IV. Kapitel. Ein Volksaufstand in Paraguay.

Die Blauen und die Roten. — Im Vorzimmer des Präsidenten. — Ein militärischer Gewaltstreich. — Angstvolle Minuten. — Rettung aus Gefahr. — Ein verhafteter Präsident.




Am 9. Juni erlebten wir einen jener Volksaufstände, wie sie in den Süd- und mittelamerikanischen Freistaaten nicht zu den Seltenheiten zählen.

Ehe ich über diese kurze Erhebung und meine unfreiwillige Beteiligung daran berichte, will ich einiges Allgemeine über die politischen Verhältnisse dieses Landes vorausschicken.

Die ganze Bevölkerung teilt sich in zwei politische Parteien, die Regierungspartei oder Republikaner und die Volkspartei oder Demokraten. Erstere nennen sich kurzweg die rote, die letzteren die blaue Partei. In ihren politischen Gesinnungen unterscheiden sie sich vornehmlich dadurch, dass die Roten Fremde ins Land zu ziehen suchen, während die Blauen eine gewisse Abneigung gegen alles Fremde zeigen und Paraguay ausschließlich für die dort Geborenen sichern möchten. Beide Parteien gleichen sich dagegen auf ein Haar in der Absicht, die Regierung an sich reißen zu wollen, um alsdann soviel wie möglich das Regieren zum persönlichen Vorteil auszunutzen. Seit zwölf Jahren waren die Roten am Ruder.

Im Jahre 1882 wurde der General Caballero von der roten Partei zum Präsidenten erwählt, und genießt bis zum heutigen Tage den Ruf, ein „guter Kerl“ zu sein. Er erfreute sich daher auch bis zum letzten Aufstand einer allgemeinen Beliebtheit, die vornehmlich darin begründet sein mochte, dass er nicht bestrebt war, sich selbst ein ausgedehntes Vermögen zu sichern, sondern alle Geldvorteile, welche die Präsidentschaft oder Teilhaberschaft an der Regierung einbrachte, unter die Anhänger seiner Partei verteilte. Sein politischer Einfluss war, auch nachdem er aufhörte, Präsident zu sein, bis zum 9. Juni 1894 der vorwiegendste im Lande.

1886 hatte er der Verfassung gemäß seine Präsidentschaft niederzulegen; auf seine Veranlassung wurde General Escobar gewählt, der bis 1890 als Präsident des Freistaates sein Amt in ziemlich unentschlossener Weise versah. Im November 1890 trat Juan Gonzales an seine Stelle, und zwar ausschließlich durch den Einfluss Caballeros, dem Gonzales selbstverständlich vielerlei Versprechen und Zugeständnisse machen musste, bevor Caballero, mit der nötigen Hilfe Escobars, ihn, Gonzales, zum Präsidenten wählen ließ. Nach der Wahl hielt Gonzales indessen für angemessen, sich von Caballero mehr und mehr loszusagen, die ihm gegebenen Versprechungen weder zu erfüllen, noch zu achten und selbständig eine neue Politik, unabhängig von dem allmächtigen Caballero, zu begründen, natürlich zum großen Missvergnügen des letzteren und seines bedeutenden Anhanges.

Im November des Jahres 1894 sollte zur neuen Präsidentenwahl geschritten werden. Ebenso wie in den letzten zwölf Jahren hatte die Partei der Blauen bei der Wahl kaum mitzureden, während Caballero den Kriegsminister der letzten vier Jahre, Egusquiza, zum Präsidenten erwählt zu sehen wünschte; zu dieser Wahl hatte auch Juan Gonzales seine ganze Unterstützung zugesagt. Indessen sowohl Caballero als auch Egusquiza selbst trauten dem Präsidenten Gonzales durchaus nicht, von dem als öffentliches Geheimnis galt, dass er seinen Schwager Decout zu seinem Nachfolger ernennen würde. Obgleich die Verfassung des Freistaates die alle vier Jahre wiederkehrende Wahl des Präsidenten dem allgemeinen Stimmrecht zur Entscheidung überlässt, ist es eine wohl bekannte Tatsache, dass nicht das Volk den kommenden Präsidenten, sondern das zur Zeit regierende Haupt der Republik seinen Nachfolger ernennt, und zwar in folgender Weise: Während der Wahlen sendet der Präsident das ihm selbstverständlich ergebene Militär durch das ganze Land „zur Aufrechterhaltung der Ordnung“. Diese wird in der Weise gehandhabt, dass diejenigen, welche anders stimmen, als dem Präsidenten erwünscht ist, von der Wahlurne, wenn es nicht anders geht, mit blanker Waffe zurückgehalten werden „zur Aufrechterhaltung der Ordnung“! Durch seine über das ganze Land verteilten Unterhändler und Helfershelfer ist es dem Präsidenten leicht gemacht, vor der Wahl zu erfahren, wie und für wen in den einzelnen Ortschaften gestimmt werden soll.

