen gewordenen Herrschers hatte einem Lande von noch nicht 1 ½ Millionen Einwohnern nahezu viermal mehr Menschenleben gekostet als der deutschfranzösische Krieg beiden beteiligten Völkern mit zusammen 90 Millionen Einwohnern!

Eins vergaß Eliza Lynch: ein von der Natur so verschwenderisch ausgestattetes Land wie Paraguay kann durch Menschenhände dauernd nicht verwüstet werden. Allerdings konnte die Zerfleischung nur langsam heilen, denn woher sollten die zur Genesung erforderlichen Menschen kommen in einem Lande, in dem es nur dreihunderttausend ältere Weiber und Kinder gab, in dem die Einwanderung ebenfalls nur schrittweise vorwärts gehen, konnte und auch bis heute nur kann, weil das vor Paraguay gelegene Argentinien naturgemäß den ganzen Strom der Einwanderer aufnehmen muss.

Vielleicht dürfte die Frage nahe liegen: „Können sich ähnliche Zustände wie die vorbeschriebenen in Paraguay wiederholen?“ Auf diese Frage gibt es nur die Antwort: „Undenkbar!“ Seit 1870 ist die Bevölkerung mehr und mehr durchsetzt mit einer verhältnismäßig großen Zahl von Europäern der deutsch -englischen Art, und eben diese lassen Verhältnisse, wie sie vor kaum 30 Jahren bestanden, nicht mehr aufkommen.

Wie ich in meiner Beschreibung der Volkserhebung in Asuncion vom 9. Juni angedeutet habe, sind aber Zustände der Unordnung und, nach europäischen Begriffen, der Ungesetzlichkeit in Paraguay nicht minder als in den übrigen Freistaaten Südamerikas so ziemlich an der Tagesordnung. Unter anderm will ich nicht unerwähnt lassen, dass die Regierung in den Jahren fieberhaften Aufschwungs in Argentinien von 1885 — 1890 alles freie Land in Paraguay veräußerte und auf diese Weise ungefähr achtzehn Millionen Mark einnahm. Dieser Betrag sollte für Verbesserung der Verkehrswege und andere dem Lande zu gute kommende Einrichtungen verwendet werden, aber wenn man für die heutige Bevölkerung Paraguays von 580.000 Seelen ebenso viele Diogeneslaternen anschaffen wollte, so würde doch niemand auch nur eine Spur dieser achtzehn Millionen Mark im Lande zu finden imstande sein. Die damals vornehmlich von Argentinien mit europäischem Kapital erworbenen Ländereien liegen heute ebenso brach wie vor 20 Jahren und sind wohlfeil aus zweiter Hand zu erhalten. Unabsehbare Zeit wird vergehen, bis europäische Begriffe von Redlichkeit in den südamerikanischen Republiken zur allgemeinen Annahme gelangen, aber wenn ich wiederhole, dass Zustände, wie sie während des Krieges herrschten, unmöglich sind, so glaube ich, damit die Meinung aller denkenden Einwohner des Landes wiederzugeben.