Decout war sowohl der roten, als auch der blauen Partei verhasst. Er ist ohne Frage der geistvollste aller Politiker des Landes und daher keiner Partei recht, welche beide des eigenen Vorteils wegen keine hervorragende Persönlichkeit an der Spitze des Staates sehen wollen. Überdies glaubte man allgemein, dass Decout, selbstverständlich mit großem persönlichen Vorteil, Paraguay an Argentinien überliefern würde, was ohne Frage dem Lande von großem Nutzen, den einzelnen Parteiführern dagegen natürlich von ebenso großem Nachteil gewesen sein würde. Somit war die Partei der Roten in sich zerfallen, indem der Präsident Gonzales nicht wie der allmächtige Caballero wollte, zu dessen eigenen Geschöpfen er doch gehörte.

So standen die Dinge am Morgen des 9. Juni 1894, als ich von meinem Brotherrn ins Regierungsgebäude geschickt wurde, um endgültigen Bescheid zu holen, an welchem Tage und zu welcher Stunde der Präsident mit Herrn Alvarez die übliche halbjährliche Durchsicht der Eisenbahnbücher vorzunehmen gedenke. Ich machte mich also auf den Weg und schritt, ohne Böses zu ahnen, quer über die breite Plaza auf das Regierungsgebäude zu. Ich meldete mich im Vorzimmer des Präsidenten und erhielt Bescheid, er wünsche mich persönlich in der Angelegenheit zu sprechen; ich möge eine kleine Viertelstunde im Vorzimmer verweilen.

Sehr bald befand ich mich in der Gesellschaft eines jungen freudestrahlenden Herrn, der mir mitteilte, dass er am 16. seine Hochzeit zu feiern gedenke und nichts Geringeres beabsichtige, als den „senor presidente“ zu diesem Feste einzuladen. Er versicherte mich, dass er ganz außerordentlich glücklich sein würde, mich ebenfalls bei der Feier zu sehen, und nachdem ich ihm unter dem allerverbindlichsten Dank meine Zusage erteilt hatte, ahnte weder er, wen er eingeladen hatte, noch wusste ich, wo und bei wem die Hochzeitsfeier dieses mir ganz unbekannten Herrn stattfinden sollte. Gegenseitige Aufklärungen konnten gar nicht in Frage kommen, wie überhaupt der Sitte des Landes entsprechend die Einladung ebenso wenig ernst wie meine Zusage gemeint war, trotz der gegenteiligen ernstesten Versprechungen.

Während mein Gefährte und ich die Zeit verplauderten, wurde es in den Straßen lebendig, bis wir erst eine, dann mehrere und schließlich viele Kanonen in größter Eile unter Trommelwirbel und in augenscheinlich nichts weniger als friedlicher Absicht vor das Regierungsgebäude fahren sahen. Ungefähr gleichzeitig mit dem Erscheinen der ersten Kanone auf der großen Plaza wurde die nach dem Vorplatz führende Tür aufgerissen und herein traten 3 Offiziere mit dem Revolver in der Hand, die wir sofort als Adjutanten und Freunde Egusquizas erkannten. Ohne alle Umstände betraten diese 3 höheren Offiziere das Gemach des Präsidenten. Die wahrscheinlich dünne Wand zwischen diesem Zimmer und dem Warteraum, sowie die laute Sprache der Beteiligten gestatteten uns, recht deutlich zu hören, wie der Präsident im Namen seiner Partei, also der Republikaner, unter dem Vortritte Caballeros, Egusquizas und Escobars aufgefordert wurde, das sofortige Niederlegen seiner Präsidentschaft durch seine Namensunterschrift unter ein ihm vorgelegtes Schriftstück zu bestätigen. Wir unterschieden deutlich die Stimme des Präsidenten, der sich bestimmt weigerte, diese Unterschrift zu geben, worauf einer der drei Offiziere ihm mit gehobener Stimme ungefähr Folgendes sagte: „Don Juan, Sie sehen in Erregung zum Fenster hinaus, weil Sie das Erscheinen des Polizeimeisters Coronél Meza mit der ganzen Polizei erwarten, um unsere Artillerie, die unter Leitung Caballeros und Egusquizas unten, wie Sie sehen, Ihrer Entscheidung entgegensieht, zu zerstreuen und kampfunfähig zu machen, aber hoffen Sie nichts; wir haben uns Mezas bemächtigt, ehe wir zu Ihnen kamen, und jeder Polizist in den Straßen ist gefangen genommen, bevor wir hier erschienen. Meza hat Sie nicht freiwillig im Stich gelassen, sondern er ist unserer Gewalt gewichen. Caballero ist in die Kaserne gegangen und hat erklärt, dass niemand dem Präsidenten, sondern dass man ihm allein zu gehorchen habe. Dieser Aufforderung leistete das Militär, wie Sie sich leicht denken können, Folge.“