Das „non omnis fert omnia tellus“ kann auf Paraguay keine Anwendung finden. Das Land bringt alles, was zum Leben eines gesitteten Europäers erforderlich ist, in einem Überfluss hervor, der die Ertragsfähigkeit einer gleichen Bodenfläche in Indien weit übertrifft. Bei einer Ausdehnung, welche der des Königreichs Preußen gleichkommt, würde Paraguay viermal so viel Einwohner als dieses ernähren können. Hieraus lässt sich alles Weitere schließen. Hinzugefügt sei noch, dass die Witterungsverhältnisse im Lande für den Europäer sehr günstig sind. Mancher junge Landmann, der mit einem Barvermögen von 15 — 20.000 Mark ein mit diesen Mitteln käufliches Gehöft in der Heimat an sich bringt, wird nur zu bald gewahr, dass er durch den neuen Erwerb zum armen Manne geworden ist und es bis an sein Ende bleiben wird. Ein Übersiedeln mit dem gedachten Vermögen nach Paraguay würde ihm nicht nur ein sorgenfreies, sondern ein Leben im Überfluss gewähren. Nur möchte ich warnen vor der Annahme, dass dieser Freistaat den Einwanderern ein Schlaraffenleben verspricht. Wer aber gesunden Menschenverstand, Tatkraft, Geschick in seinem Beruf, Anspruchslosigkeit, ein Paar kräftige Arme, Lust und Liebe zur Arbeit hat, wird in Paraguay mit oder ohne Barvermögen das erwartete sorgenfreie Fortkommen finden. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika liefern den Beweis, in welchem Masse die dort eingewanderten Deutschen das Gewerbe im Heimatlande unterstützen. Gleiche Dienste würden Deutsche in Paraguay dem Vaterlande naturgemäß leisten. Zur Zeit hält man eine Massenauswanderung nach Paraguay nicht für angezeigt. Der Eingewanderte kann nicht von der Luft oder dem Anblick des Urwaldes leben, bis es ihm gelungen ist, ein Stück Land nutzbar zu machen, obgleich es schwer sein dürfte, in Paraguay zu verhungern. Wer nicht die Mittel besitzt, um sich Mais, Manioca und Fleisch zu kaufen, kann sein Leben mit Orangen, Palmnüssen und mancherlei Waldfrüchten, die alle nichts kosten, eine geraume Zeit fristen. Die Hunderttausende, vielleicht Millionen von Quebrachostämmen und herrlichem Nutzholz sind erst in Jahrzehnten zu verwenden, werden dem Einwanderer somit inzwischen nur schwere Hindernisse in der Bebauung des Waldbodens sein, während sie später, wenn der letzte Stamm in dem baumarmen Argentinien gefällt ist, mit großem Nutzen an den Mann zu bringen sein müssen. Zum schnellen Erwerb eines Vermögens, dessen Zinsen in Europa verzehrt werden sollen, eignet das Land sich vorläufig durchaus nicht, aber soweit es in meiner Macht steht, möchte ich Deutschen in der Heimat auf das dringendste geraten haben, Paraguay doch nicht zu unterschätzen. “Non deest materia sed artifex!“ Die Zahl unserer Landsleute in jenem Lande ist noch gering, während das fü5r Ansiedelung in überseeischen Ländern allen übrigen Völkern an Weitsichtigkeit stark überlegene England mit mächtigen Schritten darangeht, Paraguay für sich mit Beschlag zu belegen. Die Eisenbahnen des Landes, die Pferdebahn der Stadt Asuncion sind englisches Eigentum, mit Baustoffen von englischer Herkunft errichtet. Während der acht Monate meines Aufenthalts im Lande sah ich dreimal ungefähr je 250 Einwanderer von Australien in Asuncion landen. Diese Züge setzen sich zusammen aus Handwerkern aller Art und Ackerbauern. Drei Jahre lang hatte England von Australien aus Argentinien, Uruguay, die südbrasilischen Staaten und Paraguay nach allen Richtungen wissenschaftlich daraufhin erforschen lassen, welches Land sich am besten für die Einwanderung aus Australien eigne. Die Beauftragten entschieden sich einmütig für Paraguay. Wird die Einwanderung aus Australien so fortgesetzt, während die Herren im deutschen Reichstage sich über die inneren Angelegenheiten unserer, neben Paraguay geradezu trostlosen, ungesunden, für den Deutschen größtenteils ungeeigneten Kolonieen in Afrika nicht einigen können, so geht das gesegnete Land für unsere in der Heimat überzähligen Landleute und Handwerker und somit für unser ganzes Großgewerbe so ziemlich verloren. Nach Verlauf von 10 — 15 Jahren, wenn man von einer Eisenbahn Buenos Aires — Corrientes — Asuncion durch Bolivien und Peru bis Lima als von einer vollendeten Tatsache redet, werden wir wieder Gelegenheit haben, empört zu sein über die Unverschämtheit Englands, die in diesem Falle wie gewöhnlich in nichts anderem bestanden hat, als darin, dass die Leute jenseits des Kanals die Augen wie immer weit geöffnet hielten, während der deutsche Michel aus dem seit dem 30jährigen Kriege andauernden Schlaf nur erwacht, wenn der Franzose Miene macht, an den Rhein vorzuschreiten, oder wenn die Fäuste eines Bismarck ihn bei der Nase fassen. Ich würde es für ebenso anmaßend als geschmacklos erachten, wenn ich mir nach einem Aufenthalt von acht Monaten im Lande in meinem 19. bzw. 20. Jahre Urteile wie die vorstehenden auf Grund eigener Anschauung erlauben würde, vielmehr habe ich hier nur aufgezeichnet, was ich von zuverlässigen Deutschen hörte, die die Verhältnisse besser kennen als ich. Meine eigenen Erfahrungen ließen mich diese Ansichten zu den meinigen machen.