Der Heiratskandidat, dessen Erscheinung unter diesen Umständen, beiläufig bemerkt, eher der eines Leichen- als der eines Hochzeitsbitters ähnlich sah, und ich wechselten einen kurzen, aber verständnisvollen Blick; wir erhoben uns, gingen recht schnell durch die Thür und die Treppe hinunter, um das Freie zu suchen. Unten traten uns zwei Infanteristen entgegen, legten die Gewehre auf uns an, während ein Offizier uns zurief, dass niemand das Gebäude lebend verlassen werde. Hier war kein Zweifel, ich musste mir sagen: „Ce n’est pas la révolte, c’est la révolution.“ Jeden Augenblick konnte das Feuern der Artillerie auf die Infanterie und umgekehrt vor sich gehen, und da saß ich Unglücksrabe mitten darin. Ich wusste zur Zeit nicht, ob Infanterie und Artillerie gemeinsame Sache gemacht hatten oder sich feindlich gegenüberstanden. Angesichts der beiden auf uns gerichteten Gewehre blieb meinem Leidensgenossen und mir nur übrig, schleunigst wieder hinaufzueilen, und zwar hielten wir nicht mehr für angemessen, ins Wartezimmer zurück zu kehren, sondern wir begaben uns eine Treppe höher auf den Boden des Regierungsgebäudes, auf dem wir Gelegenheit fanden, wenn wir uns platt auf den Leib legten, zwischen dem überstehenden Dach und der Mauer des Gebäudes auf den nunmehr mit der ganzen Artillerie besetzten Platz hinunterzusehen. Zehn Minuten mochten verstrichen sein seit dem Augenblick, wo die drei vorerwähnten Offiziere in das Empfangszimmer getreten waren. Fernere zehn Minuten mussten wir in unserer nichts weniger als beneidenswerten Lage zubringen, bis wir erlöst wurden. Mein Gefährte bekreuzigte sich wenigstens zwanzigmal und schwur, dass er lieber garnicht heiraten wolle, als einen solchen Kerl wie Gonzales auf seiner Hochzeit zu sehen. Dabei waren wir natürlich jeden Augenblick Gefahr gelaufen, dass die Artillerie unten P>nst machen würde, und dass das Zusammenschiessen des Regierungsgebäudes sofort vor sich gehen könne; in diesem Falle wären wir entweder auf die Kanonen hinuntergcfallen oder unter den Trümmern des Daches begraben worden.

Schließlich führten Caballero und Egusquiza „al sonor presidente“ Don Juan Gonzales in ihrer Mitte als Gefangenen durch die Artillerie halb rechts in den cuartel (Kaserne) über den weiten Platz. Ungefähr 20 Mann Artillerie bildeten die Begleitung. Aus der Vogelschau hatten wir deutlich Gelegenheit, diesen Aufzug zu beobachten. Der Heiratsanwart und ich fühlten Zentnerlasten von unsern Herzen rollen; nachdem wir uns überzeugt hatten, wie eine Kanone nach der andern abfuhr, wie die Infanterie das Regierungsgebäude verließ, glaubten wir einen neuen Versuch machen zu dürfen, dem verhängnisvollen Orte lebewohl zu sagen. Ganz unbehindert gelangten wir auf die Straße. Wir drückten uns kurz die Hände, und unbesorgt, wo mein Leidensgefährte bleiben würde, suchte ich, so schnell mich meine Füße tragen wollten, in meine Behausung zu gelangen.

Die „Revolution“ war beendet, kein Tropfen Blut war geflossen. Während der 20 bis 25 Minuten, die sie dauerte, war allerdings in den Hauptstraßen die größte Anzahl der Läden geschlossen gewesen, wie ich später in Erfahrung brachte. Dagegen hatte die Pferdebahn nicht einen Augenblick ihre regelmäßigen Fahrten eingestellt. Als ich am Abend des 9. und während des ganzen 10. durch die Straßen schlenderte, fand ich überall die einfachen Soldaten und Offiziere, mit roten Blumen an den Mützen und in den Knopflöchern, unter dem Einfluss von überreichlich genossenem Alkohol in der gehobensten Stimmung, teilweise einander in den Armen liegend, vor Freude über den friedlichen Ausgang dieses Aufstandes. Von Mannszucht nirgends eine Spur. Vorläufig war der bisherige Vizepräsident Morinigo der verfassungsmäßige Machthaber des Landes, bis sich durch die Wahl am 19. November 1894 ergeben sollte, ob Caballero oder Egusquiza für die nächsten vier Jahre zum Präsidenten ernannt werden würde.

Gonzales wurde noch am Abend des 9. nach Corrientes eingeschifft.

Jeder Deutsche, der solche Zustände aus nächster Nähe zu sehen Gelegenheit hat, muss ganz unwillkürlich auf den Gedanken kommen, dass ein halbes Regiment unserer Infanterie hier dauernde Ordnung und gesittete Zustände zu schaffen imstande wäre, ja, dass das schöne Land Paraguay einer blühenden Zukunft entgegengehen würde unter einer europäischen Macht Bevormundung, wie sie beispielsweise gegenwärtig England über Egypten segensreich ausübt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wanderjahre eines jungen Hamburger Kaufmannes.