Ich füge hier am besten über die Deutschen in Paraguay noch einige Bemerkungen ein, wie sie sich mir während meines dortigen Aufenthaltes aufdrängten.

Als ich in Asuncion anlangte, hatte ich gewiss ein warmes Herz mitgebracht für Deutsche und alles, was deutsch war. Jedoch darf ich nicht in Abrede stellen, dass ich in meinen, vielleicht zu hoch gestellten Erwartungen betreffs meiner Landsleute im Auslande, also vorerst in Paraguay, einigermaßen enttäuscht wurde. Wenn Engländer in meine Tienda traten, wussten sie genau, was sie wollten; sie sprachen wenig, handelten wenig, aber nach kurzer Zeit gingen sie, ohne gekauft zu haben, von dannen, oder sie hatten schnell ihre Wünsche bei uns befriedigt. Das „mind your own business“ scheint jedem Engländer im Blut zu liegen. Franzosen sprachen viel, waren mehr oder minder erregt über Tagesereignisse, aber niemals fand ich sie kleinlich oder in ihrer Eigenart unangenehm berührend. Männer und Frauen spanischer Herkunft zeigten gegen mich, den Deutschen, der freilich ihrer Sprache mächtig war, ohne Ausnahme eine aufrichtige Freundlichkeit; mit oder ohne Geld verstanden sie sich jederzeit, mit größerem oder geringerem Erfolg, aber nie ohne eine gewisse Anmut, das Ansehen eines Krösus zu geben. Italiener und Portugiesen haben mit seltenen Ausnahmen während meiner Tätigkeit in Asuncion den Eindruck der vollständigen Würdelosigkeit bei mir hinterlassen, während meine Landsleute mir zu anderem Tadel Anlass gaben. Das Verlangen, um jeden Preis mehr zu scheinen als zu sein, beherrschte meine deutsche Kundschaft offenbar in hohem Masse. Wenngleich ich nicht annehmen will, dass die „tienda del senor Isidoro Alvarez“ in Asuncion der allergeeignetste Ort ist, um die Ergebnisse volkswissenschaftlicher Forschungen zu sammeln und als Leitsätze aufzustellen, so muss ich doch andererseits bemerken, dass dem aufmerksamen Ladenverkäufer sich mehr als man im allgemeinen zugeben möchte, die Gelegenheit bietet, das eigentliche Wesen des Käufers und die Eigenart seines Volkes zu erkennen. Die Deutschen im Auslande von geringer und mittlerer Bildung erschienen mir kleinlich und im täglichen Umgang weniger angenehm als Engländer, Franzosen und Spanier noch geringeren Bildungsgrades. Ich will mich mit tausend Freuden bescheiden, wenn man mir Härten oder Irrtümer in meinem Urteil nachweist, aber bis dahin kann ich nichts anderes schreiben, als ich bemerkt habe. Die Ordnungsliebe und Arbeitskraft der Deutschen können natürlich niemals angezweifelt werden, aber diese gehören auf ein anderes Blatt.

Unter allen Frauen der Stadt kleidete sich keine mit so wenig Geschick, wie die deutsche. Wenn unsere Frauen ohne hervorragende Schulbildung und ohne viel gesellschaftliche Formen zehn Jahre im Auslande leben, wissen sie ihren Geschmack kaum den veränderten Verhältnissen anzupassen. Hingegen darf unter keinen Umständen übersehen werden, dass sie nur sehr selten die teilweise ganz heillose Misswirtschaft in der Häuslichkeit einreißen lassen, wie sie bei den Frauen südeuropäischer Abkunft allgemein ist. Die deutsche Ordnungsliebe bleibt ihnen unter allen Verhältnissen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderjahre eines jungen Hamburger Kaufmannes